Diethelm Reiner Kaminski
Leichtgewicht
Trotz großer Bedenken habe ich meiner Tochter ihren langgehegten Geburtstagswunsch erfüllt. Ich weiß nicht so recht, ob es für eine Fünfzehnjährige ein ungewöhnlicher oder ein ganz normaler Wunsch ist. Sie wollte unbedingt, dass ich sie in die Modenschau des Maestro Pelegrino ausführe. Der bekannteste Modedesigner Italiens, wenn nicht gar Europas. Mich muss sie dabei notgedrungen in Kauf nehmen, denn Jugendliche sind nur in Begleitung eines Erwachsenen bei der Show zugelassen, wohl in der Annahme, dass Minderjährige nicht über das notwendige Kleingeld verfügen, die sündhaft teuren Kollektionen zu kaufen. Auch ich könnte sie mir, wäre ich eine Frau, nicht leisten, aber das muss ich ja niemandem verraten. Für die beiden Eintrittskarten, die fast mein halbes Monatseinkommen verschlungen haben, musste ich lange sparen, aber ich wollte meinem Töchterchen ihren Herzenswunsch nicht abschlagen. Möglicherweise hat ja so eine live-Veranstaltung auch einen positiven Effekt auf die wirren Vorstellungen und Träume eines Teenagers. An den vorgeführten Kreationen ist meine Graziella weniger interessiert. Sie ist fasziniert von den Bachstelzen, die sie vorführen. Das sind ihre Idole, vor allem was deren Figur betrifft. Graziella leidet nicht nur unter ihrem Babyspeck, sie arbeitet verbissen daran, ihn endlich loszuwerden, damit sie in die Fußstapfen der Models treten kann. Sie versagt sich jeden schmackhaften Bissen und ist ganz auf Rohkost umgestiegen, verzichtet selbst auf Schokolade, Eis und Kuchen, da hilft es auch nicht, wenn ich ihr immer wieder beteuere: Ich mag dich so, wie du bist.
Du vielleicht, aber ich nicht. Der Weg zum Ruhm ist steinig. Wer schön sein will, muss leiden, und ähnliche Sprüche, die sie sich in den Modezeitschriften angelesen hat, pflegt sie dann zu klopfen und ist durch kein Argument von ihrer Überzeugung abzubringen.
Ich könnte die Träume meines Töchterchens mit einem Axthieb zertrümmern, aber so grausam möchte ich nicht sein. Und so behalte ich das Argument Deine Beine sind für ein Model viel zu kurz und krumm lieber für mich und gebe mich der Hoffnung hin, dass die Flausen einer Fünfzehnjährigen mit der Zeit vergehen und Graziella von alleine einsieht, dass eine gnädige Natur sie nicht zum Model bestimmt hat.
Die Überraschung ist geglückt. Graziella hat sich selig in den dunkelblauen Sessel eingekuschelt und verfolgt gebannt die auf dem Laufsteg vorbei paradierenden Models, die fast nur aus Beinen, Haut, Make-up und Knochen bestehen.
Hoffentlich bricht der Laufsteg nicht unter diesen Schwergewichtigen zusammen, flüstere ich Graziella zu. Darüber kann sie gar nicht lachen. Vermutlich nimmt sie heimlich Maß, wie viel Zentimeter Bein ihr noch bis zur perfekten Figur fehlen, oder berechnet, wie viele Kilo sie sich noch abhungern muss, damit Hüftspeck, Po und Busen schrumpfen.
Bei denen muss man ja Angst haben, dass sie in der Mitte auseinanderbrechen, kommentiere ich, womit ich mir nicht gerade Graziellas Wohlwollen einhandle. Für sie verkörpern die mit hoch gereckten Giraffenhälsen auf und ab stolzierenden Bohnenstangen das höchste für eine Frau erreichbare Glück.
Wie berauscht wirkt Graziella, als wir nach zwei Stunden das Fünfsternehotel verlassen, in dem die Modenschau stattgefunden hat.
Ich habe noch eine Überraschung für dich, sage ich.
Etwa einen Ausbildungsvertrag bei Pelegrino?, scherzt Graziella
Da musst du dich wohl noch ein bisschen gedulden, sage ich, und erst mal Abitur machen. Nein, ich habe einen Tisch reservieren lassen im Capriccioso, da gibt es die besten Pasta-Gerichte und köstliche Desserts. Schließlich hast du heute Geburtstag, und da wollen wir uns so richtig was gönnen.
Jetzt willst du mich aber ärgern, faucht Graziella mich an. Wir können da gerne hingehen, wo du nun schon reserviert hast, ohne mich zu fragen, aber versuch bitte nicht, mich mit diesen schrecklichen Dickmachern zu füttern. Für mich bitte nur einen Salat ohne Öl und ein Mineralwasser, du kannst dich ja vollstopfen, mit was auch immer du möchtest.
Zwecklos, gegen Graziella an zu reden. Es war ein Fehler, ihr ihren Herzenswunsch zu erfüllen. Der Besuch der heutigen Modenschau scheint sie eher noch in ihrer fixen Idee bestärkt zu haben. Jetzt kann nur noch irgendein Junge helfen, in den sie sich verliebt und der Wert darauf legt, dass an einer Frau etwas dran ist.
21.03.2015
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.03.2015.
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