Klaus Eylmann

Mamma

Der Stoff des Klappstuhls gab unter seinem Gewicht nach, als Luigis massiger Körper in sich zusammen sank, während er über das Wasser starrte. Ein Windhauch fegte durch das Schilf. Fischreiher standen in den Nebelbänken, Krähen krächzten auf den Äckern.
Die Pose zuckte. Luigi riss die Angel hoch. Nichts. Er warf sie wieder aus. Ihn fröstelte. Sie hatten den ersten März, und es war zu kalt am Fluss, doch Carlo, sein Bruder wartete zu Hause darauf, dass Mamma mit der Rente vom Postamt kam. Es war einer der Momente, an denen Luigi angeln ging. Er konnte so was nicht, ihr das Geld abnehmen, und er brauchte das nicht, hielt sich als Maurer über Wasser. Wenn ihn die Verzweiflung packte, und Carlo ihm nichts von Mammas Rente abgab.
Der Nebel kam vom anderen Ufer, umhüllte ihn mit klammen Fingern. Äcker, Reiher, Fluss und Schilf lösten sich in weißen Dunst auf. Etwas brummte. Luigi dachte an zu Hause und wartete, bis sich der Nebel verzog.
“Wo kommst denn du her!”. Die Stimme hatte einen fremden Akzent und kam vom anderen Ufer. Luigi sah, dies war nicht sein Fluss. Dieser war breiter, viel breiter. Kleine Inseln mit rotblättrigen Bäumen, die sich im Wasser spiegelten. Vier grüngefiederte Schwingen, mit denen Vögel von Insel zu Insel flogen, und Luigi erschrak.
“Wo kommst denn du her!” Luigi wurde heiß. Er blickte gegen das bläuliche Licht der Sonne und wurde bleich im Gesicht, als er zwei Monde, perlmutterfarben, opalisierend, am Horizont entdeckte. Am anderen Ufer sah er den dunklen Umriss eines Mannes.
“Ich bin Luigi aus Buona Compra.”
“Ich bin Zehn. Bist du registriert?”
“Was heißt das?”
“Dort ist eine Brücke.” Luigis Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Mannes.
“Komm rüber.”
Die Furcht ließ ihn nicht aus ihren Klauen. Wo bin ich, fragte er sich, als er über die Brücke ging, und er blickte auf die Vögel mit den grünen Flügeln, die über dem träg dahinfließenden Gewässer kreisten. Wo bin ich? Äcker und Fischreiher waren verschwunden. Eine rostbraune Steppe dehnte sich bis zum Horizont, hin zu einer Bergkette. Häuser kauerten vor deren Ausläufern, als wollten sie sich vor der Steppe schützen. Braune Echsen flüchteten aus silbrigen und schwarzen Gräsern und verschwanden hinter dornigen Sträuchern und Disteln.
Der Fremde war alt. Ein grauer Bart verdeckte die untere Hälfte des schmalen Gesichts mit der gekrümmten Nase und den zusammen gekniffenen Augen. Seine grauen Haare fielen auf den braunen Umhang. Seine Beine glichen weißen Stöcken. Die Füße steckten in Schnürstiefeln. Er war nicht größer als der Holzkarren neben ihm. Ein Tier schnaubte, schüttelte den Kopf hin und her und scharrte mit den Hufen. Sechs Beine, gepanzertes Hinterteil. Wo die Panzerplatten in Haut übergingen, wellte die sich grünlich bis zur breiten Brust. Der kleine Kopf drehte sich zu ihm hin. Rote Augen starrten Luigi an.
“Steig auf”, rief der Mann. Sie kletterten auf den Bock, dann schnalzte der Alte mit der Zunge. Der Karren rumpelte über die braune Ebene. Echsen schossen aus den Gräsern hervor und liefen in alle Richtungen.
“Wo bin ich?”, fragte Luigi verwirrt.
“Willkommen in Neu-Italien.”
Neu-Italien? Mamma, dachte Luigi. Wie wird sie mich vermissen. Sie wird die Carabinieri gerufen haben und sein Foto ist sicher schon in der Sendung ‘Wer hat sie gesehen?’. Er sah im Geiste, wie Taucher den Fluss absuchten und fing an zu zittern.
“Ich muss zurück!”, rief er und sprang von der Karre.
Der Mann hielt den Wagen an. “Das hat noch niemand geschafft. Steig ein.”
Ein Pfeifen kam vom Himmel her, als ein metallenes Objekt auf sie zu schoss. Ein Feuerstrahl fraß sich neben Luigi in den Boden. Das Fluggerät drehte ab.
“Der Vollstrecker!”, rief der Mann. “Hocke dich unter den Reno, andernfalls tötet er dich.”
“Der Reno?”
“Der Vollstrecker!”
“Und wer ist der Reno?”
“Das Tier hier! Mach schon!”, schrie der Alte und deutete auf das Zugtier.
Luigi hechtete zwischen dessen Beine und kauerte sich auf den Boden. Die Drohne pfiff über sie hinweg. Luigi kroch unter dem Tier hervor. Das Objekt verschwand hinter einem Gebäude am Fluss, das metallisch in der Sonne funkelte.
Der Alte folgte seinem Blick.
“Die Station”, meinte er. “Du brauchst einen Namen, musst dich registrieren lassen.”
“Ich habe einen Namen”, protestierte Luigi. “Ich heiße Luigi.”
“Und ich Zehn. Luigi ist kein Name.” Zehn zog ein Halsband hervor. Luigi sah den metallenen Anhänger mit einer gelb leuchtenden Zehn. Unter dem Display befanden sich kleine Knöpfe in einem sechseckigen Feld.
Schweigend fuhre sie dahin. Steinmauern zogen sich um grüne Felder. War es Gemüse? Es waren keine Pflanzen, die Luigi kannte. Kein Getreide. Luigi dachte an Mamma, wie sie den Nudelteig ausrollte.
Sie näherten sich der Häusergruppe. Häuser aus behauenem Granit. Nummern neben den Eingängen. 98 51. 26 33. Sie fuhren weiter und hielten vor dem letzten Haus. Luigi las 10 97.
Öllampen warfen ihre Schatten auf eine junge Frau, die in der Küche vor einem Herd stand.
“Gib dem Mann zu essen”, rief Zehn und polterte aus dem Raum. Die Frau kam mit einem Salatteller und einer Suppe. Sie setzte sich zu Luigi an den Tisch, sah an ihm vorbei und sagte: “Ma.” Nach einigen Sekunden sagte sie wieder “Ma”, und Luigi sah seine Mutter in ihrem geblümten Kleid vor sich, robust und wuchtig, mit Armen, von denen die Dörfler sagten, sie könne damit einen Ochsen zu Boden zwingen. Luigi sah, wie sie am Tisch saß, wenn Carlo, sein Bruder, ihr die Rente abnahm und Mamma erzählte, dass es nur zu ihrem Besten sei. “Ma” sagte dann auch sie. Immer wieder “Ma”.
“Ist was passiert?” Wie hieß die Frau? Luigi konnte sich keine Nummern merken. Nach einer Pause sagte sie: “Sechsunddreißig ist tot. Er war mein Mann”.
“Mein tiefstes Mitgefühl.” Luigi ließ eine Minute verstreichen. Dann setzte er zu einer weiteren Frage an: “Bauen Sie Getreide an? Kennen Sie Pizza, Polenta?”
Die Frau schüttelte den Kopf. “Oder Pasta Asciutta wie Tortellini, Ravioli, Fettucine, Lasagna, Tagliatelle, Spaghetti?” Die Frau verneinte auch dies. Luigi hörte ihr “Ma”, während er ungläubig in der Suppe herumstocherte. Er ließ den Löffel fallen. Dann kam es auch aus seinem Mund: “Ma”. Verzweiflung echote von einer Person zur anderen.
Zehn kam ins Zimmer. Er hielt ein Halsband hoch und steckte es in seine Jackentasche.
“Gehörte einem Verstorbenen. Fahren wir zur Registrierung, bevor es dunkel wird.” Er schaute zu seiner Frau hinüber und schüttelte den Kopf. Als sie in den Karren stiegen erklärte er: “Meine Frau kommt nicht über den Tod von Sechsunddreißig hinweg. Sie war mit ihm zusammen, bevor ich sie bekam.”
“Bekam?”
“Im Sommerfest vor ein paar Tagen. Sechsunddreißig hat es nicht verwunden und sich in den Fluss gestürzt. Heute war ich wieder dort, um ihn zu suchen. Irgendwann kommen sie alle hoch.”
Sie fuhren in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Zehn lenkte das Tier zu dem metallenen Gebäude neben dem Fluss. Es stand schief am Ufer. Eine Seite war im Boden versunken. Brummen erfüllte die Luft.
“Was ist das?”
“Die Station.” Sie traten ein. Das Geräusch wurde lauter. Das Gebäude war größer als dieser Saal. Licht kam von der Decke. Bildschirme hingen an einer Wand. Einer war aktiv.
Zehn zog das Halsband aus der Jackentasche. Das Display des Anhängers zeigte nichts an.
“Die Sechsundreißig war frei geworden, als er den Tod fand.” Der Registrierprozess war einfach. Zehn steckte den Anhänger in ein Loch unter dem Monitor, zog ihn heraus und hängte Luigi das Halsband um.
“Und nun heißt du so.” Luigi betrachtete das Display mit der Zahl, dann ging er zu den anderen Bildschirmen.
“Was zeigen die?”
“Das wissen wir nicht.” Zehn ging zum Ausgang. “Das Haus war von seltsamen Wesen bewohnt. Sie zeigten unseren Urahnen, wie sie sich zu registrieren hatten, dann verschwanden sie.”
Als Zehn und Luigi auf den Wagen zu gingen, drehte sich Luigi noch einmal um.
“Wieso steckt das Gebäude so schief im Grund?”
“Es war bereits hier, als die ersten von uns in dieses Land kamen. Das sagen unsere Aufzeichnungen.” Luigi ging zurück. Seine Hand strich über einen Vorsprung, der einer Fischflosse gleich aus der Metallhülle ragte.
“Ein Sternenschiff”, meinte er.
“Vor Generationen wies die Haut Löcher auf, war von tiefen Rissen durchzogen. Jetzt sind sie nicht mehr zu sehen. Das Haus heilte sich selbst.”
Warum fliegt es dann nicht fort?, dachte Luigi. Es war zuviel. Wieso war er nicht in seinem Dorf? Wer hatte ihn in diese Welt gebracht, und was war mit Mamma?
Er hörte ein schabendes Geräusch. Ein Loch öffnete sich in der Hülle. Die Drohne flog heraus und verschwand am Horizont.
“Der Vollstrecker, er lebt hier?” Zehn sah dem Objekt nach.
“Es ist eine Maschine,” bemerkte Luigi.
Der Alte stieg auf den Karren. “Er ist es, der uns tötet.”

Während sie zum Dorf zurück fuhren, erklärte der Alte: “Kommen zu viele Kinder auf die Welt, fliegt der Vollstrecker herbei und tötet die Alten.”
“Zu viele?”, fragte Luigi.
“Unsere Zahl bleibt konstant”, antwortete Zehn. “Um die hundert Personen. Es können bis zu zwanzig mehr oder weniger sein. Doch mehr als hundertzwanzig werden vom Vollstrecker nicht toleriert. Sind es weniger als achtzig, werden Personen wie du aus der Heimat geholt.”
“Dann hast du ja zur Zeit nichts zu befürchten”. Absurd, das Ganze, dachte Luigi und schüttelte den Kopf.
“Die ersten Generationen von uns wussten nicht, worauf der Vollstrecker hinaus wollte”, fuhr der Alte fort. “Er vernichtete die Häuser, in denen alte Personen lebten. Mit der Zeit fanden meine Vorfahren heraus, dass Alte den Kindern zu weichen hatten, und sie stellten Pfähle auf dem Marktplatz auf, woran die Alten gebunden wurden. Damit blieben die Häuser verschont.” Zehn blickte Luigi von der Seite an. “Unsere Generation fing damit an, die Geburten zu regulieren.”
Im Dorf fuhr Zehn zu einem anderen Haus. “Bei uns kannst du nicht schlafen”, sagte er. “Meine Frau, sähe sie deinen Namen, würde an ihren verstorbenen Mann denken.” Zehn deutete auf Luigis Anhänger. “Ich möchte, dass sie ihn vergisst.”
Neben dem Eingang war eine Dreizehn an die Wand gemalt. In der geöffneten Tür stand eine Frau.
“Sechsunddreißig wird bei dir wohnen”, sagte Zehn zu ihr. “Behandle ihn gut.”
Luigi sprang vom Wagen und Zehn fuhr davon. Zögernd ging Luigi auf die Frau zu. Sie war hoch gewachsen und trug einen grauen Umhang. Die Füße steckten in Schnürsandalen. Ihre langen braunen Haare umrahmten ein schmales und ernstes Gesicht. Sie war jünger als Luigi, der die Dreißig schon seit fünf Jahren überschritten hatte. Die Müdigkeit ihres Ausdrucks ließ sie älter erscheinen. Sie machte ihm Platz und lächelte gequält. Luigi folgte ihr in ein kleines Zimmer, in dem Öllampen ihr müdes Licht auf einen niedrigen Tisch warfen. Felle lagen auf dem Boden.
“Ich möchte dorthin zurück, wo ich her gekommen bin”, sagte Luigi, und blickte sie fragend an. Die Frau sah an ihm vorbei.
Später, als sie stumm die Suppe in sich hinein löffelten, begann er mit sich und seinem Schicksal zu hadern. Als ihm Dreizehn im Bett den Rücken zukehrte und die Geschehnisse der vergangenen Stunden an ihm vorbei zogen, war Luigi, als sei er in einem Alptraum gefangen. Bilder quälten ihn. Von Mamma, seinem Bruder Carlo, die seines Dorfes und erst als es heller wurde, gelang es ihm, die Attacke seiner Erinnerungen abzuwehren. Später trugen ihm die Dorfältesten die Geschichte ihres Dorfes vor.
“Vor vielen hundert Jahren hatte die Station die ersten von uns in dieses Land geholt. Sie war von seltsamen Wesen bewohnt, die sich Noks nannten und unsere Sprache kannten. Jedoch alles, was sie uns gaben, waren einhundertzwanzig Halsbänder mit Anhängern. Sie befahlen uns, sich registrieren zu lassen, zeigten es uns und verschwanden.”
“Kennt ihr den Begriff Getreide? Oder die Wörter Weizen, Mais?”
“Aus dem Beginn unserer Aufzeichnungen. Unsere Vorfahren meinten, sie brauchten sie für ihre Nahrungsmittel und unternahmen Versuche, hiesige Gräser zu kultivieren. Sie hatten keinen Erfolg.”
Soviel zu Tortellini, dachte Luigi resigniert. Die Alten trugen ihm auf, im Steinbruch zu arbeiten.

Die Italiens, so nannten sich die Dörfler, hatten die Siebentagewoche von der Erde übernommen. Das Jahr war länger, hatte dreiundsiebzig Wochen. Davon zog eine nach der anderen an Luigi vorbei, während er die Felsen bearbeitete. Granit, der sich, wie die Männer sagten, zur Zeit der Gletscherwanderungen von den Bergen gelöst hatte. Luigi gewöhnte sich an das neue Leben, wollte es nicht mehr missen. Die Rauheit der Berge, der Steppe. Hier musste jeder Hand anlegen, damit das Gemeinwesen funktionierte. Hier war er Jemand.
Abends saßen die Männer im Wirtshaus um Luigi herum, tranken Schnaps, der aus den Blättern des Kohls, den sie Collardo nannten, gebrannt wurde und lauschten seinen Erzählungen. Sie wollten wissen: Wie ging es in der Welt zu, aus der ihre Ahnen stammten? Luigi erzählte von Mammas Nudelteig, wie sie ihn ausrollte, mit flinken Händen die Pasta zu Tortellini formte. Luigi brachte den Männern das Kartenspiel Briscola bei. Er hörte genug von ihnen, um Dreizehn zu verstehen. Luigi wusste, dass sie sich mit Webarbeiten ihren Lebensunterhalt verdiente, jetzt erfuhr er, wie die Frauen ihren Männern untersagten, ein Wort an sie zu richten, wie sie aus dem Laden stoben, wenn Dreizehn ihre Einkäufe tätigte und Luigi dachte an Mamma. Auch sie war abergläubisch, doch dies hier hätte sie nicht mitgemacht. Sie hätte den Frauen Bescheid gegeben, denn sie nahm kein Blatt vor den Mund wenn sie wütend wurde und Luigi entschied, dass er Dreizehn mochte. An Feiertagen zeigte er sich mit ihr im Dorf.
“Ich bin Dreizehn, die Unglückszahl”. Sie sagte es nicht mehr so oft. Und wenn sie zu weinen anfing, setzte er sich mit ihr auf die Kissen vor dem flachen Tisch und wiegte sie in seinen Armen. Luigi spürte, dass auch er sich änderte. Früher, als Mamma geweint hatte, war er in die Bar gelaufen oder zum Angeln gefahren.
“Ich bin nicht abergläubisch”, sagte Luigi nun und kreuzte die Finger hinter seinem Rücken.
Wenn sie zusammen im Bett lagen, bedrängte Luigi sie. Doch Dreizehn wehrte sich.
“Ich kann keine Kinder bekommen”, hatte sie einmal gesagt.
“Um so besser,” hatte er geantwortet und Dreizehn mit Küssen bedeckt.
“Nein, nicht wie du denkst. Sie wollen nicht, dass ich ein Kind bekomme und meinen, es brächte Unglück. Sie würden es nicht registrieren lassen, und dann wäre es nur eine Frage der Zeit. Der Vollstrecker würde es töten.”

Nachts träumte Luigi öfter davon, eine Mühle an einem Gebirgsbach zu bauen. Er sah, wie sich ein Wasserrad drehte und die Mühle Mehl machte, dann wachte er auf. Getreide. Er brauchte Getreide. Mamma, er wollte Mamma, und er dachte an das Tortellinifest. Jedes Jahr gab es In Buona Compra das Tortellinifest, das eine ganze Woche andauerte und zu dem hunderte von Menschen aus den benachbarten Dörfern kamen. Während dieser Zeit machten die Frauen des Dorfes Tortellini für die Gäste. Mit Kürbis, Sahne, Salami, Schinken, in Hühnerbrühe.

Der Herbst zog vorbei. Die braunen Sträucher und Disteln der Steppe wurden wächsern. Die Eidechsen verzogen sich in ihre Löcher als der Winter kam, und mit ihm das Winterfest. Wie das Sommerfest wurde es begangen, um für die vergangene Ernte zu danken und eine gute Ernte im neuen Jahr zu erbitten. Es gipfelte in dem Erntetanz. Luigi und Dreizehn wurden nicht eingeladen, und er war froh darüber.
Getanzt wurde in der Erntehalle. Paare stellten sich im Kreis auf. Männer auf der Innenseite, Frauen außen. Während die Musik spielte, tanzten die Paare ein paar Figuren, dann rückten die Männer nach links, die Frauen nach rechts und tanzten die gleichen Figuren mit dem neuen Partner. Der Partnerwechsel setzte sich so lange fort, bis die Musik aufhörte. Die neuen Paare blieben für ein halbes Jahr zusammen. Kinder blieben bei der Frau. Die Wochen danach zerrten an den Nerven der Dörfler, und manch einer konnte sich nicht mit einem neuen Partner abfinden.
“Machen alle mit?”, hatte Luigi gefragt. “Ja,” wurde ihm geantwortet.
“Bis auf Kinder, Kranke und diejenigen, die keinen Partner haben.”
Zehn, der glückliche Bastard, dachte Luigi. Das letzte Mal hat er es gut getroffen.
“Wie froh bin ich, dass man uns die Teilnahme verboten hat”, sagte er zu Dreizehn. “Ich möchte dich nicht verlieren”. Und er nahm sich vor, zu dem Sternenschiff zu fahren, welches die Dörfler Station nannten. Das Winterfest war der geeignete Zeitpunkt. Luigi zog den Reno aus dem Stall und spannte ihn vor den Karren. Dreizehn kam aus dem Haus gerannt und rief: “Lass mich nicht allein.”
Sie fuhren zur Station. Es schneite. Ein kalter Wind zauste Sträucher und Disteln. Wachsbleiche Wellen wogten über die Steppe. Luigi zog sich die Kapuze über den Kopf.
Das Brummen der Station schien intensiver. Die Position des Schiffes hatte sich verändert. Es arbeitet sich aus dem Grund, dachte Luigi. Im Saal waren vier weitere Bildschirme aktiv. Der Boden vibrierte unter seinen Füßen, dann spürte er eine Erschütterung.
“Es ist anders als sonst”, rief Luigi Dreizehn zu, als er die Reihe der Bildschirme entlang ging. Die Station erwachte. So schien es ihm, und er fühlte, dass nicht mehr viel Zeit blieb. Für was? Ein Display zeigte eine Halle. Mannshohe Zylinder standen nebeneinander an den Wänden, Behälter aus einem plastikähnlichen Material. Die meisten waren geöffnet und leer. Andere waren verschlossen. Hinter der Hülle sah Luigi Schatten, Rumpf, Arme, Beine. Die Noks? Sie bewegten sich nicht.
Ein anderes Display zeigte das Ufer des Flusses. Unter dem Bildschirm befanden sich Tasten in einem sechseckigen Feld, wie auf Luigis Anhänger. Vier Tasten leuchteten. Luigi zog eine Spange aus Dreizehns Haar. Es fiel ihr über die Schultern. Wie schön sie ist, dachte Luigi und versank in ihren Augen. Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Ein kleines Lächeln umspielte ihren Mund. Tränen liefen ihre Wangen hinab. Luigi blieb wie verzaubert, bis der Boden unter seinen Füßen bebte. Er zog das Halsband über den Kopf, ergriff den Anhänger und drückte mit der Haarspange die winzigen Tasten, die auf der Konsole leuchteten.
Dreizehn wollte etwas sagen, brach mitten im Wort ab, stand mit großen Augen vor dem Monitor. Er zeigte Luigis Angelfluss. Luigi nahm Dreizehn an die Hand und zog sie zum Ausgang. Sie sprangen auf den Wagen und fuhren weiter auf das Ufer zu. Eine glasige, undurchsichtige Barriere stellte sich ihnen in den Weg. Luigi sah, dass sie sich bis in den Himmel ausdehnte.
“Was jetzt?” Luigi blickte Dreizehn fragend an. Sie zog eine weitere Spange aus ihrem Haar, sah Luigi an und dann ihren Anhänger. Als sie mit der Spange die Tasten bearbeitete, löste sich die Barriere auf. Ihnen zeigte sich der vertraute Fluss mit den Inseln aus rotblättrigen Bäumen. Sie fuhren über die Brücke ans andere Ufer.
“Die Tasten!”, rief Luigi und Dreizehn wiederholte die Prozedur. Nebel zog über sie hinweg, und als Luigi sah, dass er sich an seinem Angelfluss befand, schaute er nach seinem Auto. Es war fort.
Die Leute von Buona Compra rieben sich die Augen, als Luigi mit Dreizehn durch den Ort fuhr. Der Reno mit sechs Beinen, seinem gepanzerten Hinterteil, dem Winterfell. Sie rieben sich die Augen, die Leute von Buona Compra, und bevor jemand die Carabinieri hätte rufen können, hatte Luigi den Wagen hinter dem Haus von Mamma abgestellt.
“Mamma! Mamma!”, rief er und öffnete die Tür. Mamma rang nach Luft, als sie ihn sah, dann fing sie an zu weinen.
“Mamma, das ist Dreizehn. Wir sind gekommen, dich zu uns zu holen. Oder, Dreizehn, willst du hierbleiben?”
Luigi dachte an die Einwanderungsbehörde. Wie heissen Sie? Dreizehn. Dreizehn? Woher haben Sie gesagt, kommen Sie? Aus Neu-Italien? Und dann dachte er an Carlo.
“Lieber nicht”, beantwortete Luigi seine Frage. “Dreizehn, unterhalte dich mit Mamma. Ich muss noch mal los, Saatgut besorgen. Und Dreizehn”,
Luigi strahlte, “Wir werden Getreidefelder anlegen, Mehl herstellen. Mamma wird Tortellini machen. Wir bringen Esskultur nach Neu-Italien.”
Luigis Auto stand allein in der Garage. Carlo sitzt in der Bar und verprasst Mamas Rente beim Videopoker, dachte Luigi. Diesmal war er froh darüber.
Der Saatguthändler wuchtete zwei Säcke mit Weizen und Mais in seinen Wagen. Luigi nahm noch ein paar Tüten Tomatensamen mit. “Bezahlt Carlo”, sagte er. Zu Hause sah er Mamma händeringend vor dem Reno, der mit dem Karren in ihrem Gemüsegarten stand und einen Salatkopf nach dem anderen fraß. Luigi lud die Säcke auf den Karren.
“Mamma, steig auf. Die Zeit wird knapp.”
“Und Carlo?”
“Den holen wir später.”
Luigi und Dreizehn fuhren so schnell es nur ging durch den Ort auf den Fluss zu. Mit offenem Mund sahen ihnen die Leute nach, beobachteten, wie Mamma sich an den Säcken fest hielt. Kinder folgten johlend und schreiend auf ihren Rädern.
Am Fluss drehte sich der Reno zu den Kindern um. Seine roten Augen hielten sie auf Abstand. Dreizehn nahm ihre Spange und drückte die Knöpfe. Als sich der Nebel verzogen hatte, fiel Mamma in Ohnmacht. Neu-Italien. Luigi blickte auf seinen Anhänger.
“Dreizehn. Unsere Namen sind weg!”
“Wir müssen uns registrieren lassen! Und ich bekomme einen neuen Namen!”, rief sie lachend und dann küsste sie ihn. Und ich habe sie nur noch bis zum Sommerfest dachte Luigi und er spürte, wie sich ihm das Herz zusammen schnürte. Er sah schwarze Punkte am Horizont. Wie Kakerlaken, die aus einer Blechdose herauskrabbelten. Doch kamen sie schnell näher. Gespanne aus dem Dorf. Dörfler auf dem Weg zur zur Station.
Luigi brachte den Wagen über die Brücke und hielt an. Es war, als sei das ganze Dorf unterwegs. Die Drohne in der Luft umkreiste die Gespanne wie ein Hirtenhund. Zehn jagte mit seiner jungen Frau an Luigi vorbei. Der fuhr mit seinem Wagen hinterher.
“Wo bist du gewesen?”, rief Zehn herüber.
“Was ist los?”, brüllte Luigi zurück.
“Wir haben keine Namen mehr!” Zehn zeigte auf seinen Anhänger, dann nach oben. “Müssen uns alle registrieren lassen!”. Lautes Brummen vermischte sich mit dem Rattern der Wagen. Das Sternenschiff schwebte einige Zentimeter über dem Boden. Dann fing es an zu pfeifen. Schreiend sprangen die Dörfler ab und drängten sich durch den Eingang. Mütter trugen Kinder, Alte schleppten in das Schiff. Die Drohne schob sich in die Wand.
“Bleib hier!” brüllte Luigi, doch es war zu spät. Entsetzt sah er, wie Dreizehn mit den anderen im Raumschiff verschwand.
“Dreizehn, komm zurück!” heulte er und kletterte vom Wagen. Was interessierte es ihn, ob sie eine neue Nummer bekam. Er drehte sich um. Mamma richtete sich stöhnend auf. Die Triebwerke des Sternenschiffes sprangen nacheinander an. Luigi lief auf das Raumschiff zu, dann kehrte er um, sah auf Mamma und weinte, sah wie sich die Luke schloss, das Sternenschiff in die Lüfte stieg und im Blau des Himmels verschwand.




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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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