Francesco Lupo

Ein nicht alltäglicher Jungfernflug

 
   Längst hatte der Herbst Einzug gehalten in den Bergen von Montana, westlich von Great Falls. Wie ein Riß im dunklen Himmel glänzte in den frühen Morgenstunden der sichelförmige Mond. Witternd hielt der mächtige Braunbär mit den grauen Nackenhaaren die Nase in den Wind. Mit leicht geöffnetem Maul, seine imposanten Eckzähne zu Geltung bringend, drehte er das bewegliche Riechorgan nach allen Seiten, bevor er seine 700 Pfund leichtfüßig in Bewegung setzte. Entschlossen trottete er den Waldweg entlang, talwärts, in jene Richtung, die ihn seit Tagen so magisch anzog.   
   Dieser Pfad hatte seine Kontur lange schon verloren. Beiderseits ragten Zweige von Büschen und niederen Bäumen darüber her, berührten sich zuweilen, machten ein bequemes Durchkommen für Menschen unmöglich. Es war ohnehin kein befestigter Weg, eher ein Trampelpfad, täglich von unzähligen Tieren benutzt. Puma, Skunk und Wapiti verkehrten hier gleichermaßen wie Kojote und Dachs.
   Am Waldrand, am äußersten Ende des Pfades, dort wo sich die Wiese wie ein grüner Teppich den Hang hinunterwälzte, tauchte die Farm von Lennox auf. Hauptgebäude, Ställe, der Pferch, der Schuppen; das ganze umsäumt von dickem Stacheldraht. Hinter dem Zaun waren den Sommer über Schweine, Ziegen und Schafe in kleinen Gruppen umhergelaufen und taten das, wozu sie auf der Welt waren: Sie fraßen sich fett. Wenn sie ihr Schlachtgewicht erreicht hatten, überwinterten sie in aller Regel in luftiger Höhe: An der Decke des Schuppens. Gepökelt und geräuchert.
Im gesamten Umkreis konnte man den feinen salzigen Duft der Schinken schmecken, der über der Farm lag wie ein unsichtbares Zelt; vor allem jetzt im Spätherbst, da frisch geschlachtet worden war. Auch Hubert, der Grizzly, roch es von weitem. Jede Nacht war er während der letzten Tage hierher gekommen, um sich diese herrlichen Räucherwaren einzuverleiben. Für die kommende Winterruhe mußte er sich unbedingt noch mindestens einen Zentner Speck anfuttern; das tat er bei jeder sich bietenden Gelegenheit.  
   In den hölzernen Vorratsschuppen zu gelangen, stellte kein Problem dar. Mit seinen mächtigen Pranken öffnete er jede Tür ohne die geringste Anstrengung, und sobald er sein Gelage beendet hatte, verschloß er den Eingang sorgfältig. Jedesmal. Schließlich gedachte er, am nächsten Tag wiederzukommen. Und am darauf folgenden. Das hiesige Raubzeug sollte sich gefälligst anderswo umtun.
   Die imposante Kiste aus hellen Fichtenbrettern, direkt vor dem Schuppen postiert, hatte er gleich beim Überwinden des Stacheldrahtes bemerkt. Aus ihr roch es exorbitant nach frischem Fleisch. Was sollte er tun? Er beäugte die Kiste kurz, sah den Köder darin liegen, registrierte die geöffnete Falltür und nickte nur beiläufig. Dilettanten!
Fangen wollten sie ihn in einer solchen Holzkiste? Sich daraus zu befreien dürfte für ihn ein leichtes Unterfangen werden. Den Köder würde er sich später holen, erst einmal war der Räucherschuppen an der Reihe. Schon flog die notdürftig reparierte Tür aus den Angeln, schnappten seine Zähne nach Räucherwürsten und zartem Schinken. Das Festmahl begann.
   Eine knappe Stunde später, als sich bereits eine leichte Sättigung andeutete, erinnerte sich Hubert an die lächerliche Falle vor dem Haus. In aller Ruhe stapfte er zur Pforte hinaus, griff die Tür mit den Tatzen, richtete sich zur vollen Größe von 2.5 Meter auf, lehnte sie an, drückte kräftig dagegen, was den Schuppen in seinen Grundfesten erzittern ließ, bis sie wieder im Rahmen festsaß.
Wie ein Magnet zog ihn seine empfindliche Nase nun zur Holzkiste hinüber. Ohne auch nur einen Moment zu zögern steckte Hubert den mächtigen Schädel hinein, sah das schräge Brett am Eingang, bemerkte die Mechanik aus Seilen und Zapfen und – ignorierte sie. Viel interessanter war die Schafskeule, am hinteren Ende auf dem hölzernen Boden plaziert. Nachsichtig schüttelte Hubert sein Haupt und dachte: Halten die mich eigentlich für bescheuert? Mit dieser Falle werden sie bestenfalls ein paar Eichhörnchen fangen. Aber keinen Grizzly.
   Kaum war der gigantische Körper des Bären in der Kiste verschwunden, schnappte die Falle zu. Hubert störte sich nicht daran und führte sich die Schafskeule zu Gemüte. Sie schmeckte vorzüglich. Allerdings roch er den Menschen daran, der sie hineingelegt hatte.
Aber da war noch ein anderer Geruch, chemisch, ein bißchen scharf. Es schmeckte ein wenig nach jenen dunklen Beeren, nach deren Genuß er immer so gut hatte schlafen können und deren Name ihm im Moment entfallen war. Unbeeindruckt davon beendete er sein Mahl, zerlegte die Kiste mit zwei gezielten Prankenhieben in ihre Einzelteile und stapfte von dannen.  
   Kaum lag die Farm hinter ihm, da wurden seine Schritte etwas langsamer, die dunkle Silhouette des Hochwaldes schien mehr und mehr ihre Konturen zu verlieren. Hubert gähnte herzzerreißend. Wieso um alles in der Welt war er auf einmal so müde? War denn schon Winterschlafenszeit? Er hätte sich auf der Stelle hinlegen und einschlafen können.
Was er auch sogleich tat. Ein Grizzly hatte in den Bergen von Montana nichts und niemanden zu fürchten. Mit Ausnahme der Donnerbüchsen gewisser Zweibeiner. Aber geschickt wie er war, hatte er schon so manchen in die Flucht geschlagen und dessen Flinte bis zur Unbrauchbarkeit verbogen. Jetzt aber wollte Hubert nur noch schlafen. Kurze Zeit später hörte man ein durchdringendes, abgehacktes Schnarchen, ein Röcheln zuweilen, unter einer Haselnußstaude hervordröhnen. Hubert hatte die Besinnung verloren.
   
   Die Verfolger waren ihm dicht auf den Fersen. Der Bär befand sich seit geraumer Zeit in ihrem Visier, seit sie seine Hinterlassenschaften in Form von abgenagten Schweineschinken gefunden hatten. Darüber war Farmer Lennox gar nicht  erfreut und hatte darauf gedrängt, daß der Störenfried beseitigt werde, egal wie! Diese Aufgabe oblag der örtlichen Umweltschutzorganisation, und somit deren Beauftragten in Person des Sheriffs Coleman.
Coleman wußte, daß man einem Bären nicht mit einem Narkosegewehr zu Leibe rücken durfte. Es dauerte zu lange, bis die Wirkung einsetzte, und das Tier hatte somit viel Zeit, sich dem Schützen zu ‚widmen’. Das hatte er vermeiden wollen und daher eine andere Variante der Betäubung gewählt: Wenn ein Bär etwas fraß und hinterher einschlief, brachte er den Köder nicht mit seinen Häschern in Verbindung.
   Zehn Männer näherten sich dem ‚schlafenden’ Petz, zerrten ihn unter seinem Versteck hervor und wuchteten ihn im Morgengrauen auf einen niederen Laster. Hier wurde er zunächst gründlich untersucht, vermessen, gewogen. Im Anschluß erhielt er eine Tätowierung auf der Innenseite der Oberlippe.
Danach lenkte der Fahrer das Gefährt auf direktem Wege zum Flughafen von Great Falls. Dort angelangt, wurde Hubert von vielen hilfreichen Händen in eine zur Frachtmaschine umgebaute zweimotorige Beech-Craft verfrachtet, die ihn weit weg von der Stadt bringen würde, in den Nordwesten, ins Hochgebirge, wo er wieder freigelassen werden sollte. Eine Fesselung des Tieres hielt Sheriff Coleman nicht für nötig.
„Die Betäubung hält mindestens 24 Stunden an!“ beruhigte er den skeptischen Piloten Michael. „Keine Bange! Der wacht so schnell nicht auf.“
„Na, wenn Sie meinen …“ lautete dessen wenig optimistischer Kommentar.
Was Sheriff Coleman nicht bedachte: Er hatte sich auf einen Baribal, einen Schwarzbären eingestellt, sodaß die Dosis, die er für die Betäubung gewählt hatte, ebenfalls für einen Schwarzbären bemessen war. Der aber war um mehr als zwei Drittel leichter als jener Hüne dort …
   Am Horizont wagten sich die ersten Sonnenstrahlen hervor, als die Beech zum Haltepunkt der Startbahn 21 des Flughafens von Great Falls rollte, ihre Freigabe erhielt und nach wenigen hundert Metern abhob, in den klaren Morgenhimmel von Montana. Im Fond schlief Hubert den Schlaf des Gerechten. Einen unruhigen Schlaf.
Pilot Michael drehte die Maschine nach dem Start nach rechts und flog seinem Ziel entgegen, das da hieß: Glacier Park International Airport. Von dort aus sollte der Bär in eine bergige Gegend gebracht werden. Dann konnte er, was sich alle wünschten, nach Kanada überwechseln. Zurückkommen nach Great Falls würde er nie mehr. Das hofften alle Beteiligten.
   Der Flug über Montanas hügelige Landschaft würde etwas weniger als zwei Stunden dauern, und der Pilot hatte sein Frühstück dabei. Als er Augusta quer ab passierte, griff seine Hand in die mitgebrachte Tasche, fingerte nach der Tüte mit den vier frischen belegten Brötchen und legte sie griffbereit auf den Copilotensitz. Die große Wasserflasche stellte er an die Lehne. Noch war es nicht Zeit, noch wollte er sich ein wenig gedulden, genoß das leichte Hungergefühl im Magen, freute sich auf die knusprigen Semmeln. Drei Schinken- und ein Käsebrötchen. Über Funk rief Michael noch einmal den Heimatflughafen Great Falls an, gab seine Position durch und verabschiedete sich.
 
   Von einem wahnsinnigen Brennen in seiner Kehle wurde Hubert geweckt – und von einem lauten Brummen. Aber dieses ungeduldige Brummen, das ihn für gewöhnlich zu wecken pflegte, rührte diesmal nicht von seinem Magen her. Obwohl er großen Kohldampf verspürte und es längst wieder Zeit war, eine Kleinigkeit einzuwerfen. Besagtes Brummen ertönte vielmehr von irgendwo weither. Der Bär, noch etwas benommen, richtete sich in dem beengten Frachtraum auf, so gut es eben ging, und starrte verträumt aus dem Fenster.
Durch die Gewichtsverlagerung geriet das Flugzeug, das bis an die Grenze seiner Zulässigkeit beladen war und daher mit halbgefüllten Tanks losfliegen mußte, gehörig ins Wanken. Rasch griff der Pilot ein und veränderte die Trimmung so weit, daß die Beech Craft wieder einigermaßen ruhig in der Luft lag. Als Ursache für diesen Schlenker vermutete er einen unverhofften Seitenwind, rief vorsorglich den Glacier Park Airport und ließ sich die Winddaten geben. Laut deren Informationen herrschte momentan Windstille in der Gegend …
   Noch lange rätselte der Pilot an dem Phänomen herum, besann sich schließlich, daß er jetzt eigentlich etwas essen könnte und griff nach den belegten Brötchen. Er suchte, suchte. Immer länger wurde sein Arm. Sie waren verschwunden! Ebenso die große Wasserflasche. Irritiert tasteten seine Hände unter den Sitzen nach den verschollenen Gegenständen, denn mittlerweile hatte sich handfester Hunger eingestellt. Aber so sehr er auch Ausschau hielt nach seinem Frühstück und dem Wasser, beides blieb unauffindbar. Dieser Windstoß hatte offenbar seinen Proviant durch die ganze Maschine gewirbelt und lag jetzt irgendwo im hinteren Bereich, für ihn nicht zugänglich. Michael mußte warten bis zu Landung. Der Autopilot funktionierte nicht einwandfrei, und das Verlassen seines Sitzes, wenn auch nur kurzzeitig, hätte ein nicht kalkulierbares Risiko bedeutet. Außerdem lag dort hinten dieser graue Riese. Ergo blieb der Pilot sitzen und starrte abwechselnd auf den magnetischen Kompaß und auf den leeren Sitz neben sich.  
   Im Fond saß Hubert, der Grizzly, und tat sich gütlich an dem herrlich frischen Wasser. Die Betäubung hatte einen Brand in seinem Rachen hinterlassen, den es zu löschen galt. Zudem glühte seine Oberlippe wie Feuer. Mit seiner Zunge befühlte er die Tätowierung, konnte den Grund für dieses Brennen jedoch nicht ausmachen. Er hatte die Flasche gepackt, mit den Zähnen die Kappe aufgedreht und sich den Inhalt zur Hälfte in den Schlund gestürzt. Ah, das tat gut! Wird wohl ein bißchen zu sehr gesalzen gewesen sein, dachte er, das Rauchfleisch.
Aber … wo war er eigentlich? Tief unter sich sah er Bäume vorüberziehen, Wälder, Flüsse, Berge, jede Menge Fels. Wie kam er überhaupt hierher? Ein tiefes Brummen entströmte seiner pelzigen Brust und ließ das gesamte Cockpit vibrieren, was zur Folge hatte, daß der Pilot ziemlich kritische Blicke auf die Instrumente warf. Öldruck, Tankinhalt, Drehzahl waren normal. Woher bloß rührte dieses durchdringende Brummen? Schon wieder tönte es so laut, als befänden sich die Motoren der Beech nicht an den Tragflächen sondern im Heck der Maschine. Danach wurde es wieder ruhiger. Der Pilot schaute nach vorne und murmelte mißgelaunt:
„Nichts zu trinken, nichts zu essen. Das wird ein blendender Tag.“
Er ahnte nicht, wie recht er behalten sollte.
Hubert, derweil mit den Brötchen zugange, roch an allen vieren ausgiebig und entschied, das Käsebrötchen entbehren zu können. Er nahm es und reichte es nach vorne über die Schulter des Piloten hinweg. Der erkannte in den Augenwinkeln in dem Brötchen Teile seines Frühstücks, griff zu und machte sich keinerlei Gedanken, woher es so unverhofft auftauchte. Zunächst. Bis er die Bärentatze bemerkte. Da rutschte ihm das Käsebrötchen aus der Hand und kullerte an seinen Beinen entlang, hinunter zwischen die Seitenruderpedale.
„Was ’n los? Magst wohl auch keinen Käse?“ wollte Hubert mit seiner tiefen Stimme in Erfahrung bringen.
Irritiert versuchte der Pilot Kurven, Sturzflüge, halbe Loopings zu fliegen - alles gleichzeitig, während das Steuerhorn auf der Seite des Copiloten alle Bewegungen mitmachte. Träumte er, oder hatte ihm da soeben eine Bärentatze eines seiner Brötchen rübergereicht? Er wagte es nicht, den Kopf zu wenden. Stattdessen hoffte er, der Wecker würde klingeln und ihn aus diesem Traum herausreißen.
„Fliegst noch nicht sehr lange, eh?“ brummte es von hinten eher beruhigend als gefährlich.
„Ich?“ flüsterte der Mann am Steuerhorn ungläubig und versuchte die Augen rückwärts zu richten, ohne dabei den Kopf zu drehen.
„Na, außer uns beiden ist ja niemand da.“
„Nein. Ich meine, ja, ja! Natürlich. Doch. Schon. Ich fliege schon lange. Nur diese Maschine hat so ihre Tücken …“
„Du meinst, sie spinnt ein bißchen?“
Der Pilot schwieg. Hatte er sich jetzt tatsächlich mit einem Bären unterhalten? Seinen Kopf nun doch ein wenig nach hinten gewandt, entdeckte er das Untier direkt hinter sich, sitzend, genüßlich sein Frühstück kauend und die Wasserflasche zwischen die gewaltigen Hinterfüße geklemmt.
Dichte Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, rannen ihm über Gesicht und Hals bis hinab auf den Hemdkragen, der sich dunkel färbte.
„Und? Was gibt es sonst Neues da vorne?“ brummte es schon wieder aus dem Fond.
Dieser irre Alptraum schnürte dem Piloten mit einemmal den Hals zu, seine Finger quetschten das Streuerhorn, wie man einen Schwamm auspreßt.
„Nun mal ganz ruhig. Ich bin Hubert. Wie heißt du?“
Mit diesen Worten fuhr die Bärenpranke erneut am Ohr des Piloten vorbei, von ihrer Größe her nur mit einem Kuchentablett zu vergleichen.
„M..mm..Mich..Mi..Michael. Mm..mein Nnname ist Michael!“ stieß er hervor. Die Pranke faßte er nicht an.
„Also, Michael. Ich nenne dich Mike. Okay?“
„O..oo..o..oo okay!“
„Sag mal, stotterst du?“ legte Hubert nach.
„N..nn..nneinnn. Nnormm..alaler..weise nicht.“
„Aha. Nur wenn du redest. Also, dann beruhige dich erst mal. Hier trink mal ’nen Schluck!“
Damit reichte er ihm die Trinkflasche hinüber, Mike nahm sie und schnappte einen Mundvoll, wobei er hustete, weil er sich jämmerlich verschluckte. Im selben Rhythmus machte die Maschine ein paar Bocksprünge. Hustend und prustend reichte er die Flasche zurück, Hubert trank erneut. Das Brennen in der Kehle und an der Oberlippe hatte kaum nachgelassen.
„Sag mal, Mike, was haben die mir denn für ein Teufelszeug gegeben?“ fragte er den Mann vor ihm.
„Ich weiß es nnicht genau. Ich gglaube … der Sheriff hahaats verabreicht. Sheriff Cococoleman.“
„Ah, Coleman“, erinnerte sich Hubert. „Kenn ich. Netter Kerl. Hab ihn mal in den Wäldern getroffen. Er war in einen Sumpf geraten. Hab ihm da rausgeholfen. Hat sich sogar bedankt.“
Noch immer wußte der Pilot nicht, was er von dieser Situation halten sollte. Minutenlang tat er so, als wäre alles in bester Ordnung. Um Routine bemüht rief er Glacier Park Airport.
„Glllacier P-park. Hier zwweii..dreiii fünf acht ssechs…bitte … kommen …“
Sehr routiniert klang das allerdings nicht.
„Zwei drei fünf acht sechs, hier Glacier Park. Was gibt’s?“
Ww.. wie geht’s denn so. Da u..unten?“
„Fünf acht sechs. Haben Sie etwas getrunken?“ kam es unvermittelt aus dem Lautsprecher.
„Wwer, ich? Nein, wie kkommen Sie denn ddarauf?“
„Sie klingen irgendwie …anders. Sonst alles in Ordnung?“
„Aalles bbestens. Danke. Wie ist der Wwwind?“
„Wind mit 13 Knoten aus Südwest.“
„Danke. Eeende.“
Hubert lehnte sich etwas vor.
„Ich finde“, sagte er väterlich, „du solltest dich jetzt beruhigen. Es besteht doch keine Gefahr. Oder?“
„Keine Gefahr?“ schrie der Pilot. Offenbar hatte er sich wieder in der Gewalt. „Du bist ein gefährliches Raubtier!“
Hubert wiegte sein mächtiges Haupt hin und her und überlegte.
„Mal langsam. Gefährlich? Ja. Aber ein Raubtier? Nein!“
„Natürlich. Das kannst du überall nachlesen.“ Mike zögerte kurz, um leise anzufügen: „Wenn du lesen könntest. Der Bär ist ein, nein, er ist das größte Raubtier auf dem Lande.“
„Falsch. Alles falsch. Wer behauptet denn so was? Meine Kollegen und ich, wir essen fast ausschließlich Gras, wie die Rindviecher und die Büffel. Da. Schau dir mal meine Zähne an!“
Hubert beugte sich über die Rückenlehne nach vorne, soweit es ihm die Enge des Passagierraumes gestattete, öffnete das Maul und zeigte Mike seine blütenweißen Zähne.
„Siehst du ein Raubtiergebiß?“
Der Pilot wollte aussteigen. Die Zähne eines Bären so dicht vor seiner Nase konnte er nicht ertragen. Er rüttelte an der Tür, besann sich jedoch, daß er cirka 1500 Meter über Grund flog und ließ es sein.
„A…aber die riesigen Reißzähne!“
„Wo siehst du denn Reißzähne? Was du meinst, das sind die Eckzähne. Die Reißzähne“, begann Hubert zu dozieren, als stünde er in einem Hörsaal, „um bei deiner Terminologie zu bleiben, bestehen aus dem letzten Vorbackenzahn des Oberkiefers und dem ersten Backenzahn des Unterkiefers. Das kannst du überall nachlesen, wenn du lesen kannst.“
Nach dieser Retourkutsche räusperte er sich. „Und bei Raubtieren, wie dem Löwen oder dem Hund, sind diese Zähne gestaltet wie eine… eine… Brechschere, weil sie sich genau gegenüberstehen. Damit reißen sie ihre Beute auf oder brechen die Knochen, wie das die Hyänen so vortrefflich tun.“ Hubert öffnete sein Maul noch weiter: „Weine Wackenthähne thind alle phlach. Thiehst dhu? Phlach! Hu hannst sie anphassen.“
Alles wollte der Pilot, nur das nicht. Einem Bären in den Rachen zu greifen, gehörte nicht zu seinem bevorzugten Repertoire. Er warf nur einen flüchtigen Blick über seine Schulter, dann tat er so, als würde er sich wieder auf den Flug konzentrieren. In Wahrheit suchte er einen Ausweg aus dieser vertrackten Situation. Oberkieferbackenzähne, was? Unterkiefer… geisterte es in seinem Kopf umher.
„Es gibt allerdings Raubtiere“, fuhr Hubert fort, „die besitzen ähnlich flache Zähne, sind aber wesentlich gefährlicher als der wildeste Bär.“
„Gefährlicher als ein Bär?“ fragte Michael irritiert. „Raubtiere? Kenn ich nicht.“
„Na dann schau mal in den Spiegel“, flüsterte Hubert heiser.
Es folgte eine längere Pause, während der Pilot über Huberts Worte nachdachte.
„Wenn ich lesen könnte?“ nahm Hubert den zuvor geäußerten Gedanken des Piloten wieder auf. „Kann ich. Habe ich in der Bibliothek von Great Falls gelernt. Zuweilen besorge ich mir auch Lektüre aus den Zeitungskiosken der Stadt. Aber da steht meist nur Schund drin. In der Bibliothek finde ich, was ich brauche.“
„In der … Bibliothek?“ fragte Mike argwöhnisch.
„Genau. Für mich ne Kleinigkeit, dort einzudringen. Da habe ich den Aristoteles gelesen. War ’n kluger Mann, was der alles wußte. Hätte nur bei seiner Erziehung dieses Mazedoniers ’n bißchen energischer sein sollen.“
Michael hatte von Einbrüchen in der Städtischen Bücherei und gewissen Kiosken gelesen, bei denen niemals etwas gestohlen worden war. Noch nicht einmal etwas verwüstet.
„Du bist tatsächlich in die Bibliothek eingedrungen, nur um zu lesen?“
„Genau!“
„Oft?“
„Jahrelang.“
„Und hat dich niemals jemand dabei beobachtet - oder gestört?“
„Kaum. Einmal hat sich ein Einbrecher verirrt. Ich habe ihn ignoriert, weil ich gerade in einen Kamasutra-Band vertieft war. Um mich nicht zu stören, hat er sich, als er meiner ansichtig wurde, aus dem Fenster gestürzt – aus dem geschlossenen. War wohl seine Form der Begeisterung ...“
Da hätte ich mich wahrscheinlich auch aus dem Fenster gestürzt, dachte Mike, und warf einen Blick nach hinten. Allmählich begann er jedoch, die Furcht vor dem Untier zu verlieren, empfand die Unterhaltung sogar beinahe als erfrischend.
„Welchen Mazedonier meinst du, Hubert?“
„Alexander. Den Schlächter“, brummte Hubert mißgelaunt. „Der hätte sich an Teddy Roosevelt ein Beispiel nehmen sollen, der 1902 bei einer Jagd in Louisiana einen meiner Verwandten verschont hat. War ne nette Geste. Der hatte vor uns Tieren mehr Respekt als Alexander vor euch Menschen. Ihr schieß mir oft ein bißchen zu schnell. Manchmal wißt ihr  noch nicht einmal, auf was ihr da gerade schießt ...“
Mike kannte die Geschichte mit Roosevelt. Und er mußte diesem Grizzly recht geben. Obwohl von imposanter Statur, besaß er jede Menge pazifistische Züge.
„Wo fliegen wir hin, Mike?“ fragte Hubert teilnahmslos, indem er das letzte Brötchen verschlang.
„Zum Glacier Park Airport. Von dort aus sollst du …“
„Soll ich was?“
Einen Moment schwieg Mike betreten.
„Von dort aus bringen sie dich nach Kanada, glaub ich.“
„Mir gleich. Ich wandere viel umher. Ich komme wieder. Warum haben sie mich überhaupt weggebracht?“ wollte Hubert wissen.
Michael dachte lange nach.
„Ich denke, weil du zu gefährlich bist.“
Gefährlich, dachte der Bär. Die spinnen, die Amis.
„Keiner meiner Kollegen ist gefährlich“, fuhr Hubert fort, „wenn man uns zufrieden läßt. Wenn man uns allerdings beim Essen stört, dann werden wir schon mal ungemütlich. Würdest du auch, wenn man dir die Pommes frites vor der Nase wegzerrt.“
Der Pilot, der die Gründe der Umsiedlung kannte, hakte nach.
„Immerhin hast du dem Lennox den Schuppen ausgeräumt. Was soll denn der jetzt im Winter essen?“
„Er soll sich hinlegen und schlafen. Wie wir das machen. Da braucht er gar nichts zu essen.“
„Die Menschen können das nicht. Im kalten Winter müssen wir sogar noch mehr essen als während der warmen Jahreszeiten.“
„Wir“, brummte Hubert mißmutig, „leben seit Jahrtausenden in dieser Gegend, haben uns immer von dem ernährt, was wir hier gefunden haben. Und so machen wir es auch heute. Ich habe den Schuppen entdeckt und versucht ihn leerzuessen.“
„Aber das Fleisch gehört dir nicht!“ führte Mike ins Feld. „Es gehört Lennox.“
„Es hing kein Schild dran.“ Hubert machte eine Pause. „Auf unserem Grund und Boden stand auch kein Schild, als ihr ihn uns weggenommen habt. Eh? Haben wir euch deshalb gefangen und forttransportiert?“ Hubert brachte seinen Kopf ganz nahe an Mikes Ohr: „Oder erschossen und abgehäutet?“
Michael schluckte schwer. Irgendwie hatte der Grizzly nicht Unrecht.
„Aber … wir sind Menschen, ihr seid nur …Tiere“, wagte er einen letzten Versuch, die Verhältnisse geradezurücken.
„So, wir sind nur Tiere“, überlegte der Bär. Nur Tiere, dachte er traurig. „Auf jeden Fall sind wir besser in der Lage zu überleben als ihr. Ohne eure Technik wärt ihr verloren. Allesamt!“
„Diese Technik mußte erst einmal erfunden werden“, widersprach der Pilot zaghaft, „und man muß sie bedienen können. Dazu bedarf es einer hohen Intelligenz“, schloß er ab.
   Es folgten wieder einige Minuten des Schweigens. Der Grizzly schaute in die Ferne, sah die mächtigen schneebedeckten Dreitausender und dachte an Kanada. Dort hatte er einst eine kuschelige Bärendame getroffen, von der er noch heute schwärmte. Sie hieß Biggie. Ein Rasseweib. Kanada… Er seufzte tief.
„Meinst du, das könnte ich auch?“ fragte der Bär unvermittelt.
„Was?“ wollte der Pilot wissen.
„Na, das da. An dem Rad da drehen“, dabei deutete er mit der Pranke in Richtung Steuerhorn.
„Auf keinen Fall!“ rief Mike entrüstet. Aber als Hubert sich interessiert nach vorne lehnte, fügte er rasch hinzu: „Selbstverständlich, leicht! Das kann jeder.“
Schon war der Grizzly dabei, den rechten Vordersitz aus den Halterungen zu heben und seine gigantische Figur mit dem Hinterteil voran nach vorne zu wuchten; keine leichte Aufgabe in diesem engen Flugzeug. Aber Hubert schaffte es. Den Bauch direkt vor seinem Steuerhorn, preßte er den Piloten Mike neben sich derart zusammen, daß jenem zeitweilig das Atmen verging. Schon griff Hubert beherzt ans Steuer. Es war allerhöchste Zeit, denn durch die Gewichtsverlagerung drohte die Beech nach rechts abzukippen.
Der Grizzly begann mit einer leichten horizontalen Kurve, Mike wurde blaß.
„Das Seitenruder!“ keuchte er. „Du mußt das Seitenruder treten, sonst fliegt sie nicht sauber.“
Treten wir das Seitenruder, dachte sich Hubert und tatsächlich: Wie an einem unsichtbaren Seil hängend zog die Beech eine geschwungene Linie am blauen Himmel über Montana. Der selbsternannte Copilot war begeistert.
„Ist ja gar nicht so schwer“, sagte er und warf einen fachmännischen Blick auf die Instrumente. „Und jetzt - den Looping!“
Um Geschwindigkeit aufzunehmen trat Hubert einen Sturzflug an, die verzweifelten Bemühungen von Mike, sich des Kommandos wieder zu bemächtigen, ignorierend.
„Keinen …Looping“, hauchte der nur. „Um Himmels Willen, k..einen Looooo ...“
Aber Hubert war schon mittendrin. Er beendete die rasante Talfahrt, zog das Steuer gefühlvoll zu sich heran, und das Flugzeug stieg hurtig in die Höhe, legte sich auf den Rücken, und die beiden Insassen sahen die Welt verkehrt herum.
„Schau dir das an, Mike“, begann Hubert, die grenzenlose Freiheit der Luftfahrt genießend, „die Erde steht Kopf!“
Das verlorengegangene Käsebrötchen war unverhofft wieder aufgetaucht und landete unter Mikes Kinn, wo es sich verkeilte. An essen konnte der jedoch momentan nicht denken. Michael hatte die Besinnung verloren, klemmte wie tot neben Hubert, sein Geist hatte sich verabschiedet. Schuld daran war nicht nur die Enge im Cockpit gewesen, die ihm die Luft zum atmen raubte, sondern vor allem die ungewohnte Kopfnachuntenposition. Ergo brachte der Grizzly die Beech Craft wieder in die Normallage, Richtung Nordwest.
„Du verträgst aber auch gar nichts“, flüsterte der Bär enttäuscht. „Hat dir gerade viel genützt, deine hohe Intelligenz.“
Mitleidvoll erkannte Hubert die Ohnmacht seines Nebenmannes, auf dessen Schoß sich das Käsebrötchen zur Ruhe gebettet hatte.
 
   Bald schon zeigte sich auf der linken Seite der Flathead Lake, es wurde allmählich Zeit. Hubert nahm das Mikro, drückte die Taste und brummte im tiefsten Baß:
„Hallo, Glacier Park Airport. Zwei drei fünf acht sechs. Kommen!“
„Fünf acht sechs. Glacier Airport.“
„Glacier Airport. Erbitte Landeanweisung.“
„Fünf, acht, sechs. Geht es Ihnen wieder besser?“
„Es geht mir ausgezeichnet.“
Kurze Pause.
„Fünf, acht, sechs. Landebahn 20 ist in Betrieb, melden Sie Gegenanflug. Wir haben mäßigen Wind von vorne.“
Der belesene Bär drückte zweimal die Taste, was soviel bedeutete wie: Die Nachricht ist angekommen. Danach knackte es zweimal im Lautsprecher, auch der Mann im Tower hatte verstanden.
Nichts verstanden hatte Mike, dessen Ohnmacht dürfte sich noch vertieft haben. Nur ab und an zuckten seine Hände in Richtung Steuer. Hubert bemerkte es und versuchte, seine Leibesfülle ein wenig zu reduzieren, indem er seine Lungen nur sehr spärlich mit Atemluft füllte. Auf diese Weise ließ der seitliche Druck auf den Piloten etwas nach.
Der Grizzly bereitete die Landung vor, sank auf die vorgeschriebene Flughöhe, meldete sich, als die Landebahn 20 neben ihm zu sehen war. Eben startete eine Boing, scharf zeichnete sie ihren Schatten auf den Untergrund.
„Fünf, acht sechs. Verlängern Sie den Gegenanflug um eine Meile.“
Die schwere Boing zerrte über der Startbahn ganz schön an den Luftschichten. Zweimal knackte das Mikro, Hubert verlängerte. Sehnsuchtsvoll blickte er nach Norden, nach Kanada, und seufzte erneut. Mike schlief und begann zu schnarchen.
„Fünf, acht, sechs. Frei zur Landung. Wind sieben Knoten, von vorn.“
„Wind von vorne, sieben Knoten“, wiederholte die tiefe Stimme aus dem Cockpit der Beech.
Hubert nahm die Mittellinie der Landebahn aufs Korn, schwebte sanft an, drosselte die Motorleistung, vor der Schwelle nahm er Gas weg und setzte die Beach ein wenig hart auf den grauen Asphalt, das Bugrad etwa 4 Meter links der Mittellinie. Nach wenigen hundert Metern, als die Maschine sich nur noch im Schrittempo bewegte, lenkte er sie abrupt von der Bahn, quer über ein holpriges Rasenstück, auf den Rollweg. Davon erwachte Mike.
„Wo …warum ... wann“, stammelte er etwas konfus.
„Ganz locker“, entgegnete Hubert. „Wir haben sie ja runtergebracht.“
Mike war sprachlos. Das Flugzeug rollte und rollte, und während sie sich dem Terminal näherten, wurde Hubert die versammelte Mannschaft gewahr, die auf ihn zu warten schien. Mehrere Männer standen dort um einen Kleinlaster mit heruntergelassener Heckklappe herum.
Die wollen mich abholen, sinnierte der Bär, gab etwas Gas und rollte gemächlich an der wartenden Gruppe vorüber, die linke Tatze elegant zum Gruß erhoben. In cirka 200 Metern Entfernung stoppte er die Beech, indem er beide Bremspedale trat. Mit der Rechten öffnete er die Tür, zwängte sich unter Mühen hinaus ins Freie und blieb eine Weile witternd auf allen Vieren stehen. Der Pilot war unschlüssig, entdeckte das Käsebrötchen auf seinem Schoß, nahm es, und biß teilnahmslos hinein. Dann stoppte er die Motoren.
Das Empfangskommitte rührte sich nicht. Als Hubert sich jedoch auf die Hinterbeine stellte, ein bärenmäßiges Brüllen ausstieß und dabei freundlich mit beiden Tatzen winkte, stieben sie in alle Himmelsrichtungen auseinander. Zwei von ihnen versuchten vergeblich, sich kopfüber in ein und derselben halbvollen Mülltonne zu verstecken, so daß nur noch ihre Beine hervor lugten.
   Mit einemmal strömte ein verführerischer Duft in die empfindsame Nase des Bären, Ausgangspunkt war die Flughafenkantine. Weil nun Hubert noch immer über alle Maßen durstig war und auch sein Magen wieder Nachschub forderte, reduzierte er seine stattlichen 2,50 Meter wieder auf das Normalmaß und trottete auf allen Vieren schnurstracks den Wohlgerüchen entgegen, dicht gefolgt vom käsebrötchenkauenden Mike, der alles stehen und liegen gelassen hatte. Was hatte der Bär im Sinn?
Es war erstaunlich: Aber sobald sich Hubert irgendwo blicken ließ, entvölkerte sich sofort die Umgebung. Niemand stellte sich ihm in den Weg, Türen hatten ohnehin keine Bedeutung für ihn. So gelangten die beiden ungehindert in die Kantine, die sich längst geleert hatte. 
„Gibt’s hier Faßbier?“ rief Hubert euphorisch und klopfte sich auf den Bauch.  
„Mit Sicherheit!“ konstatierte der Pilot.  
Schon stand Hubert aufrecht hinter dem Tresen und zapfte zwei Maß. Gestrichen voll. Eine schob er zu Mike hinüber, die andere hielt er an seine grauen Lippen und trank sie in einem Zug leer. Der anschließende Rülpser erinnerte an ein bösartiges Herbstgewitter. Mike nippte erst an seinem Gefäß, setzte es dann ebenfalls an und trank es bis zur Hälfte aus; seinem Schlund entwich ein etwas bescheidener Ton. Hubert schenkte sich noch einige Krüge ein, danach noch ein paar; er hatte einen Bärendurst.
Kurz darauf hielt er ein riesiges Tablett mit belegten Schnittchen in den Tatzen und begann sie systematisch aufzuessen, was keine zwei Minuten dauerte.
„Wenn sie sich irgendwann mal wieder einfinden“, brummte der Bär im Anschluß mit einem eleganten Augenaufschlag, „dann sag diesen verhinderten Fängern da draußen, sie sollen sich nicht grämen.“
Mit einem Blick aus dem Fenster suchte er das nähere Umfeld ab, vom Empfangskommitte aber war weit und breit nichts zu sehen, nur der Kleinlaster stand noch dort. Auch die beiden ‚Mülltonnenflüchtlinge’ waren verschwunden. Danach wanderten Huberts Augen die Berghänge hinan, er dachte an die reizende Bärendame Biggie, die er vor Jahren ein Stück weiter im Norden kennen- und lieben gelernt hatte. Und Sehnsucht übermannte den Bärenmann. Auch der Pilot blickte durch die großen Scheiben nach draußen, sah die Beech verlassen und mit geöffneten Türen auf dem Vorfeld stehen und wollte sich erheben, um die Maschine ordnungsgemäß zu parken.
„Laß nur“, brummte Hubert nachdenklich, „das … mach ich.“
Den fragenden Gesichtsausdruck von Michael beantwortete der Bär sogleich.
„Hab ich alles aus Büchern. Ex libris.“
Und schon war er auf dem Weg. Dem Piloten war irgendwie alles gleichgültig. Was er heute erlebt hatte, würde ihm kein Mensch glauben. Durchs Fenster beobachtete er den riesigen Bären, wie er gerade vor dem Flughafengebäude auftauchte und die Richtung zur Beech einschlug. Sein ohnehin schwankender Gang war noch ein wenig schwankender geworden. 18 Liter Bier hatte der Pilot gezählt, die Hubert getrunken hatte. Ein halbes Faß.
An dem abseits geparkten Kleinlaster stoppte dieser unvermittelt und pinkelte - im Stehen - geschlagene drei Minuten auf die Ladefläche.
Bei der Beech angelangt, kletterte der Bär unverzüglich ins enge Cockpit und startete die Motoren. Die Tanks waren noch gut zu einem Viertel gefüllt.
„Glacier Park Airport. Zwei drei .. Hubs!…fünf acht sechs bittet um Startanweisungen“, brummte es dem Mann im Tower entgegen.
„Fünf acht sechs, rollen Sie zur Startposition 20, melden Sie: Abflugbereit!“ kam es routiniert zurück.
Es gab kein Gesetz in den USA, welches einem Bären das Fliegen verboten hätte.
Schon setzte sich die Beech in Bewegung und hielt beinahe vorschriftsmäßig an der weißen Linie, die die Rollbahn von der Startbahn trennte. Hubert überfuhr sie lediglich um fünf lächerliche Meter...
„Fünf acht sechs ist … startbereit.“
„Fünf acht sechs, Sie haben Wind mit 10 Knoten auf der Nase. Wünsche einen guten Flug.“
Ein mehrmaliges Knacken im Mikro bestätigte, daß fünf acht sechs verstanden hatte, die Beech beschleunigte zügig.
   Als der Bär sachte das Steuerhorn anzog, die Maschine sich in die Lüfte erhob, warf er noch einen kurzen Blick in Richtung Kantine, wo Mike bei seinem Bier saß und die ganze Geschichte beobachtete. Der wollte heute nicht mehr aufstehen. Mit Alkohol bin ich noch nie am Steuerhorn gesessen, dachte Mike. Noch nie.
Hubert verabschiedete sich vom Tower und schlug die nördliche Flugroute ein. Ich soll nach Kanada, dachte Hubert. Also gehe ich nach Kanada. Vielleicht verbringe ich den Winter mit Biggie.
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.12.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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