Andreas Rüdig

Chronon-Bios

Rüsselburg ist ein idyllischer Ort und liegt etwas abgelegen in den Wäldern des Ruhrländer Waldes. Rüsselburg ist der einzige Ort weit und breit, in dem Uhren verboten sind.
 
„Ich bin es Leid, mich immer und überall hetzen zu lassen,“ entschied eines Tages Fürst Nepomuk Balthasar, der Landesherr. „Ich will selbst entscheiden, wann ich was mache.“
 
Bei einem Fürsten mag es ja noch egal sein, ob er sich um 8 oder 16 oder 24 Uhr aus dem Bette wälzt und wann er sich wieder hinein begibt. Er ist der Chef und kann machen, was er will.
 
Doch was ist mit seinen Untergebenen? Sind sie nicht an einem geregelten Tagesablauf mit Frühstück, Mittagessen, Kaffee und Kuchen und Abendessen interessiert. Bei vielen von ihnen sind solche Unsitten sicherlich in ihr Leben eingeschlichen.
 
An diesem Grund wurden die Uhren zuerst aus dem öffentlichen Dienst entfernt. „Der Arbeitstag ist zu Ende, wenn die tägliche Arbeit erledigt ist.“ So lautete der neue Grundsatz. Die drei Anträge auf dem Schreibtisch bearbeitet? Alle Briefe ausgetragen? Alle Aschentonnen geleert? In Ordnung. Dann ist Feierabend angesagt.
 
Zumindest im Schulunterricht bringt die fehlende Uhr Unruhe. Der Unterricht ist dann beendet, wenn der letzte Schüler seine Aufgaben erledigt und alles verstanden hat – das kann zu endlosen Diskussionen führen.
 
So allmählich verschwanden die Uhren auch aus dem privaten Leben. Geschäfte machten zwar – wie bislang – auch nur tagsüber auf, aber je nach Lust und Laune der Betreiben. „Ist ja eh´ nichts los,“ lautete eine Standardargument dafür, warum ein Geschäft geschlossen war. Verabredungen wurden nicht eingehalten, weil irgendjemand zu spät kam.
 
„Ich führe jetzt eine neue Zeiteinheit ein,“ entschloß sich Fürst Nepomuk Balthasar eines Tages. „Fünf Minuten der alten Zeit entsprechend ab jetzt drei Sektminuten. Die bisherige Stunde ist also ab sofort 12 Sektminuten lang.“
 
Chrononen sind hypothetische Elementarteilchen der Zeit. In der Physik sind Chrononen bislang nur vermutete Zeitquanten. Ähnlich den Quanten, die die kleinste Energieeinheit darstellen, sollen Chrononen die kleinste Einheit auf der Zeitebene darstellen. Die Größe der Einheit wird in der Regel mit 2×10?23 Sekunden angegeben. Durch diese „Zeitquanten“ könnten einige Unstimmigkeiten in der Quantenphysik ausgemerzt werden.
Das Chronon ist in der derzeitigen Ausdehnung wohl zu groß, um das tatsächliche kleinste Zeitmaß abbilden zu können: Das viel kleinere Intervall der Planck-Zeit (10?43 Sekunden) spräche auf jeden Fall gegen die derzeitige Annahme des bisher definierten Intervalls, da die Größe erheblich unter der des Chronons liegt.
Es ist schon spannend, die Erdlinge zu beobachten. Was machen die da bloß? Bislang war ihr Leben sehr schnellebig, so dermaßen schnellebig, daß wir Chronon-Bios dem nicht folgen konnten. Die Erdlinge bewegten sich so rasend schnell, daß sie ständig vor unseren Augen vorbeiflitzten und wir nicht mitbekamen, was sie überhaupt machten.
Nun hat unser Chef Dagobert enorme Veränderungen festgestellt. Die Erdlinge werden immer langsamer! Sie ruhen sich viel länger aus, machen länger Mittagspause, stehen später am Tag auf und gehen später in der Nacht zu Bett. Sie arbeiten weniger, sind gemächlicher, ruhiger, ja, man kann sagen: Sie sind faul geworden.
Wir müssen was unternehmen. Sonst sind die Erdlinge so starr geworden, daß sie uns Chronon-Bios noch entdecken. Doch was? Genau. Wir müssen uns ihnen zu erkennen geben und ihnen von uns erzählen. Nur so können sie erkennen, wie es ist, ein Chronon-Bio zu sein.
Hat Zeit eine Materie? Nein, bei den Erdlingen nicht. Wenn wir Chronon-Bios uns bemerkbar machen wollen, können wir uns also nicht alle zusammenrotten und sind dann mit dem bloßen Auge sichtbar. Wir sind bestenfalls ein kurzes Flimmern. Ob wir aber damit etwas anstellen können, mit diesem Flimmern? Vielleicht gelingt es uns ja, für einen kurzen Augenblick eine Botschaft zu übermitteln, etwa die Worte „Nicht schlafen!“ auf einer Leinwand, den Erdlingen eine Zipfelmütze um die Ohren hauen oder ein Schnarchgeräusch loslassen? Einen Versuch wäre es ja wert...
 
He – was war das? Hat da jemand gerülpst?
Nein, gefurzt.
Also bitte, Leute, das war eindeutig ein Schnarchgeräusch.
 
Huch – was war das? Mir ist so, als würde ich ständig das Wort Faulpelz sehen. Komisch, komisch, werde ich etwa alt?
 
Eine Zipfelmütze? Ein Schlafanzug für die Nacht? Wie kommen diese Bekleidungsstücke denn in mein Schlafzimmer?
 
 
„Der Beschluß, im privaten wie öffentlichen Leben keine Uhren mehr zu benutzen, ist ab sofort aufgehoben.“ Diesen Beschluß mußte Nepomuk Balthasar gestern öffentlich verkünden.Nachdem es in der Öffentlichkeit zu immer häufigeren Berichten über seltsame Phänomenen gekommen war, ist Unruhe in der Öffentlichkeit entstanden, die irgendwann auch den Landesherrn erfaßte. „Ich muß was dagegen tun.“ Doch was? Anfangs waren seine Ratgeber noch konfus und durcheinander. Was sollte man den Untertanen mitteilen? Daß Außerirdische zugange waren? Spione und Agenten am Werke? „Ach, Hoheit, wir können uns zu keinem Entschluß durchringen. Wir diskutieren und spekulieren – aber wir kommen zu keiner Entscheidung.“
Dies öffnete dem Landesherren die Augen. „Genau: Das ist es. Würdet ihr eine Uhr am Handgelenk tragen und unter Zeitdruck etwas unternehmen müssen, dann wäret ihr auch schon zu einer Entscheidung gekommen. Ich muß euch dankbar sein: Euer Faulenzerleben hat mir die Entscheidung abgenommen.“
Nach anfänglichem Murren ist bei den Rüsselburgern nun wieder alles beim alten. Und auch Dagobert ist zufrieden – er erkennt seine Rüsselburger wieder an ihrer alten Geschwindigkeit, auch wenn auswärtige irdische Besucher meinen, daß die Rüsselburger immer noch ein wenig gemütlich und bieder seien...
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.03.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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