Irene Beddies

Schutzengel




Plötzlich setzte die Orgel mit einem gewaltigen Brausen ein. Eine Toccata von Bach stand auf dem Programm. Die Worte der berühmten Schauspielerin, die eben noch eine besinnliche Geschichte vorgelesen hatte, und die eigentlich in der Stille des Kirchenraums ein paar Augenblicke weiter hätten nachklingen sollen, wurden brutal verschluckt.
Grete fuhr erschreckt zusammen. Sie fröstelte. Um das Brausen für sich ein wenig in den Hintergrund zu drängen, sah sie zum schlicht geschmückten Weihnachtsbaum. Er füllte den Altarraum fast bis zur Decke aus, schmal und hoch. Er war nur behängt mit Lichterketten aus kleinen Glühbirnchen und mit goldenen Lamettafäden, die ein wenig zitterten. Die Lämpchen verbreiteten ein gleichmäßig stilles Licht, so dass das Gold der Fäden nur ab und zu aufblitzte.
 
Jetzt wurde die Orgel leise und sanft. Grete lauschte der Partie und geriet dabei ins Träumen. Auf der Spitze des Baumes sah sie einen hellen Stern leuchten. Woraus mochte er bestehen? Sie hatte ihn vorher nicht bemerkt. Er schien auch nicht mit dem Baum verbunden zu sein, sondern schwebte ein Stückchen darüber. Mit jedem Ton der Orgel veränderte er seine Position ein wenig als ob er tanzte. Jetzt wandelte er sich in eine lichte Gestalt, in einen kaum erkennbaren Engel. Der Engel setzte eine Posaune an seinen Mund.
In dem Moment jauchzte die Orgel mit aller Macht auf. Der Engel schien sich zu erschrecken, er versteckte sich in den Zweigen der Tanne.
Von dort aus sah er Grete direkt in die Augen. Was wollte er ihr sagen? Die frohe Botschaft war doch schon am Anfang des Gottesdienstes verkündet worden vom Chor. Und da war der Engel nicht sichtbar gewesen.
Grete fühlte Freude, zugleich eine Beklommenheit, die ihr Schmerzen bereitete. Und immer noch schaute der Engel sie an.
 
Als sie zu sich kam, lag sie in einem Bett, hatte einen Schlauch in der Nase, ein Blutdruckgerät am Arm und eine Infusion in der Ader der rechten Hand.
„Ich bin im Krankenhaus“, murmelte sie vor sich hin, „aber wieso?“
Eine junge Ärztin trat an ihr Bett.
„Frau Noria, Sie haben einen Herzstillstand gehabt. Ein Schutzengel muss ihnen zur Seite gestanden haben, dass Sie noch leben.“
„Ich habe ihn gesehen, ich habe in seine Augen geschaut“, murmelte Grete leise. „Er saß im Weihnachtsbaum.“
 
 
© I. Beddies
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.12.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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