Die Straße, in der Hans aufwuchs, war eine typische Straße, wie sie in norddeutschen Großstädten der 50iger Jahre des 20igsten Jahrhunderts zu tausenden zu finden waren. Es gab alte Häuser, gebaut um 1900 herum, sowie einige nach dem 2. Weltkrieg wieder aufgebaute Gebäude und schließlich noch übrig gebliebene Ruinen. Im Hintergrund fuhr auf der einen Seite dicht an den Höfen die Eisenbahn auf einem Damm vorrüber, der Block auf der anderen Seite bildete die Endschleife der Straßenbahn, die den Stadtteil mit der Innenstadt verband. Es gab einen Blumenladen, eine Fleischerei, einen Lebensmittelladen, sowie weiterhin ein Gemüse-und Obstgeschäft und sogar eine Heißmangel. Dies alles zusammen machte das Revier aus, durch das Hans zusammen mit seinem Freund Pitze täglich streifte. Sie kannten alle hier und alle kannten sie. Eine Besonderheit in dieser Straße war der kleine Laden von Frau Manck. Es war eine Kunststopferei, in der sie jeden Tag Kleidungsstücke so geschickt reparierte, dass man am Ende das Loch oder den Riss nicht mehr erkennen konnte. Manchmal bat sie die beiden Jungen, kleinere Besorgungen für sie zu erledigen und als Belohnung dafür durften sie ihr bei der Arbeit zusehen, aber nur, wenn sie still waren und nicht herum alberten. Sie taten dies gern, vor allem weil Frau Manck auch immer dazu eine Geschichte erzählen konnte. Zum Beispiel die von dem Stopfei, das sie immer benutzte. Es war aus weißem Porzellan, größer als ein Hühnerei und ungewöhnlich schwer. Als die Jungen sie fragten, warum dieses Ei ein derartiges Gewicht hatte, tat Frau Manck sehr geheimnisvoll, was ihre Neugier natürlich erst recht weckte. Sie baten und bettelten, bis sie die dazu gehörende Geschichte erzählte. Demnach war das Ei schon seit sehr langer Zeit im Besitz ihrer Familie. Angeblich hatte ein Vorfahr von ihr es bereits im 16. Jahrhundert aus Südamerika mit gebracht, wobei es allerdings zu dieser Zeit noch vollkommen aus Gold gewesen sein sollte. In ihrer Familie wurde es von Generation zu Generation weiter gegeben, dabei immer versteckt gehalten, um es für sogenannte "schlechte Zeiten" aufzuheben. Erst viel später hatte ein findiger Verwandter von ihr das Ei mit weißem Porzellan umhüllen lassen, um es so endgültig den Augen der Öffentlichkeit zu entziehen und es für alle Zeiten zu verstecken. Es landete schließlich im Nähkorb und irgendwann in Frau Mancks Kunststopferei. Inzwischen glaubte natürlich niemand mehr so richtig an diese Geschichte, und auch die beiden Jungen waren skeptisch. Aber Frau Manck lächelte geheimnisvoll und wiegte ihren Kopf hin und her, als wollte sie sagen: "Wer weiß? Wer weiß?"
Viele Jahre später traf Hans während eines Besuchs in seiner Heimatstadt den Pastor auf der Straße, in der er aufgewachsen war. Der erzählte ihm unter anderem, dass Frau Manck vor kurzem verstorben war. Sie hatte bis zuletzt in ihrem Laden gearbeitet, sodass dieser nach ihrem Tod von Verwandten ausgeräumt werden musste. Unter ihren Sachen hatten sie dabei auch ein großes weißes Stopfei gefunden. In dem allgemeinen Durcheinander war es dann auf den steinernen Fußboden gefallen, die äußere Porzellanhülle war abgeplatzt, und ein Ei aus purem Gold, das darin versteckt gewesen war, war heraus gerollt.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.04.2015.
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