Ralf Glüsing

Der Rattenkönig

Es ist nun wohl schon 20 Jahre her. Ich wohnte als Untermieter bei einem Freund in einem alten Fachwerkhaus. Dieses war ein ehemaliges Landarbeiterhaus und befand sich auf einem alten Bauernhof. Der Besitzer war schon lange krank und wohnte nicht mehr dort. Nur sein Knecht und ein Verwalter kümmerten sich um den Hof und die dort gehaltenen Rinder.

Unser kleines Haus war schon sehr baufällig aber durchaus bewohnbar, wenn man keine großen Ansprüche stellte. Das heißt, der technische Standard entsprach dem der Mitte des 20.Jahrhunderts. Gekocht wurde auf dem Feuer, auch zum Duschen oder Baden musste man erst ein Feuer unter dem Badeofen entfachen und konnte dann zwei Stunden später duschen. Die Fenster waren noch einfach verglast und schlossen zumindest in meinem Zimmer nicht mehr richtig, so dass man im Winter alles mit Decken zustopfen musste. Möbel? - mein Bett waren ein paar alte Paletten. Die Küche – besagter Kochherd, eine selbst gezimmerte Spüle, eine ebensolche Sitzbank, Tisch, zwei Stühle und ein insektensicherer Wandschrank, das war es. Geheizt wurde mit Holz, so dass die Ofenrohre der beiden Zimmer in Kopfhöhe quer durch die Küche zum einzigen Schornstein verliefen. Im Bad war ein Haufen mit Brennholz, zum nachtrocknen, denn ansonsten lagerten wir es draußen unter einer Plane. Unser einziger „Luxus“ ein Kühlschrank und ein 5 Liter Wasserboiler und ein Wasserklosett!

So lebten wir hier mit Katze und Hund. Geld hatten wir keines, nur das bisschen, das uns das Arbeitsamt überwies, denn die Arbeit hatten wir weiß Gott nicht erfunden, zumindest nicht, wenn sie regelmäßig an fünf Tagen die Woche stattfand.

Ich hatte einen kleinen Gemüsegarten in meinem 14 km entferntem Heimatdorf. Ein- zweimal die Woche fuhr ich mit dem Fahrrad dort hin. Gemüse gab es daher reichlich. Da mein Mitbewohner Angler war hatten wir auch stets Fisch zu essen.

Nun lagerte in unserer Küche ein großer Sack mit Hundefutter, ebenso Kartoffeln, Zwiebeln und anderes Gemüse, das auf seine Verarbeitung wartete. Dies lockte natürlich Mäuse an. Nachts konnte man sie hören, wenn sie in der Küche „Party feierten“. Da konnte auch unser Kater nicht gegen ankommen, wohl auch weil er lieber Fisch als Mäuse fraß und dem Hund waren die Mäuse auch egal. Fallen konnten wir wegen dem Kater nicht aufstellen. So war es eine ganz normale Verrichtung, nach Mauselöchern in den Lehmwänden zu suchen und diese mit einem Gemisch aus Gips und Glasscherben zuzuschmieren. Genutzt hat es natürlich wenig, denn die Mäuse legten immer neue Löcher an.

Eines Tages fiel es uns dann auf, dass wir schon ein paar Tage keine Mäuseaktivität mehr wahrgenommen hatten. Die Mäuse waren tatsächlich verschwunden! Unsere Freude darüber währte jedoch nicht lange, denn – jetzt hatten Ratten ihren Platz eingenommen! Diese hatten sich zuvor im nur noch von Rindern bewohnten Bauernhaus breitgemacht und sich kräftig vermehrt. Anfangs sahen wir sie nur draußen, meist nachts über den Hof laufen. Dann eroberten sie unseren Dachboden, bis sie schließlich in unser Bad und in die Küche eindrangen. In so einem alten baufälligen Haus gab es genug Spalten und Löcher, durch die sich auch eine Ratte winden konnte.

Solange wir aktiv waren, war Ruhe. Wenn wir uns Schlafen legten, kamen sie hervor, um nach Nahrung zu suchen. Natürlich hatten wir längst alles Essbare in fest verschlossenen Behältern verstaut. Es half nichts, die Ratten machten sich selbst über das nicht abgewaschene Geschirr in der Spüle her. Besonders unangenehm war es, wenn man nachts noch einmal auf die Toilette musste, denn wie gesagt, über das Bad drangen sie in das Haus ein. Ihre Schlupflöcher, die wir mit dem bei Mäusen bewährten Gips – Glasgemisch verstopften, warfen sie trotz der Scherben darinnen immer wieder auf. Ich bewaffnete mich dann immer mit einem dicken Knüppel. Zwar huschten sie sofort in ihre Verstecke, wenn man die Tür öffnete, aber sicher ist sicher.

Die Ratten mussten weg, mit allen Mitteln, die es gab! Bei Raiffeisen kauften wir Giftköder und deponierten diese hinter der Bretterverschalung unserer Badewanne, denn hier konnte man sie trapsen hören. Der Erfolg stellte sich bald ein. Draußen lagen die ersten toten Ratten herum, meist Jungtiere. Dann fanden wir die erste tote Ratte im Bad, ein Alttier. Weitere folgten, zum Glück draußen. Ich weiß nicht mehr, wie viele tote Ratten ich im Garten verscharrt habe, aber ein gutes Dutzend waren es wohl. Wie viele auf dem Dachboden umkamen weiß ich nicht, denn diesen betraten wir wegen der Einsturzgefahr lieber nicht.

Eines nachts dann, ich musste noch einmal auf die Toilette, öffnete ich die Badtür und schaltete das Licht an. Mir standen die Haare zu Berge, da saß er nun vor mir, eine riesige alte Ratte, der „Rattenkönig“. Sofort schloss ich die Tür und bewaffnete mich umgehend mit dem extra für solche Fälle bereitstehenden langen dicken Knüppel. Vorsichtig öffnete ich die Badtür und er saß immer noch dort, unbeweglich, direkt vor der Kloschüssel! Ich musterte ihn genau. Keine Regung war an ihm zu erkennen. Ein grotesker Anblick, das Tier saß aufrecht auf seinem Hinterteil, die Vorderbeine angewinkelt, als wollte es jeden Moment auf mich losgehen. Aber nichts geschah. Ich wusste, wenn Ratten in die Enge getrieben werden, scheuen sie nicht davor zurück ihrem Angreifer direkt ins Gesicht zu springen, auch Menschen. Solche Geschichten hatte ich von älteren Leuten gehört, ob das tatsächlich stimmt, weiß ich nicht. Ich nahm meinen Knüppel und bewegte diesen vorsichtig auf die Ratte zu. Nichts geschah, bis ich ihn mit dem Knüppel berührte. Er fiel einfach um und lag dann in seiner völlig ungewöhnlichen Körperhaltung auf der Seite – tot! Die Ratte war eindeutig tot. Sie muss in dem Augenblick gestorben sein, als ich zum ersten mal die Tür öffnete, bereit jeden Moment loszuspringen. Und in dieser Haltung blieb sie sitzen.

Ich holte eine Schaufel und beförderte das Tier nach draußen. Am nächsten Tag begrub ich es. Dies war die letzte Ratte, die wir lebend sahen. Ein totes Exemplar fanden wir noch hinter der Badewannenverkleidung, die wir dafür komplett abreißen mussten, denn Verwesungsgeruch hatte sich im Bad breitgemacht. Zum Glück lagen keine weiteren Kadaver versteckt.

Später informierte ich mich bei Leuten, die auch schon einmal mit Ratten zu tun hatten. Allgemein war man sich einig, dass die älteren Ratten immer erst die Jungtiere losschicken, um potentielle Nahrung auf ihre Bekömmlichkeit zu überprüfen. Darum findet man zuerst die toten Jungtiere. Da der Tod jedoch erst ein paar Tage nach dem Verzehr der Köder eintritt, erscheinen diese den älteren Ratten als genießbar, so dass auch diese davon fressen. Zuletzt wagt sich dann das ranghöchste Tier, der „Rattenkönig“ eben, daran.

Zum Glück hatte ich seitdem nie wieder mit Ratten zu tun und ich wünsche es wirklich niemandem mit diesen Tieren Bekanntschaft zu machen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.01.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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