Fred Schmidt

Ich bin das Licht der Welt


 
Er hatte die Einladung zum ersten Adventswochenende gerne angenommen. Sie war von der Freikirchlichen Gemeinde gekommen, und er hatte umgehend zurückgeschrieben, dass er kommen werde. Es war nicht das erste Mal, dass er dort eingeladen war, so dass er wußte, wie der Abend verlaufen würde, und er freute sich darauf.
 
Wie immer wurde er zunächst mit einem Getränk begrüßt, diesmal wegen der kalten Jahreszeit mit heißem Kräutertee. Im Gemeinderaum drängte man sich schon. Einige der Gäste waren ihm schon von früheren Einladungen her bekannt. Er kam also ohne Schwierigkeiten mit mehreren ins Gespräch. Und nach und nach kamen fast alle Frauen der Gemeinde, um ihm auf jede Wange ein Küsschen zu schenken, wie es ja hier Brauch war. Das gefiel ihm sehr.
Dann bat der Leiter der Gemeinde um Aufmerksamkeit, damit man mit dem vorgesehenen Programm beginnen konnte. Alles stand unter dem Bibelzitat „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Johannes, 8,12
Zuerst wurde gesungen, Adventslieder, deren Texte zum Mitsingen auf eine Leinwand projiziert wurden. Der Gesang, begleitet von Gitarre, Trommel und Harmonium, ging ihm so richtig zu Herzen. Der Gitarrist und Vorsänger schaute dabei beständig verzückt und frömmelnd auf zur Decke.
Dann veranschaulichten drei Frauen, auf einfache Weise verkleidet, die Bedeutung des Lichts. Eine von ihnen verirrte sich mehr und mehr in der Dunkelheit, erlitt Schmerz und Angst, lehnte jedoch jede Hilfe der anderen, von Nachbarn und Freunden, ab. Als ihre Not am größten, erschien ein strahlender Engel, der ihr Licht und Erleuchtung brachte: als Mensch war sie auf die Hilfe anderer angewiesen. Das sah auch er ein: Erleuchtung brachte Frieden, Freude, Eierkuchen.
 
Dann hielt der Gemeindeleiter seine kleine Predigt, gelassen und humorvoll, sich oft durch sein etwas verlegenes Lachen unterbrechend. Er sprach vom Licht, das Jesus symbolisiere, vom Licht des ersten Advent, vom Licht, das Erkenntnis bringe und Erlösung, vom Licht, das die Finsternis und den Tod besiege. „Jaja, und das sage nicht ich, sondern die Bibel, und das ist der Beweis.“
Er konnte allem folgen, alles akzeptieren, denn schließlich war ja auch er ein Christ.  Deshalb war er ja auch der Einladung gefolgt, und jetzt fühlte er sich so richtig einverstanden und eingebunden in diese emotionale Argumentation.
 
Danach wurde zum Essen geladen, das in einem anderen Raum eingenommen wurde.  Ein Tisch mit Flaschen Baujolais Nouveau und einem Dutzend schon gefüllter Gläser sowie verschiedenen alkoholfreien Getränken stand links, ein Tisch mit saftigem Rindergulasch, Kartoffelauflauf, Rosenkohl und Möhrensalat stand rechts. Und auch an Baguette fehlte es nicht. Jeder der etwa dreißig Gäste konnte sich reichlich bedienen und sich mit seinem beladenen Teller in eine der Sitzrunden begeben und unter angeregten Gesprächen das schmackhafte Mahl genießen. Man konnte sich ungeniert einen Nachschlag oder auch mehrere holen. Schließlich war dann noch der leckere Nachtisch das Tüpfelchen auf dem i.
Als dann schließlich die Runde aufbrach, um sich in der Dunkelheit auf den Heimweg zu machen, fühlte er sich so richtig wohl und gestärkt an Leib und Seele. Geruhsam machte er es sich am Steuer seines kleinen Wagens bequem, schnallte sich an,  und gleich darauf verließ er den Parkplatz der Gemeinde, und schon rollte er auf der schmalen, kurvenreichen  Straße seinem Zuhause entgegen. Circa fünfzehn Kilometer lagen vor ihm, mehr nicht. Obwohl er sicher war, dass es auf dieser Strecke keine Polizeikontrolle gab, hatte er beim Essen nur ein Glas Wein getrunken. In der Dunkelheit der Nacht fühlte er sich geborgen und sicher, zumal er die Strecke wie seine Westentasche kannte. Glücklich hing er seinen Gedanken und Gefühlen nach, entschlossen, sich vom Licht der Welt auch weiterhin  in der Finsternis des Lebens leiten zu lassen.
Als er um die scharfe Rechtskurve bog, kam ihm ein Wagen volle Pulle mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegen. Augenblicklich wurde er von dem gleißenden Licht geblendet. Er verlor die Orientierung, wollte dem entgegenkommenden Fahrzeug ausweichen, stürzte den Abhang hinunter und mit voller Wucht gegen einen Baum. Aber diesen nahm er nicht mehr wahr. Das Licht der Welt, das ihn leiten sollte, war für immer erloschen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.11.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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