Hans K. Reiter

Stille Nacht

 

Im Jahre 1843 erblickte Luise, genannt Luiserl, Partenninger das Licht der Welt. Die Mutter, eine rechtschaffende junge Frau aus Straubing, der Vater, so konnte man später in den Geburtenregistern des Erzbischöflichen Ordinariats in München nachlesen, kam aus dem Montafon in Österreich. Der Herkunftsort war allerdings nicht zu entziffern, wie natürlich überhaupt das Lesen des Registers Kenntnis der Deutschen Schrift voraussetzte. Fein säuberlich war seinerzeit alles mit Tinte in den gebräuchlichen steilen deutschen Buchstaben auf die amtlichen Blätter geschrieben worden. Bis auf den Ort eben, der war vergilbt, verwischt oder sonst etwas – jedenfalls war und blieb er unleserlich.

Niemand konnte deshalb genaueres über Luiserls Vater herausfinden. Nur so viel war bekannt, dass sich dieser Hallodri schon sehr bald nach Luiserls Geburt aus dem Staub gemacht hatte und die arme Mutter allein zurück ließ. Über Nacht war er verschwunden, wie es hieß. Luiserls Mutter wiederum war mit ihrem Kind bei einem Bauern einquartiert, dessen Ehefrau eigenartigerweise kurz nach Luiserls Geburt ebenfalls über Nacht verschwunden sein soll. Soweit man die Geschichte überhaupt noch kannte, soll es sich zugetragen haben, dass die Ehefrau etwas mit dem Montafoner gehabt hatte und der Bauer mit der Mutter vom Luiserl.

Bekannt wurden diese Zusammenhänge eigentlich nur deshalb, weil sich in einer niederbayerischen Gemeinde vor einigen Jahren in der heiligen Weihnachtsnacht beinahe ein Drama abgespielt hätte, wenn nicht …, ja, wenn nicht eine gewisse Walburga Niedermeier zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen wäre.

Was war geschehen? Am Morgen des 24. Dezembers wies nichts auf die unheilvollen Ereignisse des Abends hin. Es herrschte die übliche aufgeregte Betriebsamkeit. Alle brauchten noch dieses oder jenes und die örtlichen Geschäfte machten noch einen guten Umsatz. Mittags war dann bei den meisten Schluss. Nur der Supermarkt hatte bis 4 Uhr am Nachmittag geöffnet. Dann eilten auch diese Leute schnell nach Hause. Und eine Tankstelle am Ort war noch bis 20:00 Uhr in Betrieb.

Es hatte wieder zu schneien begonnen. Seit Tagen schon gab es Schnee. Viel Schnee, zur Freude der Kinder. Weniger Spass empfanden die Räumdienste der örtlichen Straßenmeisterei. Niemand arbeitet gerne am Heiligen Abend. Und es spielte dabei keine Rolle, ob einer katholisch, evangelisch oder sonst einer Glaubensgemeinschaft angehörte. Sogar die aus der Kirche Ausgetretenen, die Atheisten, Materialisten und sonstige Gottesleugner freuten sich auf das Weihnachtsfest. Und am Heiligen Abend zur Christmette waren die Kirchen immer zum Bersten voll. Da trafen sich dann alle und verdrückten ein paar Tränen, wenn das grosse Vom Himmel hoch… und später dann Stille Nacht … angestimmt wurden.

Aber soweit war es noch nicht. Gegen 19:00 Uhr nahm ein Lieferwagen die Zufahrt zur Tankstelle. Eine straff verzurrte Plane verhinderte jede Sicht auf das Ladegut. Aber es interessierte sich ohnehin niemand dafür. Neben dem Fahrer waren zwei schemenhafte Gestalten auszumachen, wie der Tankwart feststellte. Der Fahrer betankte das Fahrzeug und schritt auf das Tankstellengebäude zu. Die automatische Türe öffnete sich und der Mann betrat den Verkaufsraum. Der Tankwart, kurz abgelenkt, sah nicht, wie die beiden Beifahrer nunmehr ebenfalls das Fahrzeug verließen und sofort in der Dunkelheit der unbeleuchteten Flächen verschwanden.

Zur gleichen Zeit war Walburga Niedermeier in ihrer Küche mit den Vorbereitungen des Abendessens beschäftigt. Ihr Mann Andreas, mit Kochkünsten nur spärlich gesegnet, half dennoch mit, wusch den Salat, schnitt Zwiebel und tat, was ihm Walburga so anschaffte. Der kleine Sohn Max saß indessen mit Oma und Opa vor dem Fernseher und fieberte dem Christkind entgegen. Ich mach schon mal den Wein auf, bemerkte Andreas. Soll ja immer Luft bekommen, fügte er noch an. Walburga meinte, er solle gleich noch ein paar Flaschen Bier aus dem Kühlschrank nehmen, weil der Opa es doch nicht so kalt trinke.

Bier! Es war keines da. Nichts im Kühlschrank. Keines in der Küche und keines im Keller. Sie hatten einfach vergessen, es zu besorgen. Das ging natürlich gar nicht. Der Opa mochte keinen Wein, nur Bier. Ist nicht schlimm. Ich fahr’ schnell rüber zur Tankstelle, meinte Walburga. Warte, ich kann auch … fahren, wollte Andreas noch sagen, aber da war Walburga schon zur Tür hinaus.

Der Mann in der Tankstelle schlenderte an den Regalen vorbei, nahm da und dort etwas heraus, legte es in den Korb und bewegte sich auf die Kasse zu. Toilette?, fragte er. Der Tankwart zeigte auf die gegenüberliegende Seite. Steht dran, sagte er. Der Mann stellte den Korb auf die Kassentheke, machte kehrt und ging gemächlich in die angezeigte Richtung.

Geräuschvoll öffnete und schloss der Mann die Türe zur Toilette, öffnete dann sogleich eines der Fenster und wartete, bis seine Kumpane eingestiegen waren. Nun schloss er das Fenster und wies die beiden an sich ruhig zu verhalten. Ihr wartet, bis der Angestellte die Tankstelle verlassen hat. Ich komme dann zurück,  fahre den Wagen hier unter das Fenster und wir laden ein. Was mit der Kasse wäre, wollte noch einer wissen. Lohnt sich nicht. Ist nur wenig drin. Die meisten zahlen mit Karte. 

Walburga fuhr ihren Wagen gerade auf den Parkstreifen vor dem Verkaufsladen, als der Mann an der Kasse seine Einkäufe bezahlte. Er brummte einen Gruss, verließ das Gebäude und hielt Walburga die Türe auf. Als Walburga bei den Getränken das passende Bier auswählte, startete der Mann den Lieferwagen und fuhr ab. Der Angestellte oder Tankwart, wie er hier genannt wurde, nahm dies nur aus den Augenwinkeln wahr und so entging ihm, dass die Beifahrer von vorhin fehlten.

Sie sind mein letzter Kunde heute, dann sperr ich zu!, bemerkte der Tankwart als Walburga zahlte. Walburga verstaute noch die Sachen in ihrem Wagen, als auch schon das Licht im Verkaufsraum erlosch, der Tankwart den Eingang absperrte und auf seinen Wagen zuging. Er grüsste noch einmal zu ihr herüber, dann sah sie ihn nicht mehr.

Um Walburga herum war es dunkel. Als sie ihren Wagen starten wollte, sah sie Scheinwerfer näher kommen und sie bemerkte, wie der Lieferwagen von vorhin zum rückwärtigen Teil der Tankstelle einbog. Ihre Neugierde war geweckt. Was will der hier?, dachte sie, öffnete leise die Türe, stieg aus, duckte sich instinktiv und huschte durch den Schnee dorthin, wo der Lieferwagen jetzt sein musste.

Vorsichtig, an die Hauswand gepresst, lugte Walburga um die Ecke. Das Schneetreiben war mittlerweile heftiger geworden. Nur undeutlich konnte sie sehen, wie Männer ganz offensichtlich diese Tankstelle leer räumten. Jedenfalls hievten sie Gegenstände aus einem Fenster und verluden sie auf der Ladefläche. Dann zurrten sie die Plane wieder fest, fuhren aber nicht ab, sondern stiegen wieder zurück ins Gebäude.

Walburgas Mann, Andreas, machte sich schon Sorgen darüber, wo seine Frau solange bliebe. Hoffentlich ist nichts passiert, bei dem Schnee!, dachte er. Er beruhigte sich aber, weil er wusste, sie hätte sonst ganz sicher angerufen.

Walburga vernahm zu ihrem größten Erstaunen, wie sich an den Zapfsäulen etwas tat. Die Männer hatten die Anlage offensichtlich wieder in Betrieb genommen. Sie sah, wie sie mit Kanistern vom hinteren Teil nach vorne eilten und damit begannen, diese zu befüllen. Einer der Männer hielt dabei eine Zigarette im Mundwinkel eingeklemmt. Jetzt wird’s brenzlich, sagte sich Walburga, griff zum Handy, tippte die Nummer der Polizei und wartete.

Da, plötzlich ein fauchender Knall und einer der Kanister stand in Flammen. Dem Mann war die Kippe wohl aus dem Mund gefallen, war Walburgas erster Gedanke. Das Feuer griff sofort auf verschüttetes Benzin am Boden über. Wieder ein Fauchen. Der zweite Kanister in Flammen! In Panik stürmten die Männer davon zu ihrem Fahrzeug. Peng – wieder ein Kanister!

Eiskalt überlegte Walburga, was zu tun sei. Dann wusste sie es. Überdeutlich sah sie in der Nähe der Tanksäulen Feuerlöschgeräte angebracht. Ohne zu zögern rannte sie auf diese zu, zerrte einen aus der Verankerung, richtete ihn auf die Flammen, und drückte den Auslöser. Eine riesige Wolke des Mittels ergoss sich über die Flammen. Immer wieder drückte Walburga, bis nichts mehr hervorkam.

Dann hörte sie Martinshörner und wenig später waren Polizei und Feuerwehr zur Stelle. Walburga zitterte am ganzen Körper und war froh, als sie einer der Feuerwehrleute in den Arm nahm. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie die Polizei die Einbrecher abführte. Haben sich hinten im Schnee festgefahren, sagte jemand zu ihr und kommen Sie, wir bringen Sie nach Hause!

In der Zeitung war zu lesen, dass es der beherzten Walburga Niedermeier zu verdanken sei, dass nichts Schlimmeres passiert war. Manche meinten sogar, die ganze Tankstelle hätte in die Luft fliegen können. Und weiter stand da zu lesen, welch ein Glück es gewesen wäre, dass es damals vor fast 170 Jahren zwischen einer Frau aus Straubing und einem Bauern des Ortes zu einer Liebschaft gekommen war. Denn ohne diese Liebschaft würde es die Niedermeier Walburga auch nicht geben. So wüssten wir niemals, schloss der Artikel, was die Zukunft brächte. Und deshalb könne man nur jedem raten, mit seinen Urteilen und Taten vorsichtig umzugehen.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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