Andreas Rüdig

Poltergeist

Ollenhau heißt eine kleine, saubere, ländliche und hochanständige Gemeinde am linken Niederrhein irgendwo zwischen Neukirchen-Vluyn und Kamp-Lintfort. Daß die Gemeinde heute völlig in Vergessenheit geraten ist, liegt an ihrer Tarnkappe, die sie sich vor Jahrzehnten übergestülpt hat. Seitdem ist sie mangels Sichtbarkeit von den Landkarten verschwunden; Straßen und die Postverteilung wurden gekappt, Strom, Gas und Wasser wird in Eigenerzeugung hergestellt. Wahlen wurden nie abgehalten, Steuern nie gezahlt. Ollenhau ist heute ein blühender, wohlhabender Ort mit einer hohen Fruchtbarkeit der Frauen.
Ein Poltergeist ist Schuld an dieser selbstgewählten, freiwilligen Isolation. Oft genug kamen die Kinder abends nach Hause und erzählten ihren Eltern, daß ihnen jemand Streiche gespielt hat. „Als ich im Krämerladen war, hat mich jemand Unsichtbares an der Hand gepackt du mich Süßigkeiten klauen lassen.“ – „Jemand Unsichtbares, der neben mir stand, hat einen Apfel an Nachbars Kopf geschmissen.“ – „Eine unsichtbare Person hat mein Fahrrad geklaut und ist damit markant durch die Gegend gefahren.“

Anfangs wollten die Eltern ihrem Nachwuchs nicht glauben. Ein Unsichtbarer – das gibt es doch nur in Büchern und Filmen.

Doch dann wurden so allmählich auch die Erwachsenen drangsaliert. Es begann mit Streichen, die nach Kindern und Jugendlichen aussahen. Es schellte an den Türen, es klopfte an den Fenstern, ohne daß jemand dort war. Zeitungen verschwanden morgens aus ihren Ablagen.

Ärger wurde es, als andere Effekte hinzukamen. Die Kirchenglocken schlugen, ohne daß sie jemand bediente. Rettungsfahrzeuge und Polizeiautos schalteten wahllos Blaulicht und Martinshorn ein und aus. Bahnschranken gingen runter, als kein Zug kam, aber schon hoch, wenn der Zug gerade durchrauschte.
„Das wird uns allmählich zu gefährlich,“ behaupteten die alteingesessenen Ollenhauer. „Wir kennen das nicht von früher. Das muß an den Zugewanderten liegen.“ Eine Schuldige war schnell gefunden: Annelore. „Die ist evangelisch,“ war schnell beschrieben, was die junge, hübsche Frau zur Außenseiterin machte. „Die kann hexen.“ – „Die kann sich unsichtbar machen.“ – „Die kann Männer verhexen. Die ahnungslosen Jungen spielen dann verrückt und anderen Leuten Streiche.“

Wie das in der täglichen Praxis laufen soll, wußte zwar niemand zu sagen. Man ist ja schließlich nicht bei Asterix & Obelix, wo Miraculix der Druide Zaubertränke braut, die unbesiegbar machen. „Ich werde ihr das Böse schon austreiben;“ versprach Urban, der katholische Pfarrer vor Ort.
Doch Annelore schien das irgendwie mitbekommen zu haben. Als Urban laut betend Weihwasser versprengte, schreckte sie erschreckt auf. „Hilfe, er will mich zwangskatholisieren,“ rief Annelore, sprang auf und stieß versehentlich vehement gegen die tief hängende Deckenlampe. Die Haar standen ihr zur Berge, als die Birne platze und Annelore leuchtete.

Erst später stellte sich heraus, daß eine Mischung aus blühender, lebhafter Phantasie und fehlerhafter Elektronik zu den vielen Merkwürdigkeiten und zum Hinscheiden von Annelore führten. Seitdem lebt Ollenhau in selbst auferlegter Scham.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.01.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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