Irene Beddies

Weltherrschaft




Als der Herr am 6. Schöpfungstag die Tiere und Menschen geschaffen hatte, versammelte er sie in einem großen Kreis um sich, um sie zu segnen. „Seid fruchtbar und mehret euch“, sprach er, „sucht euch eine Bestimmung, eine Daseinsberechtigung, ein jegliches nach seiner Art.“
Dann legte er die Hände in den Schoß und lehnte sich zurück an einen großen Baumstamm im Garten Eden. Er betrachtete neugierig sein Werk. Er bewunderte die Majestät und Stärke des Löwen, freute sich über die Geschicklichkeit der Affen, war gerührt über die Eleganz der Vögel, die einen Tanz in der Luft vollführten, bevor sie sich die Baumkronen zur Wohnung erkoren.
 
So saß der Herr lange Zeit und schaute. Hier und da griff er in seine Schöpfung ein, um den Kleinen und Wehrlosen Mut zu machen und ihnen eine Möglichkeit zu zeigen, den Angriffen der Großen ein wenig zu entgehen.
Zuletzt setzte er die Menschen als Herren über alles, was er an Leben erschaffen hatte.
 
Gegen Abend fühlte er ein Kribbeln auf seinem Arm. Als er näher hinschaute, entdeckte er ein äußerst hässliches kleines Tier, das ihn fragend ansah.
Da erbarmte er sich seiner und flüsterte halb wie im Traum: „Macht euch die Erde untertan mit eurem Verstand. Bedenkt: gemeinsam seid ihr stark.“
 
Sofort verschwand die Ameise mit dieser Botschaft. Sie eilte zu den anderen Ameisen. Zusammen zogen sie los in einer langen Kolonne, markierten den Weg mit ihrem Duft und suchten sich ein Versteck, in dem sie ungestört die Nacht verbringen konnten. Unter einem Haufen abgestorbener Blätter verkrochen sie sich und überlegten.
Der Herr hatte ihnen einen besonders scharfen Verstand mitgegeben, der ihnen das gute Überleben garantierte, wenn sie alles gemeinsam tun würden. So sahen sie das.
Sie beratschlagten, wie sie sich organisieren wollten, damit jeder zu seinem Recht kam, einen festen Platz erhielt, um sich nützlich zu machen und seinen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Dass ein jeder etwas von seiner Freiheit aufgeben musste, war ihnen klar.
Sie schworen sich gegenseitige Treue, Hilfe und Frieden innerhalb ihrer Gemeinschaft.
 
Auch die Menschen gedachten der Worte Gottes und fingen an, seine  Schöpfung zu beherrschen. Sie hatten jedoch nicht den scharfen Verstand der Ameisen, sie hatten nur Gedanken an sich selbst und ihren Vorteil. Sie lagen in ewigem Streit, was Kriege zur Folge hatte, beuteten Pflanzen und Tiere ohne Notwendigkeit aus und brachten es sogar fertig, die Erde zu verlassen, um sich auch noch das All anzueignen.
 
Als der Herr am 7. Schöpfungstag, seinem Ruhetag, nach einigen Sekunden der Ewigkeit wieder auf sein Werk schaute, sah er die Erde fast verwüstet, die Menschen in Zorn und Hass verstrickt, die Tiere leidend ohne Lebensraum.
Er wollte sich schon abwenden von diesem traurigen Anblick, da erinnerte er sich an das kleine hässliche Tier, dem er dieselben Worte zugeflüstert hatte wie den Menschen: macht euch die Erde untertan. Er schaute sich um.
Da sah er vor seinen Füßen eine lange Kolonne der Tierchen. Sie trugen Nahrung in die eine Richtung. Entgegenkommende Ameisen schienen sie zu fragen, ob sie helfen könnten, denn manche unterstützten ihre Träger, wenn die Nahrung zu schwer für ein einzelnes Tier war. Sie arbeiteten emsig und zielgerichtet, ohne in Streit zu geraten. Sie begrüßten sich freundlich. In ihrem Bau herrschte Ordnung und Frieden, eine jede Ameise folgte ihrer Aufgabe ohne Murren, auch wenn die Arbeit schwer war.
Jedes einzelne Mitglied hatte seine feste Aufgabe, ohne je eine andere annehmen zu können.
Sie hatten die Sekunden der Ewigkeit ohne Schaden überstanden, hatten sich alle Landmassen erobert und den Menschen getrotzt durch ihre Zahl und Disziplin, folgten unbeirrt den einmal gefundenen Regeln.
Doch einen leisen Zweifel konnte der Herr nicht unterdrücken. War so viel Disziplin nicht zu drückend…?
 
 
© I. Beddies
 
 
 
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.11.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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