Doreen Kniewel

Komm tanzen, Marie

Es ist fast dunkel im Zimmer der achtjährigen Marie. Nur die Nachttischlampe mit den aufgemalten Schmetterlingen spendet ein gedämpftes Licht. Marie, streift sich eben ihr Nachthemd über den Kopf. Bis zu den Knien fällt ihr der rosafarbende weiche Stoff. Dann greift sie mit beiden Händen nach hinten in den Nacken, um ihre langen braunen Locken aus dem Kragen hervorzuziehen. Doch mitten in der Bewegung hält sie inne und lauscht den Stimmen ihrer Eltern, die zu ihr heraufdringen. Erst leise zischend, dann herausfordernd lauter werdend, später aufgebracht und wütend. Türen werden zugeschlagen und eine angespannte Stille senkt sich, wie die dunkle Nacht über Maries Elternhaus. Marie zieht jetzt ihre Haare aus dem Kragen heraus. Weit über den Rücken wirbeln sie und hüllen das Mädchen in braune Seide.
Unten, haben ihre Eltern wieder leise zu streiten begonnen. Fast jeden Abend streiten sie. Denken, Marie würde sie nicht hören. Und doch Marie hört alles mit an. Jedes Wort, jede Schmach, jede Beleidigung. Heute ist es besonders schlimm. Noch nicht einmal Kuno ihr Teddybär kann sie trösten. „Sie sollen endlich aufhören!“, flüstert sie ihm zu. „Mach, dass sie aufhören! Bitte!“ Doch vielleicht kann Kuno ihre tränenerstickten Worte nicht verstehen, denn die Echos in ihrem Kopf versiegen nicht.
Marie kauert sich in der hintersten Ecke ihres Bettes zusammen. Ihre Knie hält sie fest umschlungen und Kuno dicht an ihren schmalen Körper gedrückt.
Dunkelblau, wartet die Nacht draußen vor ihrem Fenster. Blau, weil der Mond heute scheint. Marie schaut hoch zu der fast vollen Scheibe. Einsam und kalt, so wie Marie sich fühlt, schaut auch der Mond zu ihr herab.
„… dann geh doch endlich! Geh!“ dringt die schrille Stimme der Mutter laut zu dem Mädchen durch. Kurz darauf fällt die Haustür laut knallend ins Schloss. Der Motor eines Autos dröhnt auf und Maries Zimmerwände werden in das grelle Licht der Scheinwerfer getaucht. Die bunten, zarten Elfen daran schauen still schweigend zu ihr hinab. Nur kurz sind sie zu sehen, als würden sie, nur für einen Augenblick, innehalten in ihrem nächtlichen Reigen. Dann ist es wieder dunkel. Mit dem Licht ist auch jegliche Wärme verschwunden… und ihr Vater. Plötzlich werden ihre Wangen von etwas Warmen bedeckt. Marie berührt die Stelle mit ihrem Finger. Glänzend nass ist er. Sie muss auch nicht erst daran lecken, um zu wissen das die Nässe salzig sein wird. Tränen!
Ihr Vater ist fort. Einfach so. Noch nicht einmal „Auf Wiedersehen“ hat er ihr gesagt. Marie schlägt ihre warme Decke zurück. Vorsichtig krabbelt sie aus dem Bett. Sie klettert mit Kuno im Arm auf den Schreibtisch, der direkt vor ihrem Fenster steht. Lehnt sich an die kühle Wand und schaut nachdenklich, dem Mond bei seiner nächtlichen Wanderung zu. Sie will, dass alles so wird wie früher. Wie es einmal war.
Die abendlichen Worte der Eltern flimmern in Marie auf: „Scheidung, Trennung, Marie, was wird aus Marie.“ In ihrem Kopf dröhnen die Worte, alles um sie herum dreht sich. Sie schlägt die Hände vor ihrem Gesicht zusammen und noch mehr Tränen finden den Weg durch ihre Finger hindurch.
„Es ist meine Schuld! Wenn ich nicht wäre, bräuchten sie nicht zu streiten!“ Marie schaut auf. Nur eine einzelne Träne noch, läuft über ihr hübsches Gesicht. Gleich der Sternenschnuppe, die draußen vorm Fenster eben vom Himmel rutscht.
Sie sieht ihr nach, bis das Glühen in der kalten Nacht erlischt. „Ich wünsche mir, dass meine Eltern sich wieder lieb haben.“, flüstert sie Kuno und dem Mond zu. „Aber,“ sie legt einen Finger sacht auf ihren Mund, „nicht verraten, sonst erfüllen sich die Wünsche nicht.“
Energisch wischt Marie die Träne fort und klemmt sich eine dunkle Locke zurück hinter das Ohr, die ihr ins Gesicht gefallen war. Und so wartet sie auf die Dinge, die nun geschehen sollten. Doch alles bleibt dunkel und still. Kein Auto ist zu sehen. Kein Schlüssel wird im Türschloss herumgedreht.
Der Mond versinkt sich hinter einer grauen Wolke. Marie und Kuno bleiben allein auf der Fensterbank zurück. Langsam versiegen auch die Lichter in den Fenstern der Nachbarn und eine einsame Stille durchfließt die Straße. Ein leises Frösteln überläuft Marie und das Mädchen seufzt auf. Heute würde nichts mehr geschehen. Heute nicht, aber Morgen bestimmt. Morgen würde sich ihr Wunsch sicher erfüllen. Dann würde ihr Vater wieder hier sein, sie in die Arme schließen und herumwirbeln, wie er es sonst immer getan hatte. Dann würden sie endlich aufhören, zu streiten. Marie rutscht eben von dem harten Fensterbrett, als ihr ein leises Flackern in dem Rosenbeet ihrer Mutter auffällt. Kuno fest in ihrem Arm, rückt sie ganz nah an die Scheibe heran. Da ist es wieder. Doch kurz darauf ist es erneut verschwunden. Marie wartet mit angehaltenem Atem. Da! Was ist das? Noch eines. Es flackert leicht, als müsste sich das Lichtlein noch entscheiden, ob es überhaupt bleiben wolle. Noch eines. Und noch eines. Immer mehr kleine Sterne tanzten um die Rosenbüsche im Garten. Marie steht auf. Bleich und schön, wie aus einer anderen Welt, spiegelt sich das Mädchen in dem dunklen Glas. Doch Marie hat nur Augen für die kleinen Lichter da draußen. „Hörst du? Sie rufen nach mir.“, flüstert sie Kuno zu, der noch immer mit seinem Kopf nach unten baumelnd in ihren Händen hängt und seinem Spiegelbild dabei traurig zuschaut. Marie ist sich sicher. Es ist ihr Wunsch. Nun wird er sich erfüllen. Sie muss nur noch zu den tanzenden Feen gehen. Leise, nimmt das Mädchen ihre rosafarbende Strickjacke mit dem Zopfmuster vom Stuhl und legt sie sich über die Schultern. Sie öffnet vorsichtig das Fenster. Es knarrt etwas und Marie hält den Atem an. Doch alles bleibt still. Die Lichterfeen tanzen weiter auf dem Rasen und zwischen den Rosen ihrer Mutter. Sie sind wunderschön. F&u! uml;r ei nen Moment vergisst Marie alles um sich herum. Vergisst sogar, dass ihr Vater nicht mehr da ist.
„Wartet auf mich!“, flüstert sie den Feen zu. „Ich komme zu euch!“ Sie war schon einmal hinausgeklettert. Direkt an der Holzverkleidung der Fassade hinunter. Aber zuerst muss sie Kuno hinunterwerfen, sonst kann sie sich nicht gut genug festhalten. Hoffentlich verscheucht sie die Feen nicht. Dumpf schlägt Kuno auf dem Boden auf. Für einen Augenblick weichen die Lichtlein zurück und Marie spürt, ihr Herz stolpern. Doch Sekunden später sind sie wieder da und schwirren weiter durch die Nacht. Erleichtert lässt Marie sich an dem Fensterbrett herab. Mit ihren nackten Zehen sucht sie Halt in einer der Ritzen zwischen den Holzpaneelen. Gleich hat sie es geschafft. Nur noch ein kurzer Sprung. Sie lässt los und landet im feuchten Gras. Hockend, lauscht sie und schaut nach oben zu den anderen Fenstern. Nichts tut sich. Jetzt erst wirbelt Marie zu den Lichtern herum. Zum Greifen nahe sind sie. Weichen zurück. Kommen wieder. Weichen noch einmal zurück. Es ist ein Spiel, begreift Marie. Sie muss ihnen folgen. Kuno hebt sie auf und pflückt einzelne Grashalme aus seinem Kunstfell. Ihre nackten Füße werden kalt und das nasse Gras bleibt an ihnen kleben. Doch Marie spürt die Kälte nicht. Sie folgt den Feen durch den Garten. Das Nachthemd bleibt an einem der Rosenbüsche hängen. Ungeduldig, reißt sie es von den Dornen ab. Sie darf die Lichter nicht verlieren. Sonst bliebe sie allein zurück und ihr Wunsch würde sich nicht erfüllen. Wohin die Reise geht, weiß Marie nicht. Auch Angst hat sie keine. Die Feen sind ja bei ihr. Weiter und immer weiter läuft sie. Durch das Gartentürchen hinaus. Marie macht sie nicht die Mühe, es wieder zu schließen. Dafür bleibt keine Zeit. Sie sieht nur die schwebenden Lichtlein. Weiter und immer weiter, in den nahegelegenen Wald führen sie Marie. Sie merkt nicht, wie die Nacht verfliegt. Hört nicht, den Fuchs in ihrer Näh! e bellen . Marie hat nur Augen für die wunderschönen tanzenden Feen. Sieht, ihre zarten, im Mondlicht schimmernden, Flügel, die kleinen Körper, das seidene Haar und am liebsten wäre sie auch eine von ihnen. Der Wald lichtet sich und die Nacht weicht dem Morgen, der sich mit einer feuerroten Maserung am dunkelblauen Himmel ankündigt. Enten schnattern, ein Reiher rauscht mit heftigem Flügelschlag über ihren Kopf hinweg. Sie hat den Weiher erreicht. Hier war sie schon oft gewesen, doch niemals allein. Ihre Eltern haben Angst, sie würde hineinfallen und ertrinken. Denn schwimmen, kann Marie nicht wirklich gut. Sie betritt den Steg und die tanzenden Feen verglühen in dem Licht der aufgehenden Sonne. Suchend, läuft das Mädchen eilig bis an das Ende des Steges. Wo sind sie hin?
Die Füße des Mädchens sind schmutzig. Der Nachthemdsaum nass. Auf ihrer rosafarbenden Strickjacke glitzern Tautropfen, gläsernen Perlen gleich. Unsicher schaut Marie in das dunkle Wasser hinab. Zarte Wellen säuseln unter ihr und bersten leise schmatzend im Schilf am Ufer. Marie setzt sich hin, umschließt ihre Beine mit den Armen. Dicht an ihrem Bauch kuschelt Kuno. Was macht sie hier? Was hat das alles mit ihrem Wunsch zu tun? Plötzlich versteht Marie. Das Wasser! Sie tanzen im Wasser! Und dabei kommt es ihr nicht in den Sinn, dass es nur die Sonnenstrahlen sind, die sich in den seichten Wellen brechen.
Sie hört die Hunde bellen. Sie suchen bereits nach ihr. Marie muss sich nun entscheiden, wenn sie die Liebe ihrer Eltern retten will. Sie steht auf und ohne noch ein einziges Mal zu zögern, springt sie in das kalte dunkle Wasser. Sie strampelt nicht. Versucht nicht, nach oben an die Luft zu kommen. Sieht das Licht schwinden und spürt den schlammigen Morast zwischen ihren Zehen. Er greift nach ihr. Hält sie fest und Marie, wehrt sich nicht. Noch einmal, stößt sie die Luft aus ihren schmerzenden Lungen. Ein letztes Mal, nimmt sie einen tiefen Atemzug. Füllt ihre berstenden Lungen mit dem kalten schweren Gewässer. Dann ist alles schwarz. Kuno entgleitet ihren klammen Fingern. Plötzlich sind die Lichterfeen wieder da. Sie kommen näher. Nur noch ein Stück und Marie kann sie mit ihren Fingern berühren. Dann wird sie mit ihnen tanzen, bis an das Ende der Zeit. Marie lächelt.
Marie lächelt noch immer, als sie sie aus dem Wasser ziehen. Der Vater hält weinend ihre Hand, während die Mutter ihr zärtlich über die nassen Haare streicht. Irgendwer, pumpt Luft in ihre Lungen und massiert ihr das Herz. Warum nur tun sie das? Können sie denn nicht verstehen, dass sie gehen muss? Ihr Wunsch soll sich doch erfüllen! Marie schlägt die Augen auf. Sie sieht ihre Mutter, dicht neben ihrem Vater knien. Beide halten sich fest umarmt. Gemeinsam, schließen sie Marie in ihre Arme. Zusammen, halten sie ihr Kind noch einmal so, wie sie es früher immer getan haben. Maries Wunsch hat sich erfüllt. Endlich kann sie mit den Feen tanzen gehen. Sie tanzt und lacht und wird selbst zu einem der kleinen Lichter, zwischen den blühenden Rosen ihrer Mutter.
 
01.12.2014
D.Kniewel
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Doreen Kniewel).
Der Beitrag wurde von Doreen Kniewel auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Doreen Kniewel als Lieblingsautorin markieren

Buch von Doreen Kniewel:

cover

Gegen meine Willen von Doreen Kniewel



Gemma und Patrice - zwei Freundinnen, die sich in einem kleinen Detail unterscheiden:
Die eine liebt Bücher -
die andere kann damit nichts anfangen.
Erst als ein außergewöhliches Buch in besonderer Weise Macht über die beiden erlangt, findet auch Patrice sich plötzlich in einer Welt zwischen Traum und Realität wieder.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Doreen Kniewel

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Zerbrochen von Doreen Kniewel (Wie das Leben so spielt)
Pilgerweg...letzte Episode von Rüdiger Nazar (Sonstige)
Brennende Tränen - Teil II von Sandra Lenz (Liebesgeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen