Ronny Boch

Relativ gelassen gegen den Uhrzeigersinn

Das Stempelkissen lag neben dem Stempel. Darunter lag es kaum. Zwei Gegenstände für sich, einer nutzlos ohne den anderen. Sein Schreibtisch regte zum Denken an. Würde er den Stempel ins nahe Regal stellen, um mehr Platz auf dem Schreibtisch zu haben, dann wäre dies nur sinnvoll, wenn er auch das Stempelkissen ins Regal stellen würde. Denn wäre nur einer dieser Gegenstände im Regal, der andere aber auf dem Schreibtisch, so müsste er, um eine Tätigkeit zu vollziehen – in diesem Falle einen Stempelabdruck zu schaffen – zwei gründlich verschiedene Orte aufsuchen. Vom physiologischen Aspekt her betrachtet wäre das wenig sinnvoll. Sein Körper würde unnötig Kohlehydrate oder Lipide oxidieren, Nährstoffe verbrennen und Energie erzeugen müssen – eine notwendig vorgerückte Nahrungsaufnahme wäre die absehbare Folge. Er aber war keine spontane Person, da wollte er sich nichts vormachen. Eine derartige Verschiebung der Nahrungsaufnahme kam nicht in Frage. Stempel und Stempelkissen also am besten unverändert am Schreibtisch belassen, dachte er bei sich. Draußen gingen Leute am Fenster vorbei. Er wohnte im Parterre. Die bekamen von solchen Überlegungen nichts mit und er wollte sie damit nicht belästigen.

Das Telefon läutete, zerfetzte einen Gedankengang. Lustlos griff er zum Hörer. „Jawohl“, sagte er sachdienlich.
„Was soll ich mit deiner Zahnbürste machen?“, rasselte es am anderen Ende.
„Wirf‘ sie weg!“, gab er zu Verstehen und legte den Hörer nun lautlos auf.
Claudia hatte er in einer Bar, gleich gegenüber einer anderen Bar, kennengelernt. Sie hatte blonde Haare und bewegte sich gazellig. Derart kam eines zum anderen, derart kam es dazu. Er konnte auf diese Zahnbürste trotzdem und künftig verzichten.

Konzentriert schaute er auf die Uhr. Viertel nach vier, auf die Minute, das Ablesen des Sekundenzeigers erübrigte sich. Wer oder was hatte den Uhrzeigersinn festgelegt, die Frage im nächsten Augenblick. Ist es eine menschliche Konvention oder von der Astronomie her ableitbar? Die meisten Planeten drehen sich im Uhrzeigersinn, waren sie vielleicht das zugrunde liegende Muster? Die Venus dreht sich nicht im Uhrzeigersinn. Ist ihr Verhalten weniger sinnvoll? Digitale Uhren haben keinen Uhrzeigersinn und dennoch scheint uns die gezeigte Zeit nicht weniger sinnvoll. Atomuhren haben auch keinen Uhrzeigersinn, gelten sogar als die genauesten Uhren. Er kam also zum Schluss, dass der Uhrzeigersinn sinnlos im Sinne des Sinns von Zeit war. Die Zeit brauchte keinen Uhrzeigersinn. Falls sie überhaupt einen Sinn zu ihrem Sein brauchte, dann gewiss nicht den Uhrzeigersinn. Das viele Sinnieren verlief im Kreis.

Erneut klingelte das Telefon. Diesmal passte es vorzüglich. Sein Gedankengang hatte ein harmonisches Ende gefunden, war zielstrebig in eine zufriedenstellende Schlussfolgerung gemündet. Beschwingt griff er zum Hörer. „Hallo“, sagte er kraftvoll, den Anfang des Wortes tonmäßig auf einem eingestrichenen C beginnend, sich über den Mittelteil mittels girlandenartigem Glissando bis zu einem F2 hoch arbeitend, letzteres das Ende seiner Grußworte vertonend. Es war also ein akustisch farbenreiches, unkritisch-wohlwollendes „Hallo“. Durchaus auch ein fragendes, neugieriges „Hallo“. Relativ überschaubare Redekunst folgte.
„Hier ist Milena“, lieblichte es am Ende der Leitung.
„Hier ein Mann, der sich nach dir sehnt“ – unmittelbare Gegenrede und von alltäglichem Überdruss ohnehin keine Spur.
„Wir sollten solcher Sehnsucht ein Ende bereiten!“
„Ja, sollten wir.“
„Hol’ mich gegen acht Uhr ab! Bis dann.“
„Bis gleich“, wieder er und ließ den Hörer unerhört verliebt aufs Telefon gleiten.

In einem Lokal an der Ecke Sonnenstraße-Zaubergasse hatte er Milena kennengelernt. Am zwölften Dezember, kurz nach elf, wechselten sie erste und eindringliche Worte. Ein langes, ein schwarzes Abendkleid hatte sie an sich, sternförmig gefasste Halbedelsteine an den Ohrläppchen. Artig kam sie vom Theater, die Zauberflöte von Mozart war aufgeführt worden. Ihre mäßig langen, feinlockigen Haare gingen eine gewaltige Symbiose mit dem schwarzen Kleid ein. Das linke Bein hatte sie über das rechte geschlagen, das Kleid in reglos lebendige Wellen legend – perfekte Wellen, wie sie sonst in einem von gleichförmigem Wind berührten Ozean auftreten. In seinem Herzen stürmte es. Eine Königin der Nacht, ihr gehörte die Bühne. Und wäre sie nicht selbst ein schönster Gesang gewesen, dann hätte er ihr die Sterne vertont.

Sein Blick suchte die Uhr – fand sie auch. Fünf war es jetzt. Bis Acht also noch relativ viel Zeit. Relativ viel im Verhältnis zum ungeduldig ersehnten Wiedersehen. Relativ wenig Zeit aber, um von Sydney nach New York zu reisen, dachte er weiterhin. Merkwürdige Verhältnisse in dieser Welt. Relativ gelassen lehnte er sich zurück, in den Sessel, der vor seinem Schreibtisch stand. Einem Verhältnis mit Milena stand nichts im Wege.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.03.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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