Francesco Lupo

Ein kurioser Ausbruch

 
   Unglaublich stickig war es in dem Schacht, die staubige Luft kaum zu atmen, der Schweiß lief ihm in Strömen über Gesicht und Rücken. Orville Redluff grübelte ernsthaft darüber nach, wieder zurückzukriechen in die Zelle, um sich einen Mundschutz zu basteln. Dabei hatte er noch nicht einmal die Hälfte der Strecke bewältigt. Und er konnte von Glück sagen, daß der Tunnel schon ein gutes Stück gegraben war von jenen, die zuvor in dieser Zelle untergebracht waren. Immerhin lagen noch 15 Meter vor ihm. 15 Meter bis zur Freiheit. Im düsteren Schein der Lampe schuftete Redluff weiter.
Nicht nur stickig, sondern auch über alle Maßen eng ging es zu in einem von Hand gegrabenen Tunnel. Das lag in erster Linie daran, daß es galt, so kräfteschonend wie nur möglich vorzugehen. Und das bedeutete wiederum, der Schacht mußte lediglich eine Person passieren lassen, nichts sonst. Wenn er die Arme anwinkelte, stieß Orville mit seinen Ellenbogen an die Wände dieser irdenen Röhre. Es gab nur ein Vor und ein Zurück, an ein Wenden war nicht zu denken. Niemand vermochte sich vorzustellen, wie mühsam es war, einen engen Tunnel in die Erde zu graben. Hoffentlich stieß er nicht wieder auf Steine. Wie damals …
   Seinerzeit, bei seinem dritten Ausbruchsversuch, war er überraschend schnell vorangekommen, wollte es selbst kaum glauben, daß er nach so kurzer Zeit bereits wenige Meter vor der Mauer, d.h. unter der Mauer war. Dann war er auf diesen Felsen gestoßen. In seinem Eifer hatte er nicht einmal bemerkt, daß es Stein war, was ihm da im Weg stand. Er glaubte zunächst, die Erde hätte sich an jener Stelle zusammengebacken, und versuchte, sich mit dem Metallnapf hindurch zu graben. Vergeblich. Erst als der Becher so verbogen war, daß man seine ursprüngliche Form nicht einmal mehr erahnen konnte, registrierte Redluff die tatsächliche Härte und Beschaffenheit des Hindernisses.
Zu Beginn probierte er noch, an dem Stein vorbei zu gelangen, indem er seitlich auswich. Aber nach wenigen Zentimetern war ihm auch hier ein Weiterkommen verwehrt. Die andere Seite gestaltete sich ebenso hartnäckig. Also wandte er sich nach oben, und siehe da - es ging. Er buddelte damals wie besessen, überwand den Felsbrocken in der Tat, bis er schließlich gegen ein meterdickes metallenes Versorgungsrohr stieß, das quer zu seiner Grabrichtung verlief. Da hatte er endgültig aufgegeben. Wie eine Schlange war er damals wieder zurück gekrochen, hatte Steine und jede Menge Erde in seinen Hosenbeinen aufgelesen und wog bei seiner Rückkehr in die Zelle wohl doppelt so viel wie zu Beginn.
   Derartiges sollte ihm heute nicht passieren, so hoffte er innig. Diesen Fluchtweg hatte er sich genauesten angesehen. Es war ihm sogar gelungen, in der Gefängnisbibliothek einen Grundriß des Gebäudekomplexes zu erwischen, dessen Außenwände den großen Parkplatz und damit die ersehnte Freiheit berührten. Ein Häftling mit der Nummer 33227, dessen Name Orville Redluff vergessen hatte und der vor wenigen Wochen einer akuten Blinddarmentzündung erlegen war, hatte ihm den Plan genauestens abgezeichnet und dafür drei Schachteln Zigaretten von ihm erhalten. Ein fairer Preis, wie Redluff empfand.
Keuchend und staubeinatmend schob er sich Stück für Stück weiter, Zentimeter für Zentimeter, die Lampe immer an vorderster Front postiert. In der Hand den Blechnapf. Natürlich hätte er besseres Werkzeug kriegen können, aber das verstieß gegen die Regeln. Es mußte ein Blechnapf sein. Wie immer.
Mit einemmal wurde die Lampe von Erde bedeckt, Dunkelheit hielt Einzug. Er verspürte einen gewaltigen Druck auf seinem Rücken, der ihn zwang innezuhalten. So, als presste eine zynische Riesenfaust ihn, den schwer Arbeitenden, nach unten, obwohl er schon am Boden lag. Und Mr. Luther fiel ihm ein...
Es hatte auf dem College einen Turnlehrer namens Luther gegeben, dessen diabolisches Vergnügen unter anderem darin bestand, den Jungs bei den Liegestützen zusätzlich zu den eigentlichen Anstrengungen auch noch die Hand auf die Schultern zu drücken. Oder einen Fuß darauf zu stellen. Und je mehr der Schüler sich abmühte, um so heftiger wurde der Druck von oben; bis er erschöpft aufgab und liegen blieb.
Ein Mitschüler war eines Tages unter einer großen dicken, aber weichen Matte gefangen, die jener Lehrer über ihn geworfen hatte. Anschließend mußten sich mehrere seiner Kameraden rings herum auf die Ränder der Matte setzen. Der Gefangene schrie verzweifelt, seine Stimme drang jedoch kaum zu seinen Mitschülern vor; die Matte war dick. Sie isolierte. Nicht nur den Schall, auch die Frischluftzufuhr … Daher reagierte niemand sonderlich aufgeregt auf das Rufen.
Nach ein paar Minuten erlöste ihn Luther von seiner Pein. Hervor kroch ein völlig verstörter, kreidebleicher, einem Kollaps nahestehender Junge, der hinaus getragen werden mußte und dabei ein Vaterunser nach dem anderen murmelte. Tags darauf bekam Luther einigen Ärger mit dem Vater des Jungen.
   Orville Redluff verspürte immer ein ungutes Gefühl in so engen Räumen, besonders wenn sich das Erdreich über ihm instabil zeigte. Dann gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder es gab nach oder es hielt. Wenn es hielt, grub er unbeirrt weiter. Rutschte es jedoch nach, zog er sich schleunigst zurück aus der Gefahrenzone. Einmal, vor etwa 6 Jahren im San Quentin State Prison, ging das nicht ...
   Damals war es ihm gelungen, einen wunderbaren Tunnel zu fertigen, der einige Kurven aufwies, den Abhänge und Steigungen kennzeichneten, der ihn viel Aufwand gekostet hatte, da er nur nachts graben konnte. Mehrere Wochen hatte er dafür gebraucht, und die anfallende Erde wurde in der Toilette der Zelle runter gespült.
In jener unheilträchtigen Nacht war er gut vorwärtsgekommen, hatte ein paar Meter geschafft, befand sich gerade auf einem Stück, das nach oben führte, als er unsanft gebremst wurde. Eine Zentnerlast legte sich auf seine Schultern, den Rücken, den Kopf und preßte ihn gegen den feuchten Grund. Als ob sich ein Elefant auf ihn gesetzt hätte. Es schien, als wollte die Erde ihn zwischen ihren schwarzen Massen zermahlen. Zudem wurde es noch dunkel, die Lampe war nicht mehr zu sehen, ein Atmen beinahe nicht mehr möglich.
So etwa mußten sich Bergleute fühlen, dachte Redluff damals, die eine Schlagwetterexplosion überlebt und sich irgendwo eingeklemmt zwischen Geröll und Kohlenstaub wiederfanden, kaum in der Lage zu atmen, bewegungsunfähig, die Schreie der Kumpel in den Ohren. Und niemand wußte, wie lange sie so liegen bleiben mußten. Auch nicht, ob Hilfe unterwegs war, wann sie kam, ob das Unglück oben überhaupt schon bemerkt worden war. Diese Stunden waren fürchterlich. Jeder empfand sie anders. Der eine verhielt sich ruhig, gab sich Mühe, sich zu entspannen, zu schlafen gar. Andere blieben nicht so gelassen, versuchten, diesen gewaltigen psychischen Druck durch Hyperaktivität zu kompensieren, begannen zu graben, egal wohin. Manche gruben nach unten … Und wenn sie dann Verletzte oder gar Tote fanden, begann die eigentliche Panik.
Seinerzeit in San Quentin jedoch war Redluff mutterseelenalleine. Völlig isoliert lag er in seiner Röhre aus Lehm und wartete. Den Kopf zur Seite geneigt, die Wangen eingeklemmt von der feuchten Erde, ertrug er die Last ohne zu murren. ‚Wenn sie mich am Morgen so finden, sagte er sich, gibt es jede Menge Ärger. Wenn sie mich überhaupt lebend finden …’ und er dämmerte dahin.  
Plötzlich war er maßlos erschrocken. Er fand sich in einem Sarg liegend, der gefüttert war mit purpurnem Samt. Um ihn herum erstrahlten Dutzende grellgelber Kerzen, richtiggehend eingerahmt wurde er von ihnen. Einen Moment lang beobachtete er deren unruhiges Flackern, schaute auf seine Schuhspitzen, die blankgeputzt am Sargende emporragten. Redluff fühlte sich nicht einmal unwohl. Aber mit einemmal begann sich der Deckel der Holzkiste zu senken, die Helligkeit nahm rapide ab. Er versuchte verzweifelt, ein Bein aus dem Schrein zu zwängen, zwischen dem sich schließenden Deckel und dem Sargrand hindurch, aber es klappte nicht. Dann herrschte nur noch Dunkelheit.
Unvermittelt hatten Hände nach seinen Füßen gegriffen, zogen daran, zerrten wild. Im Anschluß Stimmen. Ja, er hörte Stimmen in dem Sarg.
„Fester, ihr müßt fester Ziehen“, sagte die eine Stimme. „Er sitzt fest“, die andere, etwas näher.   
Auf einmal schleiften sie ihn bäuchlings aus seinem selbstgegrabenen Tunnel, zentimeterweise, seine Wange am Boden. Der, welcher seine Beine hielt, wurde selbst an seinen Füßen festgehalten und so fort. Redluff wußte nicht mehr, wie lange er dort unten verschüttet gelegen und wie lange der Alptraum gedauert hatte. Er war heilfroh, aus dem engen Gefängnis wieder befreit worden zu sein. Etwa eine Woche hatte er danach das Bett hüten müssen, aber dann ging es wieder. Damals hatten sie ihm nahegelegt, so etwas nicht wieder zu tun. Das war in San Quentin. Vor sechs Jahren. Das war lange her.
  Jetzt aber blieb der gewaltige Druck auf Orville Redluffs Rücken anhaltend stark, verteilte sich gleichmäßig auf seinem Oberkörper, preßte Brustkorb und Kopf gegen den Erdboden, und feiner Staub rieselte ihm in den halb geöffneten Mund. Orville hustete, spuckte. Auch seine Nase blieb nicht verschont. ,Verdammt, dachte er, mit solch lockerem Erdreich habe ich hier nicht gerechnet. Davon stand nichts in den Plänen, für die ich drei Schachteln Zigaretten hergeben mußte.’
Hüften und Beine waren zwar frei, aber heute würde niemand kommen, um ihn herauszuziehen. Es mochte jetzt kurz nach Mitternacht sein, in der Haftanstalt in Seattle herrschte gespenstische Ruhe, die Lichter waren gelöscht. Wenn er sich jetzt nicht sofort selbst zu helfen wußte, war es schlecht um ihn bestellt.
Redluff bewegte seine Beine, seine Hüften, ohne daß es ihm gelang Entscheidendes zu bewirken. Wieder und wieder wackelte er mit dem freien Teil seines Körpers, wie ein schwanzwedelnder Hund, schlug mit den Hacken gegen die Tunneldecke, seine Hände krallten sich ins Erdreich, drückten dagegen, rüttelten.
Wenn nur dieser Staub nicht wäre. Dieser feine dunkle Staub, der nach Haschisch roch und sich an allen Schleimhäuten festsetzte. Orville mußte plötzlich niesen. Und noch einmal. Sein ganzer Körper bebte dabei, bäumte sich auf.
Nach dem dritten Mal spürte er, wie der Druck etwas nachließ, wie das Erdreich um ihm herum zu fließen begann. Ganz sachte zuerst, dann etwas deutlicher, bis schließlich über ihm ein winziger Hohlraum entstand, der sich zu vergrößern anschickte. Der ermöglichte es ihm, wenigstens ein bißchen Luft zu schöpfen. Mit dem Kopf stieß er nach oben und bemerkte: Der Widerstand fehlte. Da war nichts. Auch sehen konnte er nur Schwärze. Mit ausgestreckten Armen suchte er nach der Lampe, die irgendwo vor ihm begraben sein mußte. Wie zwei Maulwürfe wühlten sich die Finger durch den Dreck, tasteten, gruben, bis seine linke Hand an etwas Hartes stieß. Gierig umschlossen die Finger den Gegenstand, zogen ihn zu sich heran, und mit einemmal wurde es heller. Die Lampe brannte noch, die Batterien waren frisch.  
Redluff stierte nach oben, erkannte ein steinernes Rohr und schätzte seinen Durchmesser auf etwa 60 Zentimeter. Durch seine Grabarbeiten hatte sich das lockere Erdreich um die Röhre herum gelöst und war abgesackt. Das Rohr selbst verhinderte ein weiteres Nachrutschen von größeren Mengen Materials.
Dieses Hindernis stand nicht im Plan, und schon bereute er, ihn gegen die Zigaretten getauscht zu haben; aber der Mann konnte nichts dafür. Der hatte den Plan nicht gezeichnet; nur kopiert.  
Nachdem sich Orville von der Erde befreit hatte, die in Kragen und Hose gerutscht war und ihm erhebliches Unbehagen bereitete, sah er sich das Rohr etwas genauer an. Es war zweifelfrei ein Abwasserkanal, der vom Gefängnis hinaus führte. Ihn zu benutzen wäre einfacher, als sich weiter durch den Untergrund zu wühlen. Wenn er in diesen Kanal eindringen konnte, war sein Vorhaben geglückt. Wenn er das Rohr jedoch beschädigte und es gefüllt war, dann mußte er hier unten jämmerlich ersaufen.
Es bestand aus Industriestein, seiner Schätzung nach 4 bis 5 Zentimeter stark. Er langte an seinen Hosenbund und fingerte den Spitzhammer hervor, den er vorsorglich mitgenommen hatte.
Es folgte vorsichtig ein seitlicher Schlag gegen den Stein. Nichts rührte sich. Orville wurde nervös. Sollte seine Reise tatsächlich hier zu Ende sein? Niemals würde er aufgeben. Er grub die Rohrleitung mit bloßen Händen frei, immer mehr Staub und Erde rutschten nach unten, endlich hatte er einen Übergang gefunden. Dort, wo zwei Rohre verbunden waren, suchte er in der Hocke nach einer geeigneten Stelle.
Wieder ertönte der dumpfe Schlag auf dem Hohlkörper, sandte seine Schallwellen durch alle feste Materie, auch durch jene, die das steinerne Rohr lediglich berührte. Redluff verschaffte sich genügend Raum, um kräftig auszuholen. Und nun hämmerte er und schlug, was das Zeug hielt. Es dauerte keine viertel Stunde, und in dem Rohr konnte man eine kleine Bresche erkennen. Zu seiner größten Freude lief nur wenig, allerdings sehr trübes und penetrant riechendes Wasser heraus. Emsig arbeitete er weiter.
  
   In seinem Wachhäuschen, circa 20 Meter entfernt von der Mauer, im Innenhof des Gefängnisses, saß Leo Meaker, schaute auf die Uhr und schaltete per Fernbedienung auf den anderen Kanal. Gleich wurde das Basketballspiel aus Seattle übertragen. Die Seattle Supersonics hatten die Denver Nuggets zu Gast. Leo war ein Fan der Heim-Mannschaft, hatte früher selbst Basketball gespielt. Auch hier in der Anstalt griff er gelegentlich ins Geschehen ein, wenn die Wärter gegen die Insassen antraten.
Er machte es sich vor der Kiste gemütlich, warf noch einen Blick aus dem Fenster, schaute hinauf zu Phil und Larry, die oben auf den beiden Wachtürmen vor ihren gläsernen Kabinen standen, die Waffen in den Händen. Er winkte ihnen kurz zu. Die beiden taten ihm leid. Dort gab es kein Fernsehen, das war verboten. Zu wichtig waren die Positionen auf den Wachtürmen. Zudem war es im Oktober kalt draußen.
Leo schaute sich die Werbung an. Dann begannen sie mit den üblichen bunten Cheerleadervorführungen, den Tänzerinnen, ohne die ein amerikanisches Sportereignis nicht stattfinden durfte. Endlich fing das Match an.   
Einer der Schiedsrichter warf den Basketball in die Luft, die langen Kerls schraubten sich in die Höhe, und die Seattle Supersonics holten sich den Ball für ihren ersten Angriff. Es ging sehr schnell, der Spieler mit der Nummer 23 stand außerhalb des Wurfkreises, zögerte einen Moment, fixierte den Korb, zielte und – der Ball prallte an den Ring, wurde in die Höhe geschleudert und fiel einem Spieler der Denver Nuggets in die Hände. Nun griffen die Gäste an.
Leo Meaker spielte innerlich mit, trippelte, umspielte mehrere Gegner, mußte aber leider mit ansehen, wie die Denver Nuggets mit 2:0 in Führung gingen. Das behagte ihm gar nicht. Aber schon griff die Heim-Mannschaft wieder an, der Ballführende wurde gefoult und bekam zwei Strafwürfe. Sofort wurde es stiller im Stadion.
Gelassen stellte sich der Werfer an die Strafwurflinie, nahm den Ball locker in die linke Hand, zielte und traf das rote Rechteck auf der riesigen Plexiglasscheibe, die den Korb hielt, woraufhin der Ball aufs Feld zurück flog. Ein Spieler fing ihn auf und händigte ihn dem Schiedsrichter aus. Der dumpfe Schlag, der ertönte, als der Ball die Scheibe traf, hallte noch nach, da setzte der Spieler zum zweiten Wurf an, der sicher im Korb landete. 1: 2 aus Sicht der Supersonics. Die Zuschauer rasten.
Obwohl der Ball sauber durch den Ring ins Netz gefallen war, hörte Leo den Schlag, als wäre er erneut gegen das Plexiglas geprallt. Es war laut in der Halle, zu laut für Leo, er drehte den Regler etwas herunter. Wieder erzielten die Nuggets einen Korb zum 1:4. Ein phantastischer Spielzug war vorausgegangen. Der Spieler, der den Treffer markierte, stand rechts vom Korb, sein Kollege spielte ihn von der gegenüberliegenden Seite über den Korb hinweg an, er sprang hoch, fing den Ball ab und stopfte ihn regelrecht in das Netz. Das Publikum tobte. Und wieder krachte es hörbar. Viel zu spät, wie Wachmann Leo empfand ...
Die Gastgeber befanden sich bei ihrem Angriff mitten im Feld, als es erneut dumpf einschlug. Da stimmt etwas mit dem Ton nicht, sagte sich Leo und drückte die Ton – aus - Taste. Er lauschte. Woher kam dieses Schlagen? Schon wieder ertönte es deutlich, und Leo glaubte, an seinen Füßen ein winziges Kribbeln gespürt zu haben. Er erhob sich, nahm das Gewehr und verließ die Kabine. Das Spiel lief weiter ohne ihn.
 
   Das seitliche Loch in der Steinröhre war inzwischen soweit gediegen, daß Orville Redluff seinen kompletten Oberkörper hineinschieben und mit der Lampe beide Richtungen ableuchten konnte. Der Wasserstand im Rohr betrug nur wenige Zentimeter, was ihm nasse Knie bescheren würde. Ansonsten schien es keine Hindernisse zu geben.
Mit aller Macht zwängte sich Orville durch den engen Spalt, die Lampe immer vor sich haltend, mußte sie nur kurze Zeit ins Wasser stellen, um sich vollständig in das Rohr zu ziehen. Er war schließlich keine Schlange, mitunter behinderten ihn seine Gliedmaßen erheblich. So war es ihm nicht einmal möglich auf den Knien zu krabbeln, dazu war das Rohr nicht hoch genug. Ergo lag er auf seinem Bauch im kalten brackigen Naß, das ab und zu in kurzen Wellen unter ihm hindurch und an ihm vorbei floß. An den strengen Geruch mußte er sich gewöhnen ...
Orville Redluff robbte zielstrebig vorwärts, zentimeterweise, die Lampe zeigte ihm die Verbindungsstellen der Steinrohre, und jedesmal, wenn er eine passierte und auf die Uhr sah, wußte er: Wieder war eine viertel Stunde vergangen, wieder hatte er 1,5 Meter geschafft. Da trafen die Strahlen der Lampe auf ein Metallgitter.
Mitten auf seinem Weg in die Freiheit hatte ein findiger Konstrukteur sich genötigt gesehen, ein unterirdisches Abflußrohr mit einem Gitter zu versehen! Auf dem Bauch im Wasser liegend, in der Hand die Leuchte, studierte Redluff die Befestigungen des Sperrgitters. Sie waren nicht geschraubt, sondern genietet. Unlösbare Verbindungen quasi. Orville zögerte. Zurückzukriechen, um sich Werkzeug zu besorgen, schied aus Zeitgründen aus. Zudem wollte er diese Tortour nicht noch einmal über sich ergehen lassen. Also blieb ihm nur der Versuch, das Gitter mit seinem Spitzhammer zu durchschlagen. Hatte er das geschafft, war es bis zum Gully, bis zur Freiheit, nicht mehr weit. Orville Redluff hob den Hammer und schlug zu.
 
  Leo Meaker saß wieder in seiner warmen Kabine vor der Mattscheibe, seine Seattle Supersonics lagen mittlerweile 14:18 zurück, und das meiste davon hatte er versäumt. Dabei war er gar nicht so lange weggewesen.
Kaum hatte er nämlich sein Wärterhäuschen verlassen, um dem ominösen Geräusch auf den Grund zu gehen, da glaubte er, dessen Quelle ausfindig gemacht zu haben. Es hatte den Anschein, als kämen die Schläge von der Gefängnismauer herüber, als schlüge jemand von außen dagegen. Das jedoch war eher ungewöhnlich. Wenn jemand an eine Gefängnismauer hämmerte dann in aller Regel von innen ...
Leo war den Weg des Innenhofs entlang gelaufen, blieb stehen, lauschte, lief weiter bis zur Mauer. Minutenlang verharrte er dort und horchte erneut. Er warf ein paar Blicke hinauf zu seinen Kollegen auf den Türmen, die aber schienen nichts gehört zu haben. Wie Wachsfiguren standen sie am Geländer, die Gewehre schußbereit. 
Unregelmäßig waren die Schläge, klangen nicht alle gleich. Als ob jemand auf eine Pauke schlug und ab und zu mit dem Trommelschlegel den Rand traf. Und sie kamen von – unten! Leo hörte sie noch wenige Male, danach verstummten sie. Nachdem er nichts mehr wahrnehmen konnte, begab er sich zurück zum Spiel.
Aber seine Aufmerksamkeit für Basketball hatte nachgelassen. Leo war nur noch mit halbem Herzen dabei. Den Ton hatte er fast abgedreht, und mehr als aufs Spiel konzentrierten sich seine Ohren auf das, was er nicht hörte. Er sinnierte, was sich wohl dort unter dem Weg befand.
Der Wachmann registrierte nicht einmal, daß seine Favoriten inzwischen mit 36:33 in Führung gegangen waren, der Jubel des Publikums drang kaum bis zu ihm vor. Aber etwas anderes traf erneut sein Gehör. Schon stand er wieder, griff sich Gewehr und Taschenlampe und verließ zum zweiten Mal sein gemütliches Quartier.
   Denn da war es wieder, dieses Pochen, dieses Schlagen. Leo stand an der Gefängnismauer, legte sein Ohr dagegen und konnte es jetzt deutlicher denn je vernehmen: Bum, bum, poch, bum, poch. Der Wächter vermutete das Schlagen genau unter sich, und ein böser Verdacht keimte auf in ihm!  
Er schloß die Augen, um sich besser auf die Geräuschquelle zu konzentrieren. Und in der Tat glaubte er den ‚Störenfried’ nun geortet zu haben. Wenn der jetzt noch kurz vor der Mauer war, dann würde er diese bald passiert zu haben, das hieße, er befand sich irgendwo da unten, unter dieser Gefängnismauer. Leo Meaker lächelte wissend, verließ die Wand, begab sich zur Kabine, stellte das Gewehr zurück an seinen Platz, griff zum Telefon und rief einen Kollegen.
   Gemeinsam verließen sie den Gebäudekomplex durch einen Nebeneingang, und Leo führte den anderen Mann in Uniform um die Anstalt herum zu einem bestimmten Punkt. Dort, wenige Meter hinter der Außenmauer, befand sich ein Gullydeckel, direkt auf dem asphaltierten Weg, der den Parkplatz vom Gefängnis trennte. Die beiden Wachleute nahmen ihre Positionen am Gully ein und warteten.
 
   Eine Heidenarbeit war es gewesen, dieses Metallgitter durchzuschlagen, aber Orville Redluffs Energie schien unerschöpflich. Trotz der Kälte des Wassers schwitze er. Als das Gitter endlich fiel, zeigte er sich über alle Maßen zufrieden.
Sogleich zwängte er sich hindurch, blieb jedoch mit dem Reißverschlußhaken seiner Hosen so unglücklich an einem metallenen Gitterrest hängen, daß er sich nicht mehr befreien konnte. Er zerrte und zog, aber es half nichts. Nachdem er minutenlang vergeblich versucht hatte, sich mit Hilfe des Hammers aus der Gitterfalle zu lösen, probierte er, sich seiner Hosen zu entledigen. Das gelang ihm nur unter erschwerten Bedingungen, weil er auf dem Bauch lag und nur eine Hand zur Verfügung hatte. Damit öffnete er den Hosenknopf, was die Sache nur unwesentlich erleichterte. Redluff zog und zerrte, wand sich wie ein Aal, krabbelte vorwärts und wieder zurück, krallte seine Hände und die Spitze des Hammers in die geflutete Steinröhre, brach sich die Fingernägel ab, gab aber nicht auf.  
Schließlich, nach langem Ringen mit den Tücken des Objekts, war es ihm vergönnt, sich aus seiner Hose zu schälen. Er zog sie aus wie einen Strumpf, wie eine Schlange sich ihrer alten Haut entledigt, sodaß sie jetzt von außen nach innen gewendet an seinen Füßen hing. Damit aber war er noch immer nicht frei. Nun hielt die Hose seine Füße umklammert.
Aber Orville Redluff war kein Anfänger und schon mit schlimmeren Situationen fertig geworden. Mit seinen Fußspitzen streifte er sich mühevoll durch den Stoff der Hosen hindurch die Schuhe von den Füßen, und als das geschafft war, gelang es ihm letztendlich, unter Zurücklassung seiner Hosen weiterzukriechen.
Schon konnte er den Schacht erkennen. Dort drang etwas Licht von den Straßenlaternen des Parkplatzes herunter und ließ die stinkende Brühe matt schimmern.  
Noch ein paar Anstrengungen, und Redluff war am Aufstieg angelangt. Über ihm erhob sich der Gullyschacht mit den gußeisernen Griffen - und darüber die Freiheit. Er streckte seine Hand aus, zog sich hoch, um aufrecht zu stehen. Bis zum Deckel waren es höchstens drei Meter. Das war die leichteste Übung. Orville begann mit dem Aufstieg.
 
   Die beiden Wachmänner führten ihre Unterhaltung im Flüsterton. Unter sich im Kanal hatten sie einen dünnen Lichtschimmer erspäht und wollten ihre Präsenz nicht preisgeben. Beide wußten nur zu genau, wer sich da in Kürze zeigen würde, wer es wieder einmal versuchte. Die Wachleute schüttelten ihre Köpfe. Leo gab ein Handzeichen, zurückzutreten, er hatte ein Geräusch unter dem Deckel wahrgenommen. Die beiden Gefängniswärter traten zwei Schritte nach hinten und gingen in die Hocke.
Es war ziemlich düster hier, die Beleuchtung des Parkplatzes sorgte kaum für ausreichendes Licht. Die beiden Gestalten knieten vor dem Gullydeckel und warteten, daß er sich hob. Und er würde ihnen den Gefallen tun, dessen waren sie sich sicher. Plötzlich stand Leo auf, machte einen Schritt vorwärts und stellte sich auf den Deckel.
   Mittlerweile war Redluff an der obersten Sprosse angelangt, schaltete seine Lampe aus - er war Profi - spähte durch die ovalen Öffnungen des Deckels ins Freie, konnte nichts Verdächtiges entdecken und stemmte seine Schulter dagegen. Der Deckel war unerwartet schwer. Erneut preßte Orville seinen Oberkörper an das Gußeisen, aber das ließ sich nur wenige Millimeter anheben. Was war das? Hatten sie diesen Deckel aus Sicherheitsgründen zugeschweißt? Das war nicht anzunehmen, außerdem hätte er davon Kenntnis gehabt.
   Oben wollte es der Wärter Leo dem Ausbrecher nicht noch schwerer machen, verließ die gußeiserne Abdeckung mit einem großen Schritt und begab sich wieder neben seinen Kollegen in die Hocke. Mit starren Augen fixierten beide die Deckelumrandung. Diesmal sollte es klappen.
  
   Im Halbdunkel, mit dem rechten Fuß auf einem der u-förmigen Metallgriffe stehend, sich mit dem anderen an der gegenüberliegenden Wand der senkrechten Röhre abstützend, ohne Hosen und Schuhe, war Redluff bereit für den entscheidenden Schritt in die Freiheit. Er holte etwas Schwung, richtete sich schnell auf, stieß gegen den Deckel, der flog aus der Umrandung und landete dröhnend auf dem Asphalt.
Ein wenig geblendet vom plötzlichen Eindringen der Helligkeit des Parkplatzes schloß Redluff kurz die Augen, dabei kletterte er aus der Röhre. Zuerst streckte er sich ausgiebig und schaute stolz auf die Gefängnismauern hinter sich. Da bemerkte er die beiden kauernden Gestalten am Boden.
Als erster erhob sich Leo, kopfschüttelnd trat er auf den Ausbrecher zu. Der gab ein erbärmliches Bild ab, wie er da stand in Socken und Unterhosen, frierend, von oben bis unten verschmutzt. Dennoch schien er irgendwie glücklich zu sein. Leos Kollege trat daneben und beide betrachteten sich das Häufchen Elend.
„Orville“, begann Leo beinahe väterlich mit dem Ausbrecher zu reden, „was machst du? Sieh dich nur mal an! Wo sind deine Hosen?“
Etwas verschämt deutete Redluff in den Schacht und zuckte mit den Schultern. Er schien keinerlei Enttäuschung zu verspüren, zudem hatten die beiden Beamten ihre Waffen in den Halftern stecken gelassen.
„Es ist immer wieder dasselbe mit dir, Orville“, fing nun auch der andere Beamte zu sprechen an. „Warum tust du das? Gefällt es dir nicht bei uns?“
Natürlich gefiel es Orville hier, noch nie hatte er es irgendwo besser gehabt. Schon gar nicht in San Quentin. Aber ein innerer Zwang drängte ihn, diese Gefängnismauern immer wieder auf diesen ungewöhnlichen Wegen verlassen zu müssen. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Wie eine Sucht kam es über ihn. 
Wenn sie ihn nur nicht dem Gefängnisdirektor verrieten. Das könnte böse Folgen für seine Zukunft haben. Er hoffte nicht, daß sie das tun würden.
Kameradschaftlich faßten die beiden Kollegen Redluff unter den Armen und geleiteten ihn zurück ins Gebäude, der ließ sich willig führen. Mittlerweile fror er entsetzlich an den Beinen.
„Ihr werdet doch dem Direktor nichts sagen?“ fragte er leise, denn dies war bereits sein dritter Ausbruch in wenigen Monaten.
„Was sollen wir nur mit dir anfangen, Orville“, sprach Leo ruhig mit ihm und reichte ihm eine Zigarette. „Jedesmal versprichst du uns, es sei das letzte Mal gewesen - und dann dies.“
„Diesmal war es garantiert das letzte Mal“, versprach Redluff feierlich den beiden Beamten, nunmehr auf derartige Exkursionen verzichten zu wollen und nahm die dargebotene Zigarette dankbar entgegen.
„Es wird viel Zeit und Geld kosten, den Tunnel wieder zu schließen. Diesmal wirst du das bezahlen müssen, Orville“, entgegnete Leos Begleiter.
„Ich werde es in meiner Freizeit selbst in Ordnung bringen“, schwor Orville den beiden.
„In deiner Freizeit?“ fragte Leo überrascht.
„In meiner Freizeit!“ wiederholte Redluff. „Aber dem Chef sagen wir nichts, okay?“
„Okay“, ergriff der Kollege das Wort. „Und eines versprich mir bitte noch: Rede mit dem Gefängnispsychologen!“
Ja, das würde er diesmal auf jeden Fall tun müssen. Vielleicht konnte der ihm helfen. Denn es war keineswegs normal, daß man in wenigen Monaten mehrmals aus dem gleichen Gefängnis ausbrach. Vor allem dann nicht, wenn man als Wachmann hier arbeitete …
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.11.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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