Peter Kröger

Rom



Stell dir vor, es ist deine Frau, sage ich zu Wagner auf der Parkbank, dann verstehst du es. In Rom gibt es keine Lüge, fahre ich fort, Rom ist eine Stadt der Wahrheit. Während hier in Berlin ununterbrochen gelogen wird, lügt in Rom niemand. Wo immer in Rom du dich aufhältst, sage ich zu Wagner, wirst du auf Menschen treffen, die die Wahrheit sagen. Hier in Berlin hingegen belügt dich jeder nach Strich und Faden, sobald du einen Fuß in die Stadt setzt. Nie käme es einem Römer in den Sinn, von der Wahrheit auch nur einen Millimeter abzuweichen, der Berliner allerdings kann nur lügen. Manchmal glaube ich, die Wahrheit selbst sei römischen Ursprungs, obwohl  es doch auch in vorrömischen Zeiten Wahrheit oder jedenfalls die Möglichkeit zur Wahrheit gegeben haben muss, so lehrt es uns der gesunde Menschenverstand. Es mag sein wie es will, in Rom hat sich unbestritten eine besonders reine Form der Wahrheit herauskristallisiert, in Berlin, das darf bei aller Zurückhaltung gesagt werden, eine besonders reine Form der Lüge.
Allerdings weiß ich auf Anhieb nicht zu sagen, ob ich der Wahrheit oder der Lüge den Vorzug gäbe. Es kommt darauf an, sage ich zu Wagner. Stehe ich im Pantheon in Rom, bin ich geneigt, es mit der Wahrheit zu halten, nähere ich mich in Berlin vom Pariser Platz dem Brandenburger Tor, scheint mir die Lüge größere Überzeugungskraft zu besitzen.
Immer will ich mich endgültig entscheiden zwischen Rom und Berlin, und niemals bin ich dazu in der Lage, es geht über meine Kräfte. Hochverehrter Wagnermensch! Rom und Berlin zu vergleichen heißt, wir wissen es, Wahrheit und Lüge gegeneinander abzuwägen, was im Grunde einer Unmöglichkeit gleichkommt, zu der wir gleichwohl verdonnert sind und die wir auszuhalten haben wie alles, sage ich zu Wagner, die Dinge schließen sich aus und bedingen einander, so ist es, so rätselhaft. Ich liebe Rom und die Römer, weil ich die Wahrheit liebe und bin Berlin und den Berlinern verfallen, weil ich eine starke Neigung zur Lüge empfinde. Sehr glücklich bin ich, wenn ich mit lügenden Berlinern das Pantheon betrete oder mich in einem Pulk wahrheitsliebender Römer Richtung Tor über den Pariser Platz bewege. Der ideale Ort, Wagner, sage ich zu Wagner, um derzeit ein Leben nach meinen Vorstellungen führen zu können, ist daher das zwielichtige Wien, manche nennen es auch das lebenslustige Wien, wo Wahrheit und Lüge in bewundernswerter Weise harmonieren und Berliner und Römer einträchtig durch die Altstadtgassen trotten, ohne zu triumphieren, was ja im Ernstfall, mein herzallerliebster Wagner, weder der Wahrheit, noch der Lüge, noch der Lebenslust guttäte und nur dem Unfrieden diente. Jedenfalls liebäugele ich mit dem Gedanken, nach Wien überzusiedeln, Wien könnte, Wien soll es sein, weil Wien alles hat, was ich zu meiner Existenz benötige, nämlich das schon genannte, sozusagen alles überstrahlende Zwielicht, und, ganz nebenbei, vorzügliche Kaffeehäuser, wie wir sie weder in Rom noch in Berlin finden, wo Lüge und Wahrheit alles überlagern und kein Quadratmeter für ein Kaffeehaus übrigbleibt, das diesen Namen verdient. Wenn mir im wabernden Zwielicht Wiens nach einer faustdicken Lüge zumute sein sollte oder nach der ungetrübten Wahrheit, wie sie sonst nirgends auf der Welt zu finden ist, frage ich einfach den weltweit berühmten Wiener Kaffeehaus-Kellner, ob sich irgendwo an den Nebentischen einsame Römer oder Berliner befinden, die etwas Gesellschaft vertragen könnten. Der typische berühmte Kaffeehaus-Kellner in Wien, in der Regel eine überaus zwielichtige Gestalt, wird, allein schon in Erwartung eines hohen Trinkgeldes, meine Bedürftigkeit erkennen und mir weiterhelfen. Die jederzeit richtige Portionierung von Lüge und Wahrheit ist im zwielichten, lebenslustigen Wien nicht nur möglich, sondern geboten; emotionale Ausnahmezustände könnten darüber hinaus, ich darf das am Rande hinzufügen, durch einen Bern- oder Budapestbesuch in Schach gehalten werden, denn wie auch dir bekannt sein dürfte, mein feinsinniger Herr Wagner, sage ich zu Wagner, ist Bern die Stadt der Liebe und Budapest die Stadt des Hasses. Aber ich muss achtgeben, nicht vom Hundertsten ins Tausendste abzugleiten, denn im Grunde hätte dann auch Barcelona ein Recht darauf, als Stadt des Trübsinns Geltung zu beanspruchen und Nizza als Stadt der Heiterkeit. Freuen wir uns also zunächst auf das Naheliegende, freuen wir uns auf Berliner und Römer in Wien, mein guter Wagner, und unseren baldigen Umzug, ja, du hast richtig gehört, unser Umzug, denn du kommst mit, du wirst mir folgen in die Kaffeehäuser Wiens und dort wirst du dich heimisch fühlen oder doch mit der Zeit lernen, dich heimisch zu fühlen und dich mit den zwielichtigen Kellnern auf Anhieb oder doch allmählich verstehen. Du bist ein guter Mensch, sage ich zu Wagner, du bist der beste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe, während ich keinen schlechteren Menschen als mich kenne. Im Zwielicht Wiens, zwischen zwielichtigen, lebenslustigen Wienern, wird das allseitig Gute, wie du es in dir trägst, zur Geltung kommen, aber auch das  ausnehmend Schlechte, für das ich mit meinem Namen stehe, wird im Zwielicht zur Geltung kommen dürfen und sei es nur durch die Hilfe uneigennütziger Kellner, denn der zwielichtige Wiener Kellner ist neben seiner Trinkgeldliebe vor allem für seine Uneigennützigkeit bekannt, wie du sicher weißt, sage ich zu Wagner, und du weißt es, nie habe ich einen gebildeteren Menschen und besseren Menschenkenner als dich getroffen. In Rom, Berlin und Wien bist du der Mensch mit der umfassendsten Bildung und besten Menschenkenntnis, weder im Pantheon noch auf dem Pariser Platz war jemals ein so guter und gebildeter Mensch und Kenner menschlicher Bewandtnisse anzutreffen wie du, jedenfalls nicht in Begleitung eines so schlechten und ungebildeten und hin- und hergerissenen Menschen, wie ich es bin.
Vielleicht sage ich übrigens gerne Dinge wie mein grundgütiger Wagnermensch zu dir oder auch manchmal mein kleiner Herr Wagner, weil ich dich locken will. Du sollst etwas sagen, Wagner, sage ich, ich rede mit dir, hörst du, ich stoße dich von der Parkbank, wenn du nicht antwortest. In den Dreck. Es wird Wien werden und danach Bern, warum nicht Bern, es liegt günstig, ich fühle es, so günstig wie Budapest, Barcelona oder Nizza. Hilf mir hoch, und dann hau ab, sage ich zu Wagner, oder glaubst du wirklich, wir gehen nach Wien. Sie fehlt mir so, stell dir vor, es ist deine Frau, versuch es wenigstens, sonst verstehst du es nie. London ist übrigens die Stadt der Freundschaft. Hast du das gewusst? Und was ist nur mit Tokyo, verrückte Welt, irgendetwas ist mit Tokyo, aber was? Bleib sitzen, Wagner, sage ich, ich gehe und finde es heraus.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.01.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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