Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 45

Der nächste Tag unterschied sich kaum von dem vorangegangenen. Michael und Melzan, die inzwischen fast so etwas wie ein freundschaftliches Miteinander verband, bastelten eifrig an der Sprengladung für den Damm. Wengor und Grimmbart hatten in den alten Aufzeichnungen den Schwachpunkt der Anlage entdeckt, so daß es nun nur noch an Michael und Melzan war, das nötige Rüstzeug zu liefern. Allerdings gab es auch einen kleinen Haken. Grimmbart hatte einen Augenblick gezögert, bevor er den Anwesenden am Abend zuvor den Schwachpunkt auf den alten Bauplänen gezeigt hatte. Auch Michael hatte nervös geschluckt, als der Zwerg seinen kurzen Zeigefinger auf eine Stelle etwas unterhalb des Zentrums der gewaltigen Staumauer gelegt hatte. Noch war ihm völlig unklar, wie sie an dieser exponierten Stellung die Sprengladung befestigen sollten. Die Staumauer glich einer leicht abschüssigen Felswand. Hinzu kamen unberechenbare Winde, die gelegentlich durch die Schlucht fegten. Schon das Anbringen der Zündladung würde einem Himmelfahrtskommando gleichen, von der Zündung der Ladung ganz zu schweigen. Auf die Frage Michaels, wie sie dies bewerkstelligen sollten hatte der Zwerg daher auch nur düster geantwortet: „Daran arbeite ich noch.“
Zum Glück hatte sich Streitaxt, der eine Menge über das Überwinden steiler Hindernisse wußte, zwischenzeitlich seine Inspektion der Festungsanlagen beendet und entsprechende Anregung zur weiteren Befestigung gegeben, so daß er nun Zeit hatte, an der Lösung dieses Problems mitzuarbeiten. Michael hoffte nur, daß die Lösung nicht darin bestehen würde, ihn an einer langen Schnur einfach abzuseilen. Doch darum konnte er sich immer noch sorgen, wenn es soweit war.
 
Am späten Nachmittag waren die Sprengladung für den Damm nebst Zündschnur sowie eine Vielzahl weiterer Sprengladungen, die die Bruderschaft in dem anstehenden Kampf einzusetzen gedachten, fertiggestellt. Michael war dankbar, dem Dunkel der Werkstatt zu entfliehen. Auf dem Weg zur Festung begegnete ihm Grüneich, der auf dem Kutschbock eines Wagens thronte, der von zwei struppigen, brauen Pferden gezogen wurde. Die Ladefläche war mit einer Vielzahl angespitzter Holzpfähle bestückt.
„Willst du mitkommen? Wir stellen gerade die Fallgrube fertig“, brummte der Troll vergnügt. Michael nickte und schwang sich auf den Kutschbock. Auf dem Weg zur Schlucht staunte er über die Betriebsamkeit, die sich auf dem Gelände rund um die Burganlage eingestellt hatte. Am Vorabend hatte Grimmbart die Idee gehabt, an den Stellen, die die Armee des Wandlers vermutlich als strategischen Stützpunkt bei dem bevorstehenden Angriff aussuchen könnte, Sprengladungen mit versteckten Zündschnüren zu vergraben. Die Zündschnüre würden gebündelt und zentral zu einer exponierten Stelle geführt werden, die es dann nur noch im rechten Moment mittels eines gut gezielten Brandpfeils oder per Ballisten abgeschossenen Brandsatzes von der Südseite der Festung aus zu entzünden galt. Sollte der Plan aufgehen, würde der Wandler einen feurigen Empfang erleben.
Während der Wagen den unebenen Weg zur Schlucht hinunter rumpelte, bewunderte Michael die Entschlossenheit, mit dem seine Gefährten sich ihrem Schicksal stellten. Dieser Kampfgeist unterschied sich grundlegend von der Mentalität der Mitmenschen seiner Heimat, wo kaum eine Gelegenheit zum Jammern ausgelassen wurde, sei es wegen der schlechten Wirtschaftslage, der hohen Arbeitslosigkeit, der Auslandsverschuldung oder des Anstehens neuer Steuererhöhungen. Seine Mitmenschen könnten eine Menge von der kämpferischen Entschlossenheit der Bewohner dieser Welt lernen, so wie er es getan hatte. Das in den letzten Wochen Erlebte hatte aus ihm einen neuen Menschen gemacht. Sollte er dieses Abenteuer überleben, würde er zukünftig mit Problemen ganz anders umgehen als bisher. Fast mußte er lachen, als er daran dachte, daß sein bisher größtes Problem, bevor er hier gelandet war, das Erlernen der englischen Sprache und die Frage, wie er bei der blonden Sonja aus der Parallelklasse landen konnte, gewesen war. Das Lachen verging ihm jedoch, als der Troll den Wagen schließlich am Rand einer tiefen Grube anhielt, die sich über die gesamte Länge der Schlucht erstreckte und ihm wieder in Erinnerung brachte, daß ein Krieg bevorstand. Erstaunt fragte sich Michael, wie die Grube in der kurzen Zeit entstanden war.
„Zokurt hat ein wenig geholfen“, erklärte Grüneich, als er Michaels verblüfftes Gesicht sah. „Sonst hätten wir Wochen gebraucht.“
Michael nickte beeindruckt. Die Grube war gute drei Meter tief und erstreckte sich von einer Felswand zur anderen über den gesamten Weg durch die Schlucht hindurch. Der Boden der Grube glich einem Wald aus angespitzten Pfählen, in dem Glyfara gerade den Arbeitern Anweisungen zur Aufstellung weiterer Pfähle erteilte. Sie winkte fröhlich, als sie die beiden am Rand der Grube entdeckte. Michael verwunderte die Fröhlichkeit nicht, hatte er doch erfahren, daß Tarens Medizin allmählich zu wirken begann und sich Glyfaras Vater langsam erholte. Die Einstellung Glyfaras zu dem Mädchen vom Fahrenden Volk hatte sich seit dem grundlegend geändert. Bedauerlicherweise war Glyfaras Vater aber immer noch ohne Bewußtsein, so daß nicht davon auszugehen war, daß sie den Schlüssel in absehbarer Zeit würden verwenden können. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich für den bevorstehenden Kampf zu wappnen, was Glyfara mit großer Leidenschaft tat.
„Wurde auch Zeit, uns geht hier unten allmählich das Material aus“, rief sie vergnügt, während sie über eine hölzerne Leiter nach oben kletterte.
„Und, was sagst du?“, fragte sie Michael stolz, als sie oben angelangt war und mit der Hand stolz auf die furchteinflößende Grube wies.
„Beängstigend“, erwiderte er wahrheitsgemäß.
„Warte erst einmal ab, bis wir fertig sind. Mit Zokurts Hilfe zaubern wir hier einen begehbaren, täuschend echten Belag hin, der allerdings einen kleinen Haken hat. In dem Moment, in dem sich die Armee des Wandlers hier durch schiebt, wird er sich Mithilfe von Zokurt wieder auflösen und dann..“, demonstrativ schnippte sie einmal mit den Fingern vor Michaels Gesicht, „..wird sich die Streitkraft des Wandlers ein wenig verringern.“
Michael schluckte. Die Vorstellung, in diesem Loch aufgespießt zu werden, hatte etwas ungemein Brutales an sich, auch wenn es ihre ärgsten Feinde traf.
„Werden sie die Falle nicht wittern?“
„Kaum. Sie werden eher vermuten, daß die Gefahr von oben droht, wenn sie diese enge Schlucht durchqueren. Die Falle ist perfekt, und jetzt entschuldige mich, ich habe zu tun.“ Mit festem Schritt ging sie zum Wagen hinüber, wo der Troll gemeinsam mit ein paar Arbeitern bereits damit beschäftigt war, die Stämme abzuladen. Michael blieb allein am Rande der Grube zurück, die ihm wie ein gigantisches Haifischmaul vorkam. Beim Anblick der barbarischen Falle mußte er plötzlich an seine letzte Philosophiestunde zurückdenken.
Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, daß er dabei nicht selbst zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“, zitierte Michael in Erinnerung leise die Zeilen Nietzsches, die ihm nun nur allzu wahr vorkamen. Sie waren im Begriff, selbst zu Ungeheuern zu werden. Aber hatten Sie angesichts der Gefahr, die ihnen drohte, überhaupt eine andere Wahl? Grüneichs ungeduldige Stimme riß ihn aus seinen trübsinnigen Gedanken.
„Hör auf, die Grube anzustarren und dir Sorgen zu machen. Die Falle wird ihre Arbeit schon tun und denen Bauchschmerzen bereiten, und jetzt hilf uns lieber. Wir können jede Hand gut gebrauchen“, brummte er vergnügt. Mit einem Seufzen wandte sich Michael ab und begab sich zum Wagen hinüber, um zu helfen, wobei er den Troll um sein sonniges Gemüt beneidete.
 
Als die untergehende Sonne schließlich das Tal in ihr goldenes Licht tauchte, war die Falle vorbereitet. Auf den ersten Blick sah der Tarnbelag wirklich täuschend echt aus. Michael war wider Willen beeindruckt. Er wäre auch auf diese Falle hereingefallen. Zufrieden mit der getanen Arbeit brachen die Gefährten zur Rückkehr auf und wurden bei ihrer Ankunft aufgrund der guten Nachricht freudig begrüßt. Nur die Tatsache, daß der Verräter noch immer nicht gefaßt war, trübte die gute Laune ein wenig. Während des Abendessens informierte  Borur die Anwesenden über den aktuellen Sachstand. Die Sprengladung für den Damm sowie diverse weitere Sprengladungen waren fertiggestellt und zum größten Teil um die Burg herum vergraben worden. Zwei drehbare Ballisten waren zwischenzeitlich fertiggestellt und bereit, um auf den Wehrgängen montiert zu werden. Fieberhaft wurde an Plattformen gearbeitet, die strategisch als Basis an allen vier Ecken der Burg aufgebaut werden sollten. Vorräte waren eingebracht worden, und der Strom der Flüchtenden aus den umliegenden Gehöften war gegen Abend endlich weniger geworden. Die Vorbereitungen für den bevorstehenden Kampf waren also gut vorangegangen, und trotzdem bildeten sich auf Borurs Stirn tiefe Sorgenfalten, als er sich an Grimmbart wandte.
„Wir danken Euch für Euren Einsatz und Eure willkommene Unterstützung. Leider steht der Ausgang dieses ungleichen Kampfes ohne den Einsatz des Schlüssels jedoch bereits fest. Mit jedem Tag läßt der Bann mehr nach, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Wandler über unbeschränkte Truppen aus seiner düstren Heimatwelt verfügen kann. Ohne die Hilfe von Gelon sind wir auf Dauer verloren. Leider ist er noch immer ohne Bewußtsein, auch wenn es ihm dank des Einsatzes Eurer Gefährtin ein wenig besser geht.“ Dankbar nickte er Taren zu, die vor Verlegenheit rot wurde.
„Das ist doch nichts Besonderes“, murmelte sie  bescheiden. Dann fuhr Borur fort.
„So erfreulich die langsam voranschreitende Heilung auch ist, so müssen wir uns trotzdem darauf einstellen, daß Gelon nicht rechtzeitig wieder zu Kräften gelangt und ein Kampf damit unvermeidlich wird, denn ich spüre die Präsenz des Bösen unaufhaltsam näher kommen. Die Frage ist nur, ob uns noch genug Zeit bleibt, bis das Heer des Feindes das Flussufer erreicht?“ Auffordernd sah er Grimmbart an.
„Es könnte knapp werden. Der Feind wird in Kürze das Flussufer erreichen, und dann müssen wir zuschlagen“, erwiderte der Zwerg ernst. „Sollte es uns nicht gelingen, ihre Katapulte Mithilfe der Flutwelle zu vernichten, werden wir keine zweite Chance erhalten, und damit wäre unser Untergang besiegelt. Alles hängt nunmehr davon ab, ob es uns gelingen wird, den Damm zur rechten Zeit zu sprengen.“ Fragend sah er Michael an, der zustimmend nickte.
„Im Prinzip ist die Sprengung jederzeit möglich. Das Problem ist jedoch, den richtigen Zeitpunkt zu treffen. Melzan hat mir erzählt, daß der Damm ein Tal in den Bergen absperrt, das über einen schmalen Gebirgspfad in einem halben Tag mit speziell geschulten Gebirgsponys zu erreichen ist. Von dort kann man die Furt nicht einsehen. Melzan hat daher vorgeschlagen, mitzukommen und mit einem Mitglied der Bruderschaft telepathisch in Kontakt zu treten, um den richtigen Zeitpunkt zu erfahren, und was das bedeutet, brauche ich wohl nicht zu erläutern.“
„Jemand von uns muß sich nahe genug am Fluß aufhalten, um Bericht zu erstatten.“
Borur schwieg bedrückt. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Die Aufgabe kam einem Himmelfahrtskommando gleich. Derjenige, dem diese Aufgabe zuviel, lief nicht nur Gefahr, vom Feind entdeckt zu werden, ihm blieb auch verdammt wenig Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, sobald der Damm erst einmal gesprengt war. Die Flutwelle würde sich mit rasender Geschwindigkeit nähern. Ein junger Mann hätte eine gute Chance zu entkommen. Das Problem war nur, daß kein junger Mann zur Verfügung stand, der die Kunst der Telepathie beherrschte. Borur seufzte innerlich, als er seine folgenschwere Entscheidung traf.
„Ich werde gehen“, erklärte er entschieden.
„Aber nicht allein“, hielt Wengor ihm entgegen. „Ich werde Euch mit fünfundzwanzig Bogenschützen begleiten.“
„Damit erhöht Ihr das Risiko, entdeckt zu werden“, gab Streitaxt zu bedenken.
„Möglich“, räumte Wengor ein, „aber so wir haben die Möglichkeit, ein wenig Verwirrung zu stiften, um von der eigentlichen Gefahr abzulenken. Meine Männer verfügen über sechs Fuß messende Langbogen. Mit denen schaffen sie fünfzehn Pfeile in der Minute präzise über eine Distanz von zweihundertfünfzig Fuß ins Ziel zu versenken. Das sollte genügen, um sie aufzuscheuchen und im Flußbett für Verwirrung zu sorgen. Da wir aus der Deckung des nahen Waldes heraus operieren werden, werden sie unsere wahre Stärke nicht einschätzen können.“
„Das wird sie nicht schrecken. Ihr verkennt diese Gegner. Euch bleiben nur wenige Minuten bis zur Flucht, dann werden sie Euch überrennen“, erläuterte Grimmbart trocken.
„Das klingt nach Arbeit für meine Tötzwanzig“, brummte Grüneich düster. „Ich bin dabei.“
Wengor nickte ihm dankend zu. „Wir können jeden guten Mann gebrauchen.“
„Nachdem das geklärt wäre, kommen wir zur Frage des Aufbruchs. Ich denke, wir sollten keine weitere Zeit verschwenden und am frühen Morgen aufbrechen“, erklärte Melzan bestimmt. „Streitaxt wird uns begleiten und helfen, die Sprengladung an der richtigen Stelle zu plazieren. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Wenn es gut läuft, ist die Falle morgen, am späten Nachmittag bereit  zum Einsatz.“
„Gute Arbeit“, lobte Borur. „Dann laßt uns so verfahren.“
Melzan nickte und erhob sich.
„Ich werde die nötigen Vorbereitungen veranlassen. Bei Sonnenaufgang ziehen wir los“, verkündete er und verließ mit festem Schritt den Saal. Michael wollte ihm folgen, doch Glyfara hielt ihn zurück.
„Das schafft er auch allein.“ Ein Ausdruck echter Besorgnis überschattete ihr makelloses Gesicht. „Paß auf dich auf“, sagte sie mit bedrückter Stimme. „Du hättest mir nie folgen dürfen“, fügte sie düster hinzu.
„Nun ja, jedenfalls hatte ich auf diese Weise keine langweiligen Ferien.“
 
Es war noch frisch, als Michael im Licht der ersten zaghaften Sonnenstrahlen des anbrechenden Tages die Stufen zum Platz hinunter schritt, wo Streitaxt und Melzan ihn bereits mit fünf robust wirkenden, dunkelbraunen Ponys erwarteten. Drei der Ponys waren gesattelt, während die anderen beiden mit der Sprengladung und den Gerätschaften beladen war. Sie scharrten unruhig mit den Hufen, als wüßten sie, welch gefährliche Last man ihnen aufgebürdet hatte. Zu Michaels Überraschung war keiner der Gefährten zu dieser frühen Stunde zur Verabschiedung gekommen. Etwas enttäuscht begrüßte er seine Mitstreiter und schwang sich dann unbeholfen in den Sattel seines Reittiers. Es war Jahre her, seit er das letzte Mal im Sattel gesessen hatte. Damals hatten ihn seine Eltern während der Ferien auf einen Reiterhof verfrachtet, und die Erinnerungen an seinen Kampf mit dem widerspenstigen Gaul von damals hatte er noch gut in Erinnerung. Zu seiner Beruhigung blieb das Pony jedoch völlig ruhig und versuchte noch nicht einmal, ihn zu beißen. Dann gab Melzan, der sich an diesem Morgen ungewohnt schweigsam gab, das Zeichen zum Aufbruch, und unter dem Geklapper der beschlagenen Hufe, das laut von den Hauswänden wieder hallte, ritten sie die Straße zum Burgtor hinunter. Niemand begegnete ihnen zu dieser frühen Stunde, sah man einmal von der Torwache ab, die ihnen aufmunternd zunickte, als sie das Tor passierten. Es kam Michael wie eine halbe Ewigkeit vor, seit er das erste Mal dieses Tor durchquert hatte. Viel war seit dem geschehen, nur leider hatte sich seine Hoffnung, hier den Weg zurück in seine Welt zu finden, nicht erfüllt. Die Bruderschaft war durch den Anschlag auf Gelon Gesundheit geschwächt und hatte derzeit andere Probleme, als sich mit der Frage, wie er zurück in seine Heimat kommen sollte, herumzuschlagen. Bis auf weiteres würde er wohl noch in dieser Welt festsitzen. Während sie die Burganlage allmählich hinter sich ließen und nun über Wiesen ritten, auf denen noch der letzte Frühnebel lag und der Landschaft einen geheimnisvollen Anstrich verlieh, fragte sich Michael allerdings besorgt, ob sich dies in der Zukunft wohl ändern würde. Würde er seine Heimat eines Tages wiedersehen oder würde er hier, fernab von alledem, was ihm vertraut war, im Kampf sterben? Er fröstelte bei diesem Gedanken, während sie die Sicherheit der Burg der Bruderschaft mit jedem festen Tritt der stämmigen Ponys hinter sich zurück ließen und sich dafür der westlichen Bergflanke des Talkessels näherten. Ein schmaler Pfad führte in steilen Serpentinen hinauf, und Michael hoffte nur, daß die Bergponys ihren Namen zurecht trugen. Schon vor dem Aufstieg war eine Wolkenbank über den Bergkamm gequollen, die ihnen nun einen eisigen Nieselregen bescherte. Michael atmete dankbar auf, als sie zwei Stunden später endlich die Passhöhe erreichten und der Regen allmählich nachließ. Er schloß zu Streitaxt auf, der sein Pony gezügelt hatte und andächtig ins Tal hinunter sah.
„Der Staudamm, den unsere Ahnen einst erbauten“, sagte er stolz.
„Wahnsinn!“
Michael war beeindruckt. Der Staudamm übertraf selbst seine kühnsten Erwartungen an die Bauleistungen der Zwerge. In der Form einer gebogenen Schwertklinge lag der Stausee eingebettet zwischen den schroffen Gipfeln. Nach Süden hin wurde er von der gewaltigen, über hundert Metern hohen Staumauer begrenzt, die sich bogenförmig tief unter ihnen erstreckte und deren Dammoberkante Michael auf gut und gern dreihundertfünfzig Meter Länge und zehn Meter Breite schätzte. Der Weg, der über den Damm hinüber führte, bot Platz genug für zwei Fuhrwerke nebeneinander. Ein steinernes Gebäude markierte exakt die Mitte des Staudamms und diente vermutlich früher als Werkzeuglager. Michaels Augen wanderten weiter zur Talsohle. Er vermutete, daß die Mauer auf dieser Höhe mit Sicherheit eine Dicke von mehr als hundert Meter aufwies, um dem gewaltigen Druck des aufgestauten Flusses, das jenseits der Dammauer bestimmt eine Höhe von neunzig Meter aufwies, standhalten zu können. Sein Blick glitt über die glitzernde Wasseroberfläche, die sich in der Ferne jenseits des zerklüfteten Canyons, durch den sich der Fluß einst gewunden hatte, verlor. Die Frage, wieviel Wasser hier aufgestaut war, sprengte schier seine Vorstellungskraft.
„Wie lang ist dieser See?“, fragte er Streitaxt ehrfürchtig, der sich auf dem Rücken seines Reittiers alles andere als wohl fühlte. Zwerge gehörten seiner Ansicht nach nicht in den Sattel. Er konnte es kaum abwarten, wieder festen Boden unter den Stiefeln zu spüren.
„Man braucht mehrere Tagesreisen, um über einen beschwerlichen Pfad zur Quelle und damit zum Ende dieses Sees zu gelangen“, brummte er griesgrämig.
Michael schwieg beeindruckt. Sollte es ihnen gelingen, diese Naturgewalt zu entfesseln, würden sie für den Wandler und seine Armee das Jüngste Gericht heraufbeschwören. Angesichts der ehrfurchteinflössenden Größe dieses gewaltigen Bauwerks konnte Michael sich jedoch beim besten Willen nicht vorstellen, wie er dessen Sprengung mit ihrem selbstgebastelten Sprengstoff schaffen sollte. Wahrscheinlich würde es ihm eher gelingen, mit einem Chinaböller die Schule in die Luft zu jagen, als diese Aufgabe zu bewältigen. Der Damm war einfach zu groß. Generationen von Zwergen hatten hier mit Sicherheit mehr als eine Million Kubikmeter Gestein verarbeitet. Wie sie dieses gewaltige Bauwerk zum Einsturz bringen sollten, war Michael völlig schleierhaft. Streitaxt, der Michaels Empfindung offenbar nachvollziehen konnte, hatte hingegen weniger Bedenken.
„Mach dir keine Sorgen. Jedes Bauwerk hat eine Schwachstelle, und ich weiß, wo sie liegt. Und jetzt kommt, vor uns liegt eine gewaltige Aufgabe, die keine Verzögerungen erlaubt.“
Mit einem Seufzen folgte Michael dem Zwerg. Ihm wiederum schloß sich Melzan an, der sich erstaunlich schweigsam gab.
 
Der Pfad, den sie sich so mühsam hinauf gequält hatten, führte auf dieser Seite des Berges in engen Serpentinen durch bewaldetes Gebiet bis zur Wasserlinie hinab. Der Abstieg ließ Michael viel Zeit darüber nachzudenken, was ihnen als nächstes bevorstand. Ihm wurde ganz flau in der Magengegend, wenn er sich vergegenwärtigte, daß er auf der zur Talseite gelegenen steilen, schlüpfrigen Staumauer mindestens fünfzig Meter hinab klettern, und außerdem eine hochbrisante Sprengladung nach unten befördern mußte. Da weder Streitaxt mit seinen kurzen Armen und Beinen noch Melzan aufgrund seines fortgeschrittenen Alters den Abstieg wagen konnten, blieb die unliebsame Aufgabe an ihm hängen. Er schauderte bei der Vorstellung, während sein Pony den anderen den Pfad hinab folgte und kleine Steine los trat. Staudämme waren ihm schon immer unheimlich gewesen. Einmal hatte er gemeinsam mit seinen Eltern in Italien einen Staudamm besucht. Sie hatten am Fuß der turmhohen Staumauer gestanden und in die Höhe gespäht. Das Bewußtsein, daß sich auf der andere Seite eine gewaltige Wasserwand befand, hatte ihn damals geradezu in Panik versetzt. Und nun oblag es ihm, eine derartige Wand zu sprengen, die zudem noch um etliches höher war, als jener Damm in Italien. Es war schon verrückt, welche Einfälle das Schicksal für einen bereit hielt.
Aus der Nähe erwies sich der Damm als noch beeindruckender. Wie Michael jetzt erkennen konnte, war der Damm nahtlos aus unzähligen, riesigen Steinquadern zusammengesetzt worden, die unzerstörbar wirkten. Ein wenig erinnerte ihn das Bauwerk an eine kleinere Ausgabe des Hoover-Staudamm, wobei sich hier jedoch keine mit Kameras bewaffneten Touristen herumtrieben und keine Autokolonnen den Damm passierten. Statt dessen beherrschte eine lastende Stille die Szenerie, sah man einmal von den Hufen der Ponys ab, die laut auf dem steinernen Untergrund klackten, als Streitaxt die Gruppe zielstrebig zur Mitte des Damms führte. Die Erleichterung, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, war dem Zwerg deutlich anzusehen, als er sich etwas schwerfällig aus dem Sattel schwang, kaum daß sie ihr Ziel erreicht hatten. Aber auch Michael und Melzan waren dankbar, zur Abwechslung wieder einmal auf ihren eigenen Beinen zu stehen. Die Überquerung des Passes war anstrengend gewesen, so daß sie nun stöhnend ihre verspannten Glieder streckten, bevor sie sich der nächsten Aufgabe zuwandten. Dem Abladen des Sprengstoffs.
Während Streitaxt und Melzan sich daran machten, die Lastponys abzuladen, nahm Michael schon einmal seine nächste Aufgabe in Augenschein, die zur Talseite gelegene Seite des Staudamms. Wie von ihm befürchtet, quoll aus diversen winzigen Fugen Wasser, das im Laufe der Jahrzehnte für einen grünen, glitschigen Bewuchs auf der Mauer gesorgt hatte. Ohne Seil gab es keine Möglichkeit, dort hinunter zu gelangen. Ein kühler, kräftiger Wind blies zu allem Überfluß vom Tal hinauf und machte Michael bewußt, daß dies alles andere als ein Spaziergang werden würde. In der Theorie hatte das alles so leicht geklungen, doch jetzt glich es eher einem Selbstmordkommando.
„Mach dir keine Sorgen. Wir werden das schon schaffen.“
Michael war dermaßen in Gedanken versunken gewesen, daß er den Zwerg gar nicht bemerkt hatte, als er neben ihn an den Mauerrand trat.
„Du mußt da ja auch nicht hinunter“, beklagte er sich. Die Wand zu bezwingen, wäre für viele Adrenalinjunkies mit Sicherheit eine willkommene Gelegenheit gewesen, sich den ultimativen Kick zu holen. Michael hingegen verursachte die Vorstellung, dort hinunterzuklettern, lediglich ein verdammt unangenehmes Gefühl in der Magengegend. Sein Blick streifte die gigantische, bogenförmige Staumauer, die sich in einem leichten Winkel dem Tal entgegenstreckte. Tief unten, am Fuße der Staumauer, wo der Fluß mit dem Wasser des Stausees gespeist wurde, lag ein feuchter Dunstschleier über dem Wasser. Der kühle, feuchte Wind, der vom Tal herauf blies, ließ Michael, der beklommen in den Abgrund spähte, frösteln. Er war dankbar dafür, daß er schwindelfrei war, anderenfalls hätte er sich dem Sog der Tiefe kaum entziehen können. Selbst Melzan, der inzwischen ebenfalls an die Mauerumrandung herangetreten war, wirkte ungewohnt blaß, als er murmelte:
„Da geht es ja verdammt tief hinunter.“
Die Bemerkung war kaum dazu angetan, Michaels Stimmung zu heben. Im Gegenteil. Streitaxt, der Michael ansah, wie er sich fühlte, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, während er zugleich Melzan einen strafenden Blick zuwarf.
„Das Seil wird dich schon tragen“, versuchte er ihm Mut zuzusprechen. Dann zog er den Bauplan des Staudamms aus seiner ledernen Weste, faltete ihn sorgsam auseinander und breitete ihn auf der vom Regen noch feuchten Umrandung aus. „Wir müssen bis hier hinunter.“ Mit dem Finger wies er auf einen Punkt auf der Karte. Einige Linien kreuzten sich dort. „An dieser Stelle fängt ein Wartungstunnel an, den man früher über eine Treppe an der Außenseite erreichen konnte. Er führt hinab bis zum Talgrund, wo der Wasserdruck am größten ist. Früher wurde der Staudamm so auf Risse hin inspiziert, doch im Laufe der Jahrzehnte hat man das nach und nach vernachlässigt, da nie auch nur der Hauch eines Risses aufgetreten war. Inzwischen ist sogar die hölzerne Treppe, die einst hinunter führte, dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. Wir werden uns daher zu diesem Gang abseilen und dort die Sprengladung deponieren. Wenn ich dich recht verstanden habe, ist die explosive Wirkung am stärksten, wenn die Ladung im und nicht am zu zerstörenden Objekt befestigt wird.“
Michael nickte. Das alles hatten sie bereits ausführlich im Rat besprochen. Allerdings hatte er damals nicht geahnt, daß die Öffnung, von der Streitaxt gesprochen hatte, ein alter Wartungsschacht war, der tief in die Staumauer hinein führte. Der Gedanke, in diesen alten Gang einzudringen, den seit Jahrzehnten niemand mehr auf seine Sicherheit überprüft hatte und auf dessen anderen Seite eine gewaltige Wasserwand stand, war nicht gerade dazu angetan, ihn zu beruhigen.
„Davon hast du mir damals nichts gesagt“, beschwerte er sich.
„Ich sprach von einer Öffnung, und dies ist eine“, stellte der Zwerg klar. „Der schwächste Punkt der Anlage liegt ungefähr dreißig Fuß tiefer. Dort zweigen mehrere Schächte ab. Wenn es uns gelingt, diese Schächte und Gänge zum Einsturz zu bringen, wird das Gewicht des Damms und der Druck des Wassers den Rest erledigen. Der Damm wird brechen! Du wirst also ein gutes Stück in diesen Gang hinein klettern müssen und dort die Ladung wie besprochen befestigen. Fehler können wir uns nicht erlauben. Wirst du das schaffen oder soll ich es lieber versuchen?“ Streitaxt sah ihn ernst an, worauf Michael schluckte und beklommen den Kopf schüttelte.
„Ich mache das schon“, sagte er.
„Gut, dann laßt uns anfangen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
 
Auf der anderen Seite des Passes, im Tal der Bruderschaft, durchquerten Borur, Grüneich und Glyfara, die spontan entschieden hatte, mitzukommen die Schlucht und verdrängten dabei den Gedanken an die mörderischen Pfähle, von denen sie nur der magisch errichtete Belag trennte. Ihnen folgten die fünfundzwanzig Bogenschützen unter der Führung von Wengor, der an diesem Morgen ungewohnt ernst aussah. Am Eingang zur Schlucht hatten sie sich von Zokurt verabschiedet, der unter dem Schutz von Grimmbart auf die Rückkehr der Gefährten warten würde, um eventuellen Verfolgern den Weg abzuschneiden. Das frühe Morgenlicht reichte noch nicht in die Tiefe der Schlucht hinein, in der es zu dieser Zeit noch düster war. Glyfara fand, daß das gut zu der allgemeinen Stimmung paßte. Am Ausgang des Tals ließen sie die Pferde und eine Wache zurück und machten sich zu Fuß durch den Wald zur Furt auf. Glyfara, die den Wald aus ihrer Kindheit wie ihre Hosentasche kannte, führte den Trupp an. Auf diese Weise gelangten sie binnen kürzester Zeit an den Waldrand. Die Furt lag nun keine sechzig Fuß vor ihnen. Das träge dahin fließende Wasser reflektierte die frühen Sonnenstrahlen und ließ die Kampfgenossen nach der Dunkelheit des Waldes blinzeln. Wengor war zufrieden. Da davon auszugehen war, daß der Feind am Tage den Fluß überqueren würde, wären seine Bogenschützen im Wald so gut wie unsichtbar. Routiniert gab er seine Anweisungen, und dann hieß es warten.
 
Mit einem mulmigen Gefühl überprüfte Michael ein letztes Mal den Sitz des Seils, das Streitaxt ihm professionell umgebunden hatte, dann begab er sich zur Staumauer hinüber und blickte in die Tiefe hinab. Weit unten erspähte er den Talboden, der sich auf der anderen Seite des Staudamms vor langer Zeit in den Boden des Stausees verwandelt hatte. Er schluckte seine aufkeimende Panik hinunter und schwang sich rittlings auf die Umrandung des Staudamms.
„Halt mich bloß gut fest“, bat er Streitaxt, der ihm beruhigend auf die Schulter klopfte.
„Wird schon werden“, brummte er gutmütig.
„Mit Sicherheit“, bestätigte Melzan mit einem undeutbaren Ausdruck in den Augen, der Michael für einen Augenblick erschauern ließ. Irgend etwas stimmte nicht, aber er hatte keine Zeit, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Also nickte er nur und machte sich an den Abstieg, während er über Melzan nachdachte, der sich sich irgendwie verändert hatte und ihn nervös machte. Er war sicher, irgendwo in seinem Hinterkopf eine Erklärung hierfür zu haben, doch er fand sie einfach nicht. Unwillig schüttelte er die beunruhigenden Gedanken ab und konzentrierte sich lieber auf den gefährlichen Abstieg. Zwar hing er sicher an dem Seil, das der Zwerg in seinen kräftigen Händen hielt, gleichwohl mußte er beim Hinunterklettern sorgsam jede Nische auf ihre Haltbarkeit hin überprüfen, bevor er ihr sein Gewicht anvertraute. Zu seinem Erstaunen ging der Abstieg besser vonstatten, als er es für möglich gehalten hätte. Die Mauer war in vielen Bereichen stark zerklüftet und bot gute Haltemöglichkeiten. Nach zehn Minuten anstrengenden Kletterns befand sich Michael bereits unmittelbar oberhalb der düsteren Öffnung. Vorsichtig kletterte seitwärts an ihr vorbei und schwang sich dann hinein.
„Ich habe es geschafft“, rief er nach oben, dann sah er sich erst einmal um. Der Gang war gerade noch hoch genug, um aufrecht darin stehen zu können. Ein modriger Geruch schlug ihm aus der Tiefe der Anlage entgegen und machte ihm deutlich, wo er sich befand. Sein Blick fiel auf ein paar moosbewachsene Treppenstufen, die sich abwärts in der Dunkelheit verloren. Michael konnte sich wahrlich einen schöneren Ort für eine Erkundungstour vorstellen. Ausgerechnet jetzt fiel ihm der Fantasyroman wieder ein, den er vor einer, wie es ihm vorkam, unvorstellbar langen Zeit am letzten Schultag gelesen hatte. Auch dort war der Held alleine in ein dunkles Gewölbe eingedrungen, und es war ihm nicht gut bekommen. Mit einem ärgerlichen Schnauben wischte Michael die lästige Vorstellung beiseite und widmete sich wieder der aktuellen Aufgabe. An einem zweiten Seil hatte Streitaxt inzwischen das erste Sprengstoffpaket herabgelassen, das nun im Wind träge vor der Gangöffnung hin und her pendelte. Es kostete Michael mehrere Versuche, bei denen er beinahe das Gleichgewicht verloren hatte, bevor es ihm gelang, es in den Gang zu ziehen. Erleichtert setzte er sich hin und wartete, bis sich das Zittern in seinen Beinen wieder gelegt hatte. Erst dann begann er, den Knoten des Seils aufzumachen. Mit einem Ruck signalisierte er, daß das Transportseil wieder hochgezogen werden könnte für das nächste Paket. Die nächste halbe Stunde gelangte so die gesamte Ladung nach unten, und Michael entwickelte immer mehr Routine im Einholen der gefährlichen Pakete. Als das letzte Paket schließlich wohlbehalten im Gang lag legte er schließlich auch das provisorische Klettergeschirr ab, daß der Zwerg aus dem Seil gebastelt hatte und das ihn in der letzten halben Stunde vor einem Absturz bewahren sollte, nicht jedoch, ohne das Seil an einem vorspringenden Felsen festzubinden. Schließlich war das Seil seine einzige Versicherung, wieder lebend nach oben zu gelangen. Mit einem Seufzen entzündete er die mitgebrachte Fackel, ergriff das erste Paket und wandte sich den Treppenstufen zu. „Na dann wollen wir mal“, murmelte er und machte sich vorsichtig an den Abstieg.
 
An der Furt hatten inzwischen alle ihre Position eingenommen. Der dichte Wald lieferte ausreichend Schutz, so daß sie nun aus ihrer sicheren Deckung heraus auf den Feind warteten und warteten und warteten. Die Sonne hatte zwischenzeitlich den Zenit erreicht. Vereinzelt fielen ihre Strahlen durch das dichte Blattwerk und warfen helle Flecke auf den  schattigen Waldboden. Eine trügerisch friedliche Idylle. Sogar ein paar Tiere, denen die Anwesenheit der Fremden in ihren Verstecken verborgen geblieben war, hatten sich vorsichtig zum Trinken an den Fluß gewagt, nicht ahnend, daß dieses Land bald mit Blut und Tod überzogen werden würde. Das Warten zehrte inzwischen an den Nerven der Soldaten und Gefährten und machte sie nervös. Es war schon schlimm genug, in eine Schlacht zu ziehen, noch schlimmer war es hingegen, auf das Eintreffen eines übermächtigen Gegners zu warten. Der unausweichliche Krieg stand nun vor der Tür, und jeder war sich darüber im klaren, daß dies heute sein letzter Tag sein könnte. Aber jeder war auch bereit, seine Aufgabe zu erfüllen, und sei es um den Preis des eigenen Lebens. Wengor war dies sehr wohl bewußt, und so hatte er zu Beginn ihrer Wartezeit jeden einzelnen in seiner Deckung aufgesucht, ihm persönlich Mut gemacht und ihn auf seine Aufgabe eingeschworen.
Grüneich, der sich nahe des Waldrandes halb eingegraben und gut getarnt hatte, sollte die Flucht der Gefährten decken, sobald diese auf den Befehl Borurs hin ihre Pfeile verschossen hatten. Für den Fall, daß einige der Kreaturen den Langbogenpfeilen seiner Kampfgefährten entkommen und die andere Seite erreichen sollten, würde sie eine böse Überraschung erwarten. Die Ersatzbolzen hatte sich der Troll griffbereit zurechtgelegt. Eine gewisse Gelassenheit hatte von ihm Besitz ergriffen. Sollte er hier und heute sterben, so würde er dies zumindest für eine gute Sache tun, und sollte er überleben, hatte er sich den versprochenen Lohn wahrlich verdient. Sein Blick glitt zu einer massiven Rotbuche hinüber, in deren dichtem Blattwerk sich Glyfara verbarg, den Langbogen griffbereit. Obwohl der Troll wußte, daß sie sich dort befand, vermochte er nicht, sie zu entdecken. Er hoffte nur, daß der Feind über keine besseren Augen verfügte als er selbst. Eine Bewegung am Horizont lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf das Gelände jenseits des Flusses. Dort war auf der noch weit entfernten Hügelkuppe endlich der verhaßte Feind erschienen. Das Warten hatte ein Ende, und der Krieg begann. Mit finsterem Gesicht musterte der Troll die Soldaten des Grauens, die nun Reihe um Reihe über die Hügelkuppe hinab zur Flussebene marschierten. Schwere Lanzen ragten überall bedrohlich empor. Meldereiter ritten im wilden Galopp die Flanken entlang, während nach und nach Versorgungswagen und schweres Kriegsgerät auf der Hügelkuppe auftauchten, begleitet von Kreaturen, die mit Schwertern, Äxten und Spießen bewaffnet waren und selbst auf diese Entfernung furchteinflößend wirkten. Zum ersten Mal erhielten die Soldaten der Bruderschaft eine Vorstellung davon, mit wem sie es zu tun bekommen würden. Besonders bedrohlich wirkten die hoch aufragenden Ulogs,  jene schrecklichen Kampfmaschinen, die Michael bereits kennen gelernt hatte. Angesichts der Tatsache, daß der Heerzug kein Ende nehmen wollte, begann sich nicht nur Glyfara zu fragen, wie sie gegen diesen Feind bestehen sollten. Die Übermacht war schier niederschmetternd. Obwohl die vorderste Front beinahe das Flussufer erreicht hatte, quollen noch immer neue Soldaten über den Hügelkamm. Befehle wurden gebrüllt, als die vordersten Reihen des Trosses am Flussufer zum Stehen kamen. Stimmengewirr und Waffenklirren hallten über den Fluß zu den im Verborgen lauernden Kämpfern hinüber, die angesichts der Übermacht von dem Willen durchdrungen waren, für die Freiheit bis zum letzten zu gehen. Lieber würden sie im Kampf sterben, als diesen Kreaturen lebend in die Hände zu fallen. Plötzlich jedoch verebbte der Lärm auf der anderen Seite, und die furchteinflößenden Krieger bildeten eine Gasse, um einem Reiter auf seinem schwarzen Pferd Platz zu machen. Glyfara hielt unwillkürlich die Luft an, als sie erkannte, um wen es sich dabei handelte. Die Schabracke des Pferdes und die schwarze Kutte des Reiters wehten im Wind um die Wette, als er sein Pferd rücksichtslos durch die Menge trieb. Wie durch Zauber blieb die Kapuze jedoch fest an ihrem Platz und verdeckte das Gesicht des gefürchteten Reiters. Am Ufer angekommen, zügelte er das Pferd, von dessen Flanken Dampf aufstieg, scharf ab und musterte aufmerksam das gegenüber liegende Gelände. Glyfara zog sich instinktiv tiefer in das Laubwerk zurück, als befürchte sie, der Wandler könne sie selbst auf diese Entfernung durch das nahezu blickdichte Strauchwerk entdecken. Auch die anderen Kampfgefährten waren beim Erscheinen des unheimlichen Reiters zur Salzsäule erstarrt und wagten noch nicht einmal zu atmen. Für einen Augenblick schien die Zeit still zu stehen, dann wendete der Wandler schließlich sein Pferd abrupt und sagte etwas zu einem der Ulogs,  der daraufhin lautstark Befehle zu brüllen begann. Während sich der Wandler wieder zurückzog, wurden die schweren Kampfmaschinen zur Furt hinunter gebracht. Das Übersetzen stand bevor. Mit einem unguten Gefühl entdeckte Glyfara ein Dutzend Ulogs,  die sich bereits hoch zu Pferd durch die Furt kämpften, vermutlich, um die andere Seite zu sondieren. Offensichtlich wollte der Wandler nichts dem Zufall überlassen. Sollten seine Häscher auch nur einen der Gefährten entdecken oder sollte einer von ihnen die Nerven verlieren, waren sie alle verloren. Der Bogen in ihrer Hand fühlte sich plötzlich sehr feucht an.
 
Zwanzig Meter weiter beobachtete Borur aus der Deckung eines dichten Ginstergebüsches heraus das Geschehen auf der anderen Seite des Flusses. Der Anblick des Wandlers hatte ihn bis ins Mark erschreckt. Selbst auf diese Entfernung hatte er die dunkle Magie und die Grausamkeit, die dem alten Feind anhaftete, gespürt. Dieser Gegner würde keine Gnade kennen. Bis zum letzten Moment hatte Borur gehofft, daß ihnen der Krieg erspart bliebe, doch nun kampierte er auf der anderen Seite des Flusses, brüllte Befehle, klirrte mit den Waffen und brachte schweres Gerät zum Übersetzen ans Flussufer. Angesichts der gewaltigen Übermacht war er dankbar, auf Michaels Plan eingegangen zu sein. Sollte die Flutwelle zur rechten Zeit eintreffen, würde sie dem Feind beträchtliche Verluste einbringen. Er hoffte nur, daß die Gefährten inzwischen auch zum Eingreifen bereit waren. Es war dringend an der Zeit, sich mit Melzan in Verbindung zu setzen, um das in Erfahrung zu bringen. Zur Kontaktaufnahme schloß er die Augen, verdrängte alle Geräusche und Gedanken aus seinem Bewußtsein und konzentrierte sich dann auf die weit entfernte Aura seines Gefährten. Zu seiner Verwunderung gelang es ihm jedoch nicht, den Kontakt herzustellen. Er konnte noch nicht einmal den Hauch seiner Gegenwart in dieser Welt verspüren. Das war höchst ungewöhnlich. Erneut versuchte er es, wieder mit dem gleichen negativen Ergebnis. Borur spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Sollte dem Gefährten etwas zugestoßen sein? Wieder und wieder probierte er, Kontakt aufzunehmen, doch er stieß nur auf eine Mauer des Schweigens.  Irgend etwas stimmte nicht, und was das für ihn und seine Männer bedeutete, brachte ihn an den Rand der Panik. Ohne die Flutwelle, hatten sie keine Chance zu entkommen.  
 
Michael fluchte leise vor sich hin. Der Abstieg über die rutschige Treppe war alles andere als angenehm. An vielen Stellen des alten Mauerwerks drang bereits Wasser aus der Wand, und gelegentlich ächzte und knackte es auf eine beängstigende Weise. Scheiße, Scheiße, Scheiße, flüsterte er wie ein Mantra vor sich hin, während er überlegte, ob er bereits weit genug hinabgestiegen war? Dreißig Fuß tief, hatte Streitaxt ihm eingebleut. Michael überschlug kurz, wieviel das in Metern ausmachte und gelangte zu der Überzeugung, daß er sich weit genug nach unten begeben hatte, zumal nun immer mehr Schächte und Gänge von seinem Weg abzweigten. Anscheinend hatte er den Schwachpunkt der Anlage erreicht, von dem der Zwerg gesprochen hatte. Entschlossen hielt er an und setzte seine brisante Fracht ab, als ein klagendes Geräusch aus dem abwärts führenden Gang ihn zusammenzucken ließ. Für einen Moment erlag er der absurden Vorstellung, der Damm würde sich angesichts dessen, was Michael mit ihm vorhatte, persönlich bei ihm beschweren. Doch dann fiel ihm wieder die Warnung Streitaxts ein, der ihn darauf hingewiesen hatte, daß der Wind durch die Lüftungssteine des Ganges erschreckende Geräusche produzieren könnte. Aber es war eine Sache, sich davon an einem warmen Feuer erzählen zu lassen und eine ganz andere, das live zu erleben. Michael schluckte seine Angst hinunter und begann die Tasche auszupacken, während der Wind immer wieder sein Klagelied anstimmte. Sorgsam deponierte Michael die Sprengladung in den Gängen und Schächten, wobei er darauf achtete, jeweils eine möglichst trockene Stelle zu erwischen. Er seufzte bei dem Gedanken, daß er dies noch weitere zehn Mal vor sich hatte, bevor die gesamte Sprengladung hier unten verstaut war. Dann machte er sich an den Aufstieg.
 
Grimmbart trat nervös von einem Fuß auf den anderen und strich sich immer wieder mit fahrigen Bewegungen durch seinen Bart. Er haßte es untätig herumzusitzen und abzuwarten. Nun war schon eine gewisse Zeit verstrichen, seit sie sich von den Gefährten getrennt hatten, aber noch immer war nichts passiert. Einerseits begrüßte Grimmbart dies, da ihm an diesem Morgen wieder sein Traum eingefallen war, den er nach der Überquerung des Nebelgebirges gehabt hatte. Andererseits haßte er die Ungewißheit, die ihm das Abwarten bescherte. Grimmbart war nicht abergläubisch, aber er konnte das ungute Gefühl, daß der Traum ihm bereitet hatte, nicht so einfach wie sein Kettenhemd abstreifen. Nicht jetzt, wo der Kriegsbeginn unmittelbar bevorstand. Wütend darüber, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, wer in seinem Traum nicht überlebt hatte, kickte er einen kleinen Stein mit dem Fuß in die Schlucht, der mit seltsam dumpfen Geräuschen über den Boden der Falle hinweg hüpfte. Sein Blick wanderte hinüber zu Zokurt, der mit unbewegter Miene aus der Deckung eines dichten Ginsterstrauches heraus die Schlucht beobachtete. Sollten die Kriegskameraden in Gefahr geraten und von einer Übermacht verfolgt werden, würde ihr Schicksal in seinen Händen liegen. Grübelnd versuchte Grimmbart die Chance der Gefährten für diesen Fall einzuschätzen. Vielleicht würde sich hier in dieser Schlucht sein Traum bewahrheiten. Wer konnte das schon wissen? Grimmbart fluchte still vor sich hin, während er unglücklich seine Axt befingerte. Zu gerne hätte er gewußt, was sich gerade am Fluß tat, aber es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als abzuwarten. Die nahe Zukunft würde ihm zeigen, ob es sich nur um einen schlechten Traum oder eine düstere Prophezeiung gehandelt hatte.
 
Die Ulogs  hatten den Fluß überquert, und die Hufe ihrer kräftigen Pferde faßten wieder Fuß auf dem morastigen Untergrund des Flussufers. Wie auf ein stummes Kommando hin fächerten sie gleichmäßig aus und ritten nun langsam auf die nahe Waldlinie zu. Routiniert nahmen sie jedes denkbare Versteck in Augenschein, wobei ihre harten Gesichtszüge die grausame Entschlossenheit von Kriegern zeigten, die kein Pardon mit dem Gegner kannten.
Die Kampfgefährten ihrerseits verharrten lautlos in ihren Verstecken. Pfeile lagen auf den gespannten Sehnen der Langbögen und folgten jeder Bewegung der unheimlichen Reiter, die mit militärischer Präzisen die Waldlinie abritten, gelegentlich mit ihren langen Spießen in den einen oder anderen Busch stachen oder ein Stück in den Wald hinein ritten, um kurze Zeit später unverrichteter Dinge wieder herauszukommen.
Glyfara wagte währenddessen kaum zu atmen. Bisher hatten sie unverschämtes Glück gehabt, aber das konnte sich jederzeit ändern. Sie fragte sich, ob die stoischen Kampfmaschinen zu Pferd wohl ahnten, daß sie unverzüglich unter dem Pfeilhagel der Kampfgefährten sterben würden, sollten sie diese entdecken. Aber dies wäre nur ein geringer Trost, da dann auch der verzweifelte Plan, den Feind Mithilfe der Flutwelle mitten beim Übersetzen der gewaltigen Kriegswaffen zu überraschen, dahin wäre. Auch wenn es ihnen also gelingen sollte, den Trupp zu erledigen und zu entkommen, würden sie im Endeffekt doch als Verlierer aus diesem nervenzermürbenden Spiel hervorgehen. Sie durften einfach nicht entdeckt werden. Unwillkürlich zog sich Glyfara noch tiefer in das dichte Laub zurück, während sie dankbar dafür war, daß der Wind gleichmäßig in ihre Richtung blies, da sie es nicht für ausgeschlossen hielt, daß die Dämonen sie anderenfalls gewittert hätten. Mit Schrecken mußte sie mit ansehen, daß einer der furchteinflößenden Reiter nun den Abschnitt ins Auge faßte, in dem sie und Grüneich Stellung bezogen hatten. Das schwere Roß dampfte noch immer an den Flanken von der Anstrengung der Flussüberquerung und scharrte unruhig mit den Hufen, als sein Reiter es direkt unterhalb der gewaltigen Rotbuche zum Halten brachte. Glyfaras Herz klopfte bis zum Hals, als ihr bewußt wurde, daß Grüneich, der nur ein paar Fuß weiter verborgen in seinem Versteck lag, wahrscheinlich gerade mit dem Abzug seiner Tötzwanzig spielte. Jeden Moment konnte jetzt die Hölle losbrechen.
 
Michael war erledigt. Das Hinuntertransportieren der Sprengstoffpakete hatte seine Kraftreserven aufgebraucht. Ausgepumpt lehnte er an der feuchten Gangwand und betrachtete zufrieden sein Werk. Er hatte die Gänge und Schächte des Staudamms in eine Pulverkammer verwandelt. Sollte die Ladung hochgehen, wenn er noch hier unten war, würde er auf der Stelle atomisiert werden. Zum Glück hatte er keine Zeit, diesen beunruhigenden Gedanken zu vertiefen, denn die eigentlich schwierige Aufgabe lag erst noch vor ihm. Er mußte die Zündschnur sicher verlegen. Dies bedurfte größter Sorgfalt, da anderenfalls alles umsonst sein würde. Nachdem er diese an den Sprengladungen befestigt hatte, vergewisserte er sich lieber dreimal, ob auch alles in Ordnung war, bevor er damit begann, die Schnur vorsichtig abzurollen und sich wieder nach oben zu begeben. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor als er endlich wieder das Tageslicht erblickte. Erschöpft, aber zufrieden mit seiner Leistung legte sich Michael das Sicherungsgeschirr wieder um, bevor er sich vorsichtig dem Rand des Ganges näherte, denn immerhin ging es dort steil über fünfzig Meter hinunter.
„Ich habe es geschafft“, brüllte er in den Wind, der an Intensität zugenommen hatte, aber die Antwort blieb aus. „Hey, Streitaxt, kannst Du mich nicht hören?“ Mit fahrigen Handbewegungen legte Michael sich das Sicherheitsgeschirr an, als noch immer keine Antwort ertönte und prüfte den Sitz des Seils. Er stieß auf keinen Widerstand. Verdammt, was ist da oben los?, überlegte Michael nervös. Schreckensvisionen, in denen der Feind seine beiden Gefährten ermordet hatten, schossen ihm durch den Kopf. Dann würde er auf immer hier unten festsitzen. Ohne daß jemand beim Aufstieg das Seil sicherte würde er die glitschige, senkrechte Wand niemals bewältigen.
„Verdammt, antwortet endlich“, brüllte er aus Leibeskräften, während er sich vorsichtig in den Abgrund hinauslehnte und nach oben spähte, doch dort war niemand. Mit klopfenden Herzen lehnte er sich an die feuchte Gangwand, als plötzlich eine vom Wind verzerrte Stimme an sein Ohr drang.
„Alles in Ordnung, du kannst kommen.“
Michael atmete erleichtert auf. Ein leichter Ruck am Seil bestätigte ihm, daß er nun gesichert war. Sorgfältig verknüpfte er die Zündschnur mit dem Seil, an dem der Sprengstoff herabgelassen worden war. Dann zog er zweimal kräftig an dem Seil zum Zeichen, daß die Zündschnur nun hinauf gezogen werden könnte, worauf sich das Seil in Bewegung setzte und langsam aus seinem Gesichtskreis verschwand. Vorsichtig trat Michael an den Abgrund und überwachte das Abwickeln der Zündschnur. Zu seiner Erleichterung gab es keine Schwierigkeiten. Weder Seil noch Zündschnur verhakten sich irgendwo. Als nur noch zwei Meter Zündschnur übrig waren, hörte die Abrollbewegung plötzlich auf. Die Zündschnur war offenbar oben angekommen. Michael atmete durch und machte sich nun seinerseits an den Aufstieg. Wie schon zuvor zog er nun zweimal kräftig an seinem Sicherungsseil, wartete auf die Bestätigung und zwang sich dann zum Aufstieg. Der Wind zerrte wie ein wildes Tier auf Beutefang an seinen Kleidern, als er sich mühsam Meter für Meter hinauf quälte. Zum Glück hatte er sich die besten Mauerlücken für einen sicheren Stand beim Abstieg gemerkt, so daß ihm der Aufstieg leichter fiel, als er gedacht hätte. Gleichwohl fühlte er sich angesichts der inneren Anspannung völlig ausgebrannt, als er schließlich die Mauerumrandung erreichte. Zu seiner Überraschung streckte ihm dort jedoch nicht Streitaxt, sondern Melzan die Hand entgegen, um ihn über die Mauer zu helfen. Michael ergriff dankbar, wenn auch irritiert die Hand des Magiers und zog sich über die Mauer.
„Wir haben es geschafft“, keuchte er erleichtert, während er sich mit zitternden Beinen auf der Mauerumrandung niederließ und nach dem Zwerg umsah. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit, als er weder ihn noch die Ponys irgendwo entdecken konnte. Lediglich Melzan stand reglos ein paar Meter entfernt und musterte ihn auf eine Weise, die Michael Schauder über den Rücken jagten. Irgend etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Sämtliche Alarmglocken schrillten in seinem Inneren inzwischen auf Hochtouren. Erst dann viel ihm auf, daß Melzan bisher noch gar nichts gesagt hatte.
„Wo ist Streitaxt?“, fragte er den schweigenden Magier, während er ihn argwöhnisch beäugte. Er sah irgendwie anders aus, mehr wie eine schlechte Kopie des Magiers, der ihm vertraut war.
„Dort, wo du auch bald sein wirst“, erwiderte Melzan mit einer fremden Stimme, die Michael vage vertraut vorkam. Es dauerte einen Augenblick, bis er sie einordnen konnte. Dann aber stieg sein Adrenalinspiegel sprunghaft an.
Du....“, keuchte er, sprang auf und wich entsetzt von dem vermeintlichen Melzan zurück. „Du bist derjenige, den sie in der Burg suchen.“
„Ich bewundere deinen Scharfsinn“, höhnte sein Gegenüber, wobei er Michael nicht aus den Augen ließ, als würde er jede Linie seines Gesichtes studieren. Dann geriet in die Konturen von Melzans Gesicht plötzlich Bewegung. Die Gesichtszüge verschwammen vor Michaels Augen und begannen sich neu zu bilden. Starr vor Schrecken sah er mit an, wie die Gesichtszüge Melzan immer mehr den seinen ähnelten, bis er sich plötzlich seinem Ebenbild gegenüber sah. Mit einem Wutschrei ging er auf den Wandler los, als ihm klar wurde, daß dieser beabsichtigte seine Rolle einzunehmen. Der war völlig überrascht von dem verzweifelten Angriff, den Michael in bester Rugbymanier durchführte und seinen Gegner so schmerzhaft zu Boden beförderte. Aber Michael wußte instinktiv, daß er diesem Gegner nicht gewachsen war und sein momentaner Vorteil nur dem Überraschungsmoment zu verdanken war. Kräftige Klauen traten bereits an die Stelle von Melzans eher schlanken Händen, und aus der Kehle des zu Boden gegangenen drang ein Knurren, das kaum noch etwas Menschliches an sich hatte, als sich dieser bereits wieder aufrappelte, um seinem Widersacher den Gar aus zu machen. Also wandte sich Michael zur Flucht, das Fluchen des unheimlichen Gegners, der einmal Melzan gewesen war, im Rücken. Todesangst beflügelt, hatte Michael irgendwo einmal gelesen, und das schien zu stimmen. Trotz seiner totalen Erschöpfung bewältigte er die gut hundertfünfzig Meter, die ihn vom Waldrand trennten in Bestzeit, schlug aber kaum, daß ihn das dichte Strauchwerk verschluckt hatte, einen weiten Bogen, um zurück zum Damm zu gelangen. Die Äste des Strauchwerks peitschten ihm ins Gesicht, als er sich atemlos zurück zu seinem Ausgangspunkt durchschlug und sich verzweifelt fragte, was er als nächstes machen sollte.

Wird fortgesetzt...........
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.11.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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