Ralf Glüsing

Drei für den Durst und drei für die Brust

Ich wohnte in dem kleinen Dorf Ribbesbüttel in einer Wohngemeinschaft auf einem ehemaligen Bauernhof. Gegenüber unseres Hofes befand sich der Bauernhof der Familie Meyer. In guter Erinnerung ist mir noch Opa Meyer, denn er war ein echtes Original, wie man ein solches heute nur noch selten antrifft. Er war damals schon über 80 Jahre alt und genoss sein Altenteil. Wer ihn einmal gesehen hatte, vergaß sein Gesicht nie wieder, denn auf seiner Stirn befand sich ein dickes Geschwür von der Größe und Form eines Golfballes, dennoch hatte er ein freundliches Gesicht. Vor Jahren noch sah man ihn exakt um 16 Uhr die Dorfstraße hinuntergehen, Richtung Imbiss. Hier kam er dann um 16.30 Uhr an, zu welchem Zeitpunkt der Imbiss öffnete. Für die 500 Meter benötigte er eine halbe Stunde, denn er war nicht mehr gut zu Fuß und musste etwa alle 100 Meter eine Verschnaufpause einlegen. Im Imbiss setzte er sich dann auf den Nachtspeicherofen und schimpfte dann zumeist, dass dieser nicht anständig warm war: „Helga, der Ofen ist kalt, ich werd mir noch den Tod holen!“ „Ach Onkel Meyer, wenn nachher die Bude voll ist, meckern alle, dass es zu warm ist!“ war die Antwort. Opa Meyer trank dann nacheinander drei Bier und zu jedem einen Korn. Diese musste er nicht bestellen, sie wurden ihm wortlos zu seinem Platz auf dem Nachtspeicherofen gebracht. Anderthalb Stunden nahm er sich gewöhnlich für seine Biere Zeit, dann musste er los, denn das Abendessen wartete und er brauchte ja eine halbe Stunde bis nach Hause. Ich glaube, er zahlte immer in bar, obwohl die meisten Gäste anschreiben ließen und dann am Monatsende ihre Zeche zahlten.

Mit der Zeit wurde ihm der Weg zum Imbiss zu weit, seine Kräfte reichten einfach nicht mehr aus. So ging er dann dazu über, sich seine Biere und Korn morgens beim Bäcker zu kaufen und sie mit nach Hause zu nehmen. Ja, hier gab es wirklich Bier beim Bäcker zu kaufen, denn der Bäckerladen war gleichzeitig auch ein winziger Tante Emma Laden. Etliche Waren in den Regalen waren jedoch schon längst abgelaufen und wenn man dann tatsächlich mal nicht auf das Haltbarkeitsdatum gesehen hatte und mit längst abgelaufener Ware an der Kasse stand, flüsterte Rosina, die hier arbeitete: „Nimm das besser nicht, das liegt schon fünf Jahre hier.“

Eines Morgens machte ich mich auf, um vom Bäcker Brötchen zu holen. Ich fuhr mit meinem Fahrrad die Dorfstraße hinunter, als ich Opa Meyer auf halben Weg zum Bäcker antraf. Er lehnte sich an einen Zaun und rief mich herbei: „Junge, ich schaff es nicht mehr zum Bäcker, ich hab keine Kraft mehr. Kannst Du mir was mitbringen? Drei für den Durst und drei für die Brust!“ Klar Opa Meyer.“ Ohne eigentlich so richtig zu wissen, was Opa Meyer denn nun eigentlich haben wollte, betrat ich den Bäckerladen. Ich nahm meine Brötchen entgegen und sagte: „Dann hätte ich noch gern drei Bier und....ähm, ja...“ Ich blickte auf das Schnapsregal. Welchen trinkt er wohl, dachte ich. „Für Opa Meyer?“ fragte Rosina, meine Gedanken erratend. „Ja“ sagte ich. „Der nimmt immer drei von diesen hier!“ Mit Bier und Korn fuhr ich dann zu Opa Meyer, der sich schon eine Etappe Richtung Zuhause weiterbewegt hatte. Schnell ließ er die Getränke in seinen Taschen verschwinden und drückte mir von dem Restgeld, das ich ihm gab ein Fünfmarkstück in die Hand: „Da, kauf Dir Zigaretten dafür!“ „Nee, behalt das man, ich mach das auch so!“ entgegnete ich. „Nee, nee is schon richtig so, hol Dir Zigaretten!“ Es half nichts, ich nahm das Fünfmarkstück.

Es geschah noch des öfteren, dass ich für Opa Meyer Bier und Korn mitbrachte. Ich konnte ihn zum Glück davon abbringen, mir jedes mal fünf Mark für Zigaretten zu geben: „Wenn Du mir dafür immer Geld geben willst, bringe ich Dir nichts mehr mit.“ Das half.

Eines Sonnabend Morgen schwang ich mich auf mein Fahrrad um mir Brötchen zu holen. Diesmal sollte es jedoch ins Nachbardorf Vollbüttel gehen. Hier gab es einen winzigen Tante Emma Laden. In diesem Laden bekam man fast alles, wenn man es denn vorbestellte. Ohne Vorbestellung konnte man hier jedoch immer Brötchen bekommen, die sogar von zwei verschiedenen Bäckern stammten. Man hatte also die Wahl. Ich kam unter anderem hierher, da ich die hier angebotenen Hillerser Brötchen besonders gern mochte. Zum anderen gab es hier die Sonnabendausgabe der Lokalzeitung zu kaufen und ebendiese gehörte für mich zu einem Frühstück am Sonnabend. Eines Tages suchte ich die Zeitung jedoch vergeblich: „Habt ihr heute gar keine Zeitung?“ fragte ich. „Doch, sind aber schon alle verkauft!“ entgegnete Frau L., die Ladeninhaberin. „Aber warte mal, vielleicht hat unser Vater ja schon unsere Zeitung ausgelesen, dann kannst Du die haben!“ sagte sie und verschwand durch die Hintertür, um einen Augenblick später mit einer Zeitung zurückzukehren. Natürlich musste ich sie bezahlen, schließlich war sie noch in einem guten Zustand.

Wie gesagt, ich wollte gerade nach Vollbüttel aufbrechen, als ich Opa Meyer sah. Er befand sich vor der Scheune neben dem Wohnhaus. Er machte mir Zeichen, dass ich zu ihm herkommen sollte. Ich radelte zu ihm hin. „ Bringste mir was mit, weißt ja: drei für den Durst und drei für die Brust?“ Nun ja dachte ich, den kleinen Abstecher zum Bäcker kann ich ja mal eben machen. „Klar!“ sagte ich also. Opa Meyer sah sich vorsichtig um. Dort wo wir standen, konnte man uns vom Wohnhaus nicht sehen. „Aber pass auf, wenn das weiße Auto oder der große Trecker auf dem Hof ist, dann ist dicke Luft, dann komm lieber später noch mal!“ sprach er. „Und fahr hier lang, damit sie Dich nicht sehen, die müssen ja nicht alles wissen!“ Er deutete zur Seiteneinfahrt des Hofes. Ich besorgte ihm die drei Bier und drei Korn und radelte zurück. Opa Meyer wartete schon ungeduldig an der Hofeinfahrt. Auto und Trecker waren nicht da und so übergab ich ihm seine Getränke und er drückte mir ein Fünfmarkstück in die Hand: „Heute holst du dir aber Zigaretten, heute war es brenzlich!“

Ich nahm die fünf Mark und kaum, dass ich wieder auf meinem Rad saß, rollte das weiße Auto auf den Hof. Opa Meyer verschwand in der Scheune. Wahrscheinlich, so dachte ich, wird er dort das Bier verstecken, damit die Flaschen nicht verräterisch in seinen Jackentaschen klimpern.

Ich fuhr nun nicht jeden Tag zum Bäcker, aber ich konnte beobachten, dass Opa Meyer fast immer irgendjemanden fand, der ihm zu seinem Bier verhalf oder wie er sagte:“Drei für den Durst und drei für die Brust.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.02.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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