Daniela Rabenstein

Die kleine Elfe - Die Rettung der Ameisen


Es war noch sehr zeitig an diesem schönen Frühlingsmorgen.
Unsere kleine Elfe Goldlöckchen war aber schon mit dem ersten Sonnenstrahl aufgewacht. Sie lag in ihrem Ästchenbett und hatte sich tief in ihre Blätterdecke eingekuschelt. Ihre Haare, denen sie ihren Namen zu verdanken hatte, breiteten sich wie goldene Ranken auf ihrem Kissen um ihren Kopf herum aus.
 
Goldlöckchen liebte es, wenn der Tag erwachte. Dann lag sie oft minutenlang wach im Bett und lauschte dem Gesang der Vögel, die jeden neuen Morgen mit wunderbaren Liedern begrüßten.
 
An diesem Morgen jedoch wurde Goldlöckchen von einem leisen Klopfen aus ihren Tagträumen geholt. Im ersten Moment dachte sie, dass das kleine Spechtkind wachgeworden und auf die Suche nach einem Frühstück gegangen wäre, und wollte gerade wieder die Augen schließen, als das Klopfen erneut ertönte – diesmal ein wenig lauter.
 
Goldlöckchen schlug ihre Blätterdecke zurück und kletterte aus ihrem Bett. Auf nackten Füßen und im Nachthemd tippelte sie über ihren Moosteppich zur Haustür. Die Tür ihres kleinen Walnußschalenhauses knarzte ein wenig, als sie sie öffnete. Durch den ersten schmalen Spalt, der dabei entstand, blickte sie in zwei schwarze große Augen, die zu einer dunkelgrau glänzenden Ameise gehörten.
 
Unsere kleine Elfe staunte nicht schlecht – mit solch einem Besuch am Tagesbeginn hatte sie nicht gerechnet.
 
Die Ameise hatte spindeldürre Arme und Beine und einen gelben Schal um den Hals. Als sie sprach, war Goldlöckchen noch überraschter, denn es erklang eine erstaunlich tiefe Stimme.
 
„Die Königin schickt mich mit der Bitte, dich zu unserem Bau zu bringen.“
Goldlöckchen schaute ihren Besucher fragend an; bisher hatte sie kaum mit den Ameisen zu tun gehabt – und schon gar nicht mit deren Königin.
„Wir haben Probleme – wir brauchen deine Hilfe...“, fügte die Ameise erklärend hinzu.
 
„Oje – dann warte hier ... Ich muss mich erstmal anziehen. Danach können wir los.“
 
Goldlöckchen wechselte rasch ihr Nachthemd gegen ein dunkelgrünes Mooskleid und erschien kaum eine Minute später wieder an der Tür.
 
„Jetzt kann es losgehen ... Was ist denn passiert?“
 
Aber die Ameise war bereits losgeflitzt; und wer schon einmal eine Ameise beobachtet hat, weiß, dass diese sehr flink sind.

„Das wirst du sehen, wenn wir dort ankommen – keine Zeit für Erklärungen ...“
 
Goldlöckchen rannte so schnell sie konnte, um die Ameise nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Es ging durch den Farnenwald, über Mooswiesen und vorbei an den Pilzfeldern, die aber um diese Jahreszeit noch leer waren. Von Zeit zu Zeit schaute die Ameise kurz über ihre Schulter, um sich zu vergewissern, dass Goldlöckchen dicht hinter ihr blieb.
 
Nach vielen Minuten kamen die beiden schließlich an der unendlich hohen Kiefer an, an deren Fuß das Ameisenvolk seinen Bau hatte. Wie ein riesiges Ungetüm ragte er vor der winzigen Elfe empor.
Schon im Näherkommen sah Goldlöckchen, dass dort etwas ganz und gar nicht richtig war. Der Ameisenhaufen schien in eine Richtung zu kippen und alle paar Minuten ging ein Rütteln hindurch.
 
Eigentlich blieb die Ameisenkönigin stets tief im Inneren verborgen, aber jetzt stand sie vor dem Bau – umringt von ihrem engsten Hofstaat. Sie trug eine kleine Krone auf dem Kopf und einen roten Umhang, der wohl aus dem Blatt einer Rosenblüte stammte, denn sie war von einem leichten Rosenduft umgeben.
 
Goldlöckchen blieb kurz stehen und versuchte sich an einem tiefen Hofknicks, bevor sie dichter an die Ameisenkönigin herantrat.
 
„Ihr habt nach mir gerufen. Was ist geschehen?“
 
Die Ameisenkönigin runzelte die Stirn und zog die Schultern ratlos nach oben. „Das wissen wir nicht. Der Schrecken hat heute Nacht begonnen – mit einem dumpfen Poltern und Pochen. Kurz vorm Sonnenaufgang schwankte unser Bau zum ersten Mal ...“
Der Königin standen Tränen in den Augen. „Bitte hilf‘ uns – sonst ist unsere Heimat verloren.“
 
In diesem Augenblick erklang erneut ein lautes Poltern und der Ameisenbau erschütterte.
 
Goldlöckchens Augen wurden groß – das Geräusch, das aus dem Ameisenbau zu hören war, kam ihr bekannt vor.
 
„Bitte führ‘ mich hinein. Ich muss an die tiefste Stelle in eurem Bau. Ich glaube, ich weiß, was hier gerade passiert.“
 
Die Ameisenkönigin gab der Ameise mit dem gelben Schal ein Zeichen, und die Elfe folgte dieser vorsichtig in den Ameisenbau hinein.
 
Die Gänge waren eng, und die beiden kamen nur sehr langsam voran, da die Erde von den Wänden  lose herabrieselte.
Immer tiefer und tiefer drangen sie in den Bau ein, während ein Geräusch, das wie ein Scharren klang, lauter wurde.
 
„Stop!“ Goldlöckchens Stimme hallte in den Gängen wider.
 
Das Scharren wurde zu einem ohrenbetäubenden Beben, und unter Goldlöckchens Füßen wuchs die Erde zu einem kleinen Hügel.
 
„Stop! Stop!“ Die Stimme der Elfe war nun noch lauter.
 
Durch eine kleine Öffnung oben im Erdhügel schaute eine knopfrunde Nase heraus – die nun anfing, Luft herauszupusten und wieder einzusaugen.
 
„Goldlöckchen – bist du das?“
 
„Buddel, du alter blinder Maulwurf! Du bist hier total falsch. Dreh‘ wieder um und grab‘ dich zwanzig Maulwurflängen von der Kiefer weg. Wir treffen uns dort draußen.“
 
Die Nase verschwand in der Öffnung, und das Scharren wurde leiser.
 
Goldlöckchen und die Ameise gingen durch die unzähligen Gänge wieder zurück ans Tageslicht. Die Augen der Elfe brauchten einen Moment, bevor sie sich an die Sonne gewöhnt hatten und sie in einiger Entfernung den Maulwurf auf seinem neuen Hügel sitzen sehen konnten.
 
„Ach, Buddel...“ Die winzige Elfe blieb vor dem alten Maulwurf stehen und seufzte. „Hast du deine Brille verloren?“
 
Der Maulwurf tastete suchend auf seiner Nase und kratzte sich am Kopf. „Hm, scheint so ... ich weiß auch nicht – heute nacht war sie noch da.“
 
„Oh weh! Unter dem Ameisenbau zu graben, war keine gute Idee... aber wir müssen jetzt erstmal dafür sorgen, dass du wieder sehen kannst. Wir sollten dir eine neue Brille basteln.“
 
Die Ameise mit dem gelben Schal räusperte sich, hob den Finger und verschwand erneut im Bau. Nach einigen Minuten kam sie mit kleinen Zweigstücken, Rindenseilen und ein wenig Folie zurück. „Vielleicht hilft das ...“
 
Goldlöckchen und die Ameise bauten aus gefundenen Dingen etwas, das wirklich wie eine Brille aussah, und hoben diese mit großer Mühe auf die Nase und die Ohren des Maulwurfs. Dieser blinzelte ein wenig mit den Augen und hob dann erstaunt die Augenbrauen.
 
„Wow! Wahnsinn!“ Er sah sich fasziniert um.
„Ich kann wieder alles erkennen...“ Sein Blick blieb an Goldlöckchen und dem Schal der Ameise hängen. „Ist dir kalt?“
 
„Oh Buddel! Sieh‘ nur, was du angerichtet hast. Beinahe wäre der Bau der Ameisen zusammengefallen. Das war Rettung in letzter Sekunde.“ Goldlöckchen wies mit dem Arm in Richtung Ameisenbau.
 
Der Maulwurf bekam rote Wangen und sah beschämt zu Boden.
„Das wollte ich nicht. Aber ich kann es wieder gutmachen. Ich werde den Ameisen helfen, ihren Bau wieder stabil und fest zu bekommen.“
 
Am Abend dieses langen Tages fiel Goldlöckchen in ihr Bett, ohne ihr Mooskleid auszuziehen, und schlief bis weit in den nächsten Tag hinein. 
                                                                                                                                         

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.01.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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