Ronny Boch

Erschütterung mit roter Eleganz

Tanzen

Zeit ist vergangen, seit der Tango seine Heimat am Rio de la Plata verlassen hat, um den Menschen über den Ozeanen zu beiden Seiten, die kunstvoll bewegte Umarmung zu lehren und sie fortan nicht mehr loszulassen. In Argentinien oder Uruguay, in Elend und Einsamkeit einer Vorstadt, dort wurde er zuerst gesehen. Melancholie und das leidliche Verlangen in seinen Takten, Schritten und Texten haben sich von einst ins Hier-Und-Nun erhalten. Ein Miteinander ohne Füreinander verschiedener Volksgruppen und Kulturen hat ihn von Anbeginn künstlerisch geprägt, geformt. Mir scheint, es war tatsächlich seine Bestimmung, die Leute im leidenschaftlichen Zueinander eines Tanzes zu vereinen und sie also für ein weiter reichendes und höher reichendes Füreinander empfänglich zu machen. Ein Durcheinander hat er immer verabscheut. Insgesamt überraschte es mich nicht, als ich gehört habe, dass man ihn zum Weltkulturerbe ernannt hat; vor Freude möchte man tanzen.

Getanzt habe ich ihn unlängst auf einer Milonga, auf einer nur ihm gewidmeten Tanzveranstaltung. Zwei Dutzend Paare haben sich in Zweiviertel- und Dreivierteltakten, zum Spiel von Geige, Gitarre, Klavier, Kontrabass und Bandoneon, auf der bescheiden dimensionierten Tanzfläche maßvoll bewegt. Diese lebendigen Figuren, wie auf einem Kinderspielzeug haben sie sich durchwirbelt. Mir war eine elegante Tänzerin vergönnt – mit mediterranem Teint, in rotem Kleid, auf hohem Schuh. Derart Abbild zeitloser Ästhetik, im Ausdruck und in geschwungenen Formen. Irgendwer hatte sie wohl gemalt, bevor sie Wirklichkeit werden konnte. Wir tanzten den Tango, elegant auch und melodisch, wie das alte Latein, ganz so wie „tangere“ – „berühren“ und „tango“ – „ich berühre“ bedeuten können. Ich berührte sie und war berührt, von ihr und von der unerwarteten Vertrautheit unseres Tanzes. Und so aufgerührt suchte ich die Enge der Umarmung, suchte ich die Achse, den Schwerpunkt dieser Frau, was doch bei diesem Tanz so wichtig ist. Zwischen Schulter und Hüfte, im rechten Arm, und an der Hand zur Linken, hielt ich sie, war ihr nah. Eine Freude, weiter gesteigert, wenn uns der Zauber der Berührung an den Schenkeln oder Wangen unverhofft passierte.

So trieben wir tanzend die Kunst der Berührung. Ich führte die rote Eleganz über das erfrischend polierte Parkett. Gar nicht von uns lassen konnten unsere Spiegelbilder unter uns. Wir schenkten ihnen aber keine Aufmerksamkeit, diese Zweisamkeit war zu kostbar. Dieser Tanz war mehr vom Leben, lebendigste Form. Ein Führen und Zulassen, ein Spannen und Entspannen, Einatmen und Ausatmen, vielleicht Yin und Yang, eine sanfte Dynamik aus Mann und Frau. Raue Mechanik wagte unseren Tanz nicht zu verunstalten. Nicht fest, flüssig oder gasförmig, sondern alle Aggregatzustände zugleich waren wir. Ein Panta-Rhei, ein Alles-Fließt, eine Formel und Essenz sinnvoller Bewegung. Mein bisheriges Leben wirkte dieser neuen Erfahrung gegenüber verhalten bis bewegungslos; trotz meines ruhelosen Charakters.

Aus dem Paso basico heraus entwickelten wir die Schrittfolge zu einem Ocho atrás, zuerst linksseitig, dann rechts mit Übergang in eine zierliche Moulinette. Eine rückwärtige, in der Tendenz verwegene Sacada dazwischen konnte ich mir nicht verkneifen. Dann Ocho atrás in einen Cruzado mündend und aus dem Grundschritt im Zweiersystem weiters einen gut zentrierten Giro als Vorbereitung und Ruhe hin zu Ocho adelante, links und rechts, ein Gancho und Schritt und dann Barrida, sich wie selbstverständlich in einem weiteren Ocho adelante auflösend. Zwei Herzen schlugen auch in meiner Brust, so überaus zufrieden war ich mit der gelungenen Schrittfolge, über die lustvolle Auflösung in ihrem letzten Schritt. Nicht Raum und Zeit für Zweifel, in den Armen verwoben, Tango tanzend, hatten wir uns viel gesagt. In gemeinsamen Schritten – nicht Wort und Gerede – wie großartig und unverfälscht das Unaussprechliche hier sprach.

Lebendig, so lebendig war ich nie zuvor. Ich war erster Mensch, Tier und Pflanze, beinahe soweit, Photosynthese zu betreiben. Wiederkehrend und neu kombiniert pulsierten Klänge und Schritte durch meine Sinne. Ich war berauscht. Berauscht vom großen Spielraum auf kleinstem Raum, von so viel Freiheit in gemeinsamen Schritten, vom Wunsch nach Einsamkeit zu zweit. Ich war berauscht und ich war behutsam, denn durch den Tango kann man die Behutsamkeit als ein großes Lebensgeheimnis erkennen. In der Behutsamkeit erschließt sich doch die große Kunst, Kleinigkeiten auszureizen. Und wer die Kleinigkeiten auszureizen versteht, versteht es große Kunst zu machen, versteht die Bewegung und Umarmung des Tango, versteht was weiter geschehen ist.


Wandelbare Energie
 
Feinfühlend, einen etwas langsameren, dreivierteltaktigen Tango-Vals als Gönner, führte ich die rote Eleganz ihrer Verführung entgegen. Taktvoll aber deutlich spürbar, legte sich meine rechte Handfläche schlüssiger um ihre Hüfte. Reize, zaghaft und köstlich, durchflunkerten sogleich das fein verästelte Nervengewebe meiner Hand, reizten mich in Haut und Hirn, in Blutdruck und Gedanken. Reizvolle Frau, dachte ich in einem ganz flüchtigen Moment, näherte mich mit Wange und Ohr, die behutsame Berührung ihrer empfindlichen Schläfe erwartend. In solcher Nähe durchschlich mich ihr bezaubernder Geruch, auch diesen Sinn vermochte sie zu fesseln, zu rauben. Nicht ein gut gewähltes Parfum, ein Geniestreich von Alchimisten in Kittel und Labor, sondern ihr ganz eigenstes Lockmittel kam mir sehr entgegen. Zwischen ihrem Genick und den Schultern, daher schien es zu kommen. Organische Chemie der Düfte, die duldet keinen Einspruch. Nicht nur in gemeinsamen Schritten waren wir also harmonisiert, auch unbestechliche Hormone beider Körper drängten auf die Vereinigung. Gegen diese Frau war ich nicht immun. So führte und begriff ich unseren gemeinsamen Tanz, den Tango, seine Umarmung und seinen Sinn. Sinnvoll war in diesen Stunden alles, jedes Molekül an seinem Platz. In all ihren Facetten, erinnerte mich die Körperhaltung dieser roten Eleganz an den Aufbau eines glanzvollen, wertvollen Kristalls. Ihre Ausstrahlung reflektierte alle Wellenlängen. Nur vermeintlich für ein stilles Betrachten gewachsen, scheute sich der Kristall vor meiner Berührung und angreifenden Blicken nicht. Weitere Schritte schienen unserem Tanz vorher bestimmt.

Er war scheu und in seinem Geschehen doch nur konsequent, also der erste Kuss. Er war der rote Faden in einem wirren Gedankenknäuel, das diese elegante Frau in rotem Kleid den ganzen Abend eng umschloss. Solcher Art war er keine nur wahrgenommene Option – das ist wichtig – sondern selbst Bewegung und Ausdruck eines gelungenen, unseres Tanzes. Viel mehr als eingeübte Schritte in feinem Gewand, viel mehr als eine mit Musik verzierte Zerstreuung unserer erwachsenen und doch ängstlich-zurückhaltenden Seelen. Dieser Kuss ließ sich aus dem Tanz herleiten, beide – Kuss und Tanz – hatten dieselbe Signatur im Vokabular der hier erzählten Geschichte, dieselbe Hingabe an den Aufbau eines großartigen Moments. Der Tanz, der Kuss, vielleicht zwei verschiedene Formen von Energie, überaus lebendiger Energie, Lebensenergie. An dieser Stelle der Zeit im Raum, an diesem spätsommerlichen Abend im goldgelblichen Licht der Milonga, war die Energieform des Tangotanzes schrittweise wie mühelos, in die Energie dieses Kusses verwandelt worden.


Erschütterung

Unerwartet und allseits fühlbar, blieb es nicht dabei; mehr Energie wurde umgewandelt, ein Teil davon wurde heftig frei. Meine Hände zitterten, die Beine auch. Nicht von meinem ruhelosen Inneren her, sondern von unentrinnbaren äußeren Kräften verursacht. Waren es zuvor Herz und Lippen, die stürmisch und drängend bebten, so bebte nun der Boden unter unseren Tanzschuhen. Und über unseren Köpfen, begannen die schweren aber anmutig schönen Kronleuchter des festlichen Saales erst seitlich, dann zunehmend elliptisch, zu pendeln, zu oszillieren. Die länglichen, teils komplex geschmiedeten Ohrringe mancher Damen mimten das imposante Geschaukel in reduziertem Maßstab nach. Auch der Ohrschmuck der roten Eleganz gehorchte den sinusförmigen, alles erfassenden Wellen des unerhört heftigen Bebens. Gebannt und in veränderter Weise innig, sah ich in ihr nun ängstliches aber nicht weniger edles und mich anziehendes Gesicht. Einige Gesichtsmuskeln nahmen erst jetzt an ihren Gesichtszügen teil, den ganzen Abend waren sie im Verborgenen, im Ausdruckslosen geblieben. An einigen Stellen ihres Gesichts, in Zahl und Anordnung stets symmetrisch, legte sich ihre leicht gepuderte Haut kunstvoll zierlich in unerwartete Fältchen, in kleine Wellen eines noch jugendlichen Antlitzes. Ein altgriechischer Bildhauer hätte in dieser Frau, er hätte in diesen Momenten eine überaus rare Gelegenheit vorgefunden, das Körperlichwerden der Angst mit dem Beständigen eines Charakters in einer einzigen Statue zeitlos auszudrücken. Könnte ich es, es wäre mir eine dringende Inspiration und Aufgabe gewesen. Schnellstmöglich hätte ich angefangen, hätte das unerwartet Schöne der uns Menschen manchmal plagenden Angst durch die Mimik und den Habitus dieser Frau in einer liebevoll gefertigten Statue statisch-dynamisch verherrlicht. Nun gut, zumindest war es mir während dieser Schreckensmomente vergö! ;nnt, ei ne kleine ästhetische Freude vorzufinden, eine von höchster Güte, wie sie nur dem stillen aber neugierigen Beobachter zugänglich ist. Doch ich war gleichfalls erschüttert und solch‘ lange Gedanken reißen in Schreckensmomenten besonders leicht ab.

Das Erdbeben hat einige Verwirrung angerichtet, leicht vorstellbar. Die geordneten Tangoschritte auf dem Tanzparkett wichen einer hektischen Unordnung unbeholfener Richtungswechsel, Ausdruck allgemeiner Ratlosigkeit. Minuten zuvor, hätte man diesen, in ihren Schritten zentrierten Menschen, ein solches Gewimmel nicht zugetraut. Ein Tänzer, in fein polierten Lackschuhen aufgebaut, stürzte ganz unfein über einen mit rotem Samt überzogenen Holzsessel. Ich konnte aus wenigen Metern Entfernung nicht beurteilen, ob es der Sessel, der Parkettboden oder Knochen des Aufgescheuchten waren, die in der Folge bedauerlich knarrten. Das zelebrierte und paarweise Schreiten war zu einem egozentrischen Springen verkommen. Und im festlichen Saale sprangen, eins ums andere, die Fenster aus ihren Rahmen und zerschellten. Manche leicht und in tausend Stücke, andere widerständig und als große Fallbeile dem hölzernen Parkettboden unheilbare Wunden zufügend. Gerne würde ich berichten, dass keiner der Tänzer, keine Menschen zu Schaden kamen; die kleineren Glassplitter – gleich Granatensplitter für manche unbedeckten und lang gestreckten Damenbeine. Beinahe erreichter Makellosigkeit wurde arg zugesetzt. Selbst höchst gepriesene und teuerste Salben boten keine Aussicht auf Heilung der vom Glas Getroffenen, von Mitleid Betroffenen. Ob der etwas beleibte aber durch und durch südländisch ausstrahlende Tänzer, den in meiner Erinnerung bleibenden Treffer eines metergroßen, ebenso unförmigen Fensterstücks überlebt hat, muss ich der wohlwollenden Lebensbejahung entgegen bezweifeln. Das Glas überfiel den vom Beben Taumelnden in ungünstigem Winkel. Im Gegensatz zu den edlen, in geistlichem Violett gehaltenen Samtvorhängen im Saal, lagen die abendlichen Kleider der Tanzenden vielfach in Fetzen. Am niederschlagenden Glas aus hohen Wänden lag das nicht. Vielmehr am angsterfüllten Klammern und Reißen der! flü ;chtenden Tanzpartner. Einige Male bereiteten mir flüchtige Blicke großen Schrecken. Durchwegs konnte ich aber bei angestrengtem Hinsehen feststellen, dass nicht Arme abgerissen waren, sondern bloß der eine oder andere Ärmel vom Hemd. Zerrissen waren Kleider, Risse durchzogen die Saalwände wie Adern. Mit jedem Stoß, jedem Entkrampfen der Erde unter unseren Tanzschuhen, wurden diese Krampfadern an den Wänden mehr. Ein bizarres Geflecht, passend zur bizarren Situation. Risse, teilweise so tief und weit, dass man das rötlich gefärbte Ziegelmauerwerk, die Innereien des festlichen Gebäudes, in den Saal klaffen sah. Übel erfasste diesen Saal zunehmend an allen Stellen und übel war mir zumute. Man konnte nur hoffen, dass sich die Natur gleich wieder als Lebensraum verhält.
 

Flucht nach vorn

Fliehen, dem Verfall um mich den Rücken kehren und ganz schnell fliehen, noch war es nicht zu spät. Viel Zeit war durch meine neugierigen Beobachtungen abhanden gekommen. Oder auch nicht, denn Eindrücke mitzunehmen, dafür lebt man wohl. Anderes lohnt sich auf die Dauer nicht als Gepäck. Die große Flügeltür im Saal war überraschend schnell passiert. Einige Tangueras und Tangueros durcheilten diese wichtige Schleuse in eine Zukunft zur selben Zeit wie ich, aber zu bedrohlichen Behinderungen oder verheerenden Verkeilungen kam es nicht. Im Drunter und Drüber gab es untereinander also zumindest stellenweise ein vorwärtsstrebendes Nebeneinander. Erwähnenswerte Mühe bereitete mir aber der Stiegenabgang. Treppen, gefertigt aus dunkelgrünem, grob kristallisiertem Prasinit (eine eher düstere Wahl für den ansonsten hell verfassten Korridor), diese Treppen unterstützten meine Flucht flotten Schrittes nicht. Auch unter ihnen tobte ja das Erdbeben, auch jetzt, da ich eine um die andere übereilen wollte. Von den Erdbebenwellen selbst in Wellen gelegt, verkippt, gebrochen und im mittleren Teil besonders abgeneigt, zerstörten die so vorliegenden Stufen die Logik und schlichte Mathematik meiner raschen Schrittfolge. Dem Stürzen nahe aber mit starkem Willen abgeneigt, musste ich manchem Muskel in meinen Beinen jede seiner einzelnen Fasern bewusst werden lassen. Mehreren bedrohlichen Abstürzen wurde heftig Widerstand geleistet. Wie von einem Betäubungspfeil getroffen, die letzten Schritte aus der Hüfte quälend, trudelte ich vor das große Eingangsportal des stattlichen Gebäudes. Hinter mir im durcheilten Korridor flackerten die mit verlässlichem Gleichstrom betriebenen Kristallluster verärgert und gehässig. Letzte Lichtblitze zuckten und jagten zwischen den plan geschliffenen Kristallgläsern. Jagdtrophäen an den umliegenden Wänden, bleiche Gämsenschädel mi! t kleine n knorpeligen Geweihen und diagonal platzierte, zum Boden hin gestriegelte Felle von Rotwild und wildem Schwein, waren in diesen Minuten unheimlicher als je zuvor. Nur scheinbar waren sie durch Tod und Schrecken erstarrt. Hinter meinem Rücken schienen sie sich Verbotenes zuzuflüstern.

Dann war es finster im Haus; der letzte Tanz bereits im Dunkel einer noch frischen Vergangenheit, der Planet unter und über mir wieder still und nicht mit unentrinnbaren Wellen um sich schlagend und schockend. Am steinernen Rand eines luftschlössern verspielten Brunnens vor dem Gebäude machte ich Rast, fasste regelmäßigen Atem und umsichtig formulierte Gedanken. Der Brunnen war ein wenig zu den Gartenanlagen hin verkippt, der Sockel in seiner Mitte aus dem Lot geneigt. In ihm war das Wasser von der neu verordneten Geometrie unbeeindruckt, behielt seine gewohnt ausgeglichene Lagerung bei; in der Tiefe etwas kälter als an der Oberfläche, der wässrige Spiegel wagerecht, eben und glänzend wie die hängenden Kristalle im zerrissenen Gemäuer vor meinem staunenden Gesicht. Staunen musste ich angesichts des Elends der vormals so edlen und zierreichen Fassade des prächtigen Ortes. Das Erdbeben (seine in Zahlen gebannte Stärke auf der logarithmischen Richterskala erfuhr ich erst später), hatte nicht bloß unnötigem Zierrat zugesetzt, sondern tragende Strukturen und Zementverbindungen aufgerüttelt und der Schwerkraft zugänglich gemacht. Auf unabsehbare Zeit wird das Gebäude den Tango nicht beherbergen können. Der jetzt im Dunkel liegende Parkettboden wird keine von Tänzerinnen begangene Tanzschuhe und deren erhöhte Absätze zu spüren bekommen. Keine Hände werden bestimmt aber höflich, wertschätzend die rastenden Damen zum Tanz fordern. Und keine Kristallluster werden die über Jahre gereifte aber unablässig leidenschaftliche Bewegungskunst des argentinischen Tangos beleuchten und aus sich selbst heraus erstrahlen lassen. Alles das war nahe liegend, all das lag in Trümmern vor mir. Faszinierend und beängstigend, welche Kontraste innerhalb weniger Minuten möglich waren; Bilder in meinem Kopf, Bilder vor und nach dem einschneidenden, Gedanken und Räume zerre! iß enden Beben. Bilder, allesamt bleibend, allesamt Puzzlestücke gemachter Erfahrung, allesamt wertvoll als ein jedes für sich und gemeinsam als lebendige Vergangenheit. Solche Bilder und Erfahrungen, nicht mehr und nicht weniger, dürfen wir schließlich mitnehmen, wenn die überall und zu jeder Zeit lauernde Vergänglichkeit unser eigenstes Lebensgebäude ins Wanken bringt und letztlich vom Erdboden verschluckt. Eben so, wie es immer der Fall war, wie es allenfalls im Zeitpunkt, nicht aber im Eintreten überraschend ist. So bleiben mir von diesem besonderen Tanzabend die schönen und die schauerlichen Bilder. Es bleibt die erste Begegnung mit einem Häuser und Seele gleichermaßen erschütternden Erdbeben, ein mich unerwartet aufrüttelndes Zuzwinkern noch rücksichtsvoller Sterblichkeit.


Und die rote Eleganz?

Sie war mir real, Figur in einer von Niemandem zuvor durchlebten und niemals wiederholbaren Schrittfolge – real wie das heftige Beben – und hat mich in kurzer Zeit ähnlich erschüttert. Verliebt? Hatte sie mehr als einige wunderbare Bilder, Impressionen hinterlassen? Auch von mir selbst musste ich mir diese Frage gefallen lassen. Und jedenfalls feststellen, dass da ein Sammelsurium diffuser, bedrückender wie beglückender Gefühle war. Vorzüglich hatte solches Gefühlswirrwarr das Beben überstanden, war vielmehr in seiner traurigen Färbung aus den vor mir liegenden Trümmern hervor gekrochen. Ohne Verzierung gesagt, ich habe an dieser Stelle bereits nicht mehr mit einer Wiederbelebung dieser flüchtigen Bekanntschaft geglaubt. Kurz nach dem Einsetzen der Erdstöße hatten wir uns im panischen Allerlei der jäh unterbrochenen Milonga verloren. Im Taumel der Flucht über taumelnde Stiegen hatte ich die rote Eleganz hinter mir gelassen. Und Weniges blieb an diesem überwältigenden Abend unversehrt. Sie, die schöne Tänzerin vielleicht doch, dachte ich mir selbst wohltuend. Rosen verblühen allmählich, kurzfristigen Bedrohungen begegnen sie mit ihren Dornen. In voller Blüte stand die schöne Rote, das hat man meinen Worten entnehmen können. So saß ich überflutet von Gedanken und Gefühlen am unheilbar lädierten Brunnen.


Ausgeschlafene Welt

Hat eine solche Geschichte schließlich ein Ende? Oder darf nicht alles zur Kunst sich Neigende, jeder Versuch das Zeitgemäße als Zeitloses darzustellen, nach vorne und nach oben offen sein. Die Schrittfolgen des Tangos sind in ihrer Kunstfertigkeit offen, von einer zeitlos einfachen Grammatik bestimmt. Nicht anders, wie all die herzhafte Musik, lebhafte Dichtereien. Allesamt verführerisch offen. So erweist sich die rote Eleganz vielleicht als frei erfunden und tanzt uns als schönes Bild ein Lächeln und Nachdenken ins Gesicht. Mir tut sie es, mir ist sie vertraut geworden, ich kenne sie. Man begegnet sich, begeistert sich füreinander und reicht sich für eine unbestimmte Weile die Hände in einem alles andere überragenden Tanz im Gleichgewicht. Jeder gemeinsame Schritt, leicht mit schwerer Bedeutung, wiederholter Ausdruck eines ersten Eindrucks. Die rote Eleganz – weniger als ein aufrichtiges Gefühl und Geheimnis will sie mir nicht sein. Real oder nicht, für mich oder wen? Kann man solche Figuren aus Träumen in die ausgeschlafene Welt holen? Wie oft müssen solche Vorkommnisse geschrieben und gelesen werden, bevor sie aus einer eigenen, in eine äußere aber fremdartige Welt übertreten? Auch diesmal werde ich das Blatt voll schreiben, die Geschichte einem ausreichenden Ende entgegen drängen, sie dann nochmals durchlesen. Es sieht heute nach Regen aus. Hier im Garten ist das durchaus relevant. Soeben tritt sie aus der Tür, sieht gut und grimmig aus. Für mich ebenfalls relevant. Die Tabletten habe ich aber genommen, das wird diese weiße Eleganz wohlwollend stimmen. Vielleicht darf ich später noch etwas schreiben. Wie will man dieser allzu verschlossenen, klinischen Welt sonst entwischen?

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.03.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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