Joachim Ehlert

Ein verkleckster Nachmittag


Regenschauer prasselten gegen das schräge Dachfenster; von jähen Windböen getrieben, eilten die Tropfen das Glas hinab.
Es regnete bereits den ganzen Vormittag. Tobias hatte Langeweile, und das sah man: an den zerzausten Haaren, dem glasigen Blick, den geröteten Wangen vom Aufstützen des Kopfes in den Händen und den unruhig zappelnden Füßen. Was könnte er tun? Vielleicht lesen? Seine Lieblingsbücher, Der schwarze Rächer, Der Schatz der Mondpiraten und Der fliegende Hubert, lagen mehr als mitgenommen inmitten eines Gewirrs diverser Gegenstände in der Ecke des Kinderzimmers, doch heute vermochte nichts, Tobias’ Interesse zu erwecken. Die Welt war ein Jammertal.
Seufzend ließ er den Blick im Zimmer schweifen – und blieb an dem kleinen grünen Fleck hängen, welcher schon seit einigen Tagen die Tapete über seinem Schreibtisch zierte, genauer gesagt, seitdem Tobias beim Entwurf eines Piratenschatzplans die grüne Farbe mit Schwung über den Papierrand hinaus befördert hatte. Sah er etwa richtig? Da streckte und rekelte sich besagter Fleck, blickte in seine Richtung, räusperte sich und fing zu allem Überfluss auch noch an zu sprechen! 
„Junger Freund, zunächst einmal vielen Dank, dass du mich aus deinem Bild herausgeholt hast, sonst müsste ich mein Dasein als grüner Edelstein im Piratenschatz fristen – wie öde! Es war sehr zuvorkommend von dir, mich an der Wand zu platzieren. Jetzt habe ich hier genug geruht, es kann losgehen! Ich sehe der Fortsetzung unseres Abenteuers mit Spannung entgegen.“
Tobias staunte. Abenteuer? Und überhaupt: ein sprechender Fleck??
„Ich will keine Abenteuer, und Flecken können gar nicht sprechen!“ Tobias war noch immer lustlos. Außerdem sah er den Fleck nicht mehr.
Da rief es plötzlich ganz nah an seinem Ohr: „Such mich doch!“
„He, wo bist du?“, fragte Tobias und lief, nichts Gutes ahnend, zum Spiegel. Tatsächlich: Auf seiner Wange saß der leuchtend grüne Fleck und winkte ihm eifrig zu!
„Geh mir aus dem Gesicht!“, rief Tobias und begann mit Spucke und seinem Hemdsärmel den Fleck wegzuwischen. Doch was passierte? Der grüne Fleck wechselte auf den Hemdsärmel über! Dort gestikulierte er mit den Armen, lüftete seinen melonenförmigen Hut und rief in freudiger Erregung: „Jetzt bist du dran! Worauf wartest du? Schließ die Augen und stell dir vor, du bist ein Fleck. Nun komm schon! Dann können wir beide die spannende Welt der Oberflächen erforschen.“
„So ein Unsinn!“, brummte Tobias, schloss aber brav die Augen. Ein bisschen neugierig war er ja nun doch. Ob der ganze Spuk sich in Luft auflöste, wenn er die Augen wieder öffnete? Doch weit gefehlt! Das Erste, was er sah, war die merkwürdig veränderte Perspektive seines Zimmers. Alles war viel größer: Wie die Pfeiler einer Kirche strebten Stuhl und Tischbeine in Richtung Zimmerdecke, die sich hoch über ihm spannte. Die Stubenfliege die ihn vorhin noch geärgert hatte, flog mit lautem Gebrumm über ihn hinweg. Sie war so groß wie ein mittleres Hausschwein. Und der Kleiderschrank stieg steil wie eine mächtige Felswand links von ihm auf.
„Herzlich willkommen im Reich der Kleckse und Flecken. Da, schau: Du kannst dich im Spiegel sehen!“
In der Tat, der Wandspiegel zeigte einen Berg Klamotten, obenauf lag sein Hemd, und nunmehr waren zwei Flecken darauf: ein kleiner grüner Fleck, immer noch winkend, und ein unbeweglicher kleiner roter Fleck rechts daneben. – Sollte er das sein? Nein, das war unmöglich! Oder? Vorsichtig winkte er mit den Armen, und der kleine rote Fleck im Spiegel ebenso ...
„Komm, ich zeige dir, wie du auf den Oberflächen surfen kannst! Übrigens, mein Name ist Mr. Emerald Splodge, von der Firma Windsor and Newton aus deinem Aquarellkasten!“ Gekonnt vornehm deutete der grüne Fleck eine knappe Verbeugung an und lüpfte dabei den Hut.
Dann begann er seine Lektion: „Wir Flecke aus dem Reich der Farben und Künste bewegen uns natürlich nicht wie Tausendfüßler vorwärts, weder schleimen wir wie Schnecken noch winden wir uns wie Würmer. Derart unwürdige Verrenkungen brauchen wir nicht zu machen.“
Tobias hielt von Theorie nicht sehr viel. „Wie bewegen wir uns denn nun vorwärts?“, fragte er ungeduldig.
Etwas ungnädig ob dieser Unterbrechung näselte Mr. Splodge: „Alles geschieht durch die Kraft der Vorstellung. Deine Fantasie ist sozusagen der Motor, lenke sie auf den Weg – und lass los!“
Tobias versuchte es. Er stellte sich vor, auf einem Surfbrett mühelos über alle Oberflächen zu gleiten und er erlebte sein blaues Wunder. In rasender Geschwindigkeit sauste er über den Stoff des Hemdes, übersprang einige Falten, schlidderte über den Linoleumfußboden, klatschte unsanft gegen die Fußleiste. Dann sauste er nach kurzer Verzögerung die Wand empor und blieb schwer atmend und reichlich benommen auf einem Bildrand sitzen. Wow!
Mr. Splodge holte ihn ein, nickte ihm anerkennend zu und meinte lachend: „Du bist ein Naturtalent! Doch ich glaube, das ging alles ein bisschen zu schnell. Ich denke, wir sollte erst einmal etwas trainieren!“
Er nahm ihn an seine Fleckenhand, und zusammen sausten sie durch den Raum, bis Tobias gelernt hatte, sich zu zügeln, d. h. rechtzeitig abzubremsen. Beide hatten ihre helle Freude am Surfen, gegenseitigen Jagen und Versteckspielen, auch der so vornehme Mr. Splodge – schließlich hatte er lange Zeit bewegungslos im Aquarellkasten verbracht.
Endlich ließen sie sich keuchend, prustend und lachend wieder auf dem weichen Hemdsärmel nieder. Just in diesem Moment öffnete sich die Zimmertür und Tobias’ Mutter betrat den Raum. „Tobias ...?“
Verwundert schaute sie sich um. Kopfschüttelnd ergriff sie das Hemd vom Boden. Natürlich waren ihr die grellen Flecken auf dem Ärmel sofort aufgefallen.
„Oh!“ sagte sie. „Da werde ich doch gleich einmal Dr. Stunks Fle­ckenentferner ausprobieren, den mir die Schwiegermutter so wärmstens empfohlen hat!“
Entschlossenen Schrittes eilte sie mit dem Hemd in der Hand zum Putzschrank in der Küche.
Tobias schwitzte vor Angst Wasser und Farbe – Aquarellfarbe sozusagen. Panisch flüsterte er Mr. Splodge zu: „Was sollen wir tun? Sie meint es ernst, sie hasst Flecken!“
„Schnell“, entgegnete der, „forme dich zu einem Tropfen und lass dich fallen!“
Das fiel Tobias gar nicht schwer, hatte er sich doch sowieso schon völlig zusammengezogen, um möglichst klein und unscheinbar zu wirken. Nun spürte er, wie er sich vom Stoff des Hemdes löste, um dann ganz plötzlich mit einem leisen „Plitsch“ auf dem Küchenboden zu landen. Durch den Aufprall verteilte er sich übereine ganze Küchenfliese. Schnell sammelte er sich wieder und tauchte hinter ein Tischbein. Ängstlich rief er Mr. Splodge zu, welcher unweit von ihm gelandet war: „Ich glaube, hier sind wir nicht besonders sicher, meine Mutter wird alles tun, um uns zu beseitigen!“
„Hast du denn eine Idee, wo wir hin können?“
„Ja, zu meiner Oma! Sie ist Malerin und hat gewiss nichts gegen Flecken einzuwenden. Außerdem ist sie schwer in Ordnung. Wir brauchen bloß durch das Fenster, durch den Garten, und dann sind wir in ihrem Atelier.“
Tobias machte sich gleich auf den Weg. Schon war er im Schatten einer großen Kübelpflanze unter dem Fenster angekommen, als Mr. Splodge ihn einholte. „Stop! Wir können nicht einfach so hinaus, es regnet ja in Strömen! Vergiss nicht, dass wir beide aus Aquarellfarbe bestehen, wir würden uns sofort auflösen“, sagte er und fügte angewidert hinzu: „Ich hasse es, verwässert zu werden.“
„Vielleicht können wir so etwas wie eine Regenjacke anziehen ...?“, murmelte Tobias nicht sehr überzeugt.
Mr. Splodge legte sein grünes Gesicht in Falten und nickte nachdenklich. „Hm, hm, tja ...“, ließ er vernehmen. „Hm, hm, in der Tat müssen wir uns imprägnieren – aber wie?“
„Imprägnieren, was ist das?“, fragte Tobias.
„Nun“, erwiderte Mr. Splodge, „du hattest schon die richtige Idee mit der Regenjacke. Eine Imprägnierung ist etwas, was uns vor Wasser schützt. Mein Vetter zweiten Grades, Mr. Ivory Black, ein unerträglicher Angeber, bildet sich viel darauf ein, dass er als Ölfarbenfleck nicht wasserlöslich ist. Wie dem auch sei, Öl oder Fett könnte uns vor Wasser schützen.“
Tobias hatte schon eine Idee. „Los, hinter mir her!“ Mit hoher Geschwindigkeit surfte er über die Küchenfliesen davon. Nur ein geübtes Auge konnte die beiden erkennen – und zwei davon hatten sie bereits erspäht. Tobias’ Mutter griff zu Schrubber und Scheuertuch, die stets einsatzbereit in der Ecke lehnten, und wischte dicht hinter Ihnen her. Voller Panik rasten die beiden in Richtung der großen Bodenvase, um sich dahinter zu verstecken. Puh, das war noch einmal gut gegangen! Vor der teuren Vase endete die Schrubberjagd, die Mutter ging den Lappen ausspülen, sie war sicher, die Flecken erwischt zu haben.
Tobias und Mr. Splodge schlichen sich derweil klammheimlich an der Fußleiste entlang davon. Am Küchenschrank stoppten sie, kletterten behände am Holz empor und verschwanden durch eine feine Ritze zwischen den oberen Schranktüren.
„Hier muss irgendwo die Butter stehen!“ Tobias suchte das halb dunkle Schrankfach nach der Schale ab.
„Hier ist sie!“ Mr. Splodge glitt bereits ausgiebig durch die Butter. Schnell sprang Tobias ebenfalls hinein.
In Butter gehüllt und fettig glänzend, machten sich die Freunde auf den Weg: den Schrank herunter, über den Fußboden, unter der Tür durch – immer sorgsam darauf bedacht, nicht gesehen zu werden. Kaum waren die beiden den Augen der Mutter entschwunden, konnten sie auf dem Parkett im Wohnzimmer so richtig lossausen. Tobias jauchzte, denn das Surfen ging durch die Butter noch mal so schnell. Mühelos glitten sie durch einen Spalt zwischen Fensterrahmen und Fenster, ließen sich beherzt von der Fensterbank fallen und flossen, perlten und schlängelten sich durch Efeu und über rote Ziegelsteine abwärts. Unten angekommen, durchquerten sie auf- und abtauchend, spritzend und tropfend den Rasen bis zum Gartenweg, der geradewegs zu Omas Häuschen führte. Doch was war das? Tobias stockte der Atem. Auf den Platten hatte sich so viel Wasser angesammelt, dass sich der Weg in einen breit dahinströmenden Fluss verwandelt hatte! Wie sollten sie, zwei kleine Flecken, dieses gurgelnde, wilde Wasser überwinden?
Auch Mr. Splodge zögerte, als er das Hindernis sah. Doch dann sprang er zu Tobias’ Erstaunen mit perfektem Kopfsprung in die Fluten, kraulte los und rief ihm über die Schulter zu: „Los, auf geht’s! Aber pass auf, dass du immer genügend Kohäsion hast!“
Was zum Donner ist Ko-hähs-jon? Doch der neunmalkluge grüne Fleck war längst verschwunden. Nun, es half alles nichts, Tobias sprang schimpfend hinterher. Sogleich wurde er mächtig auseinander gezogen und dehnte sich immer mehr auf der Wasseroberfläche aus. Gleich würde er in viele kleine Flecken zerfließen ... Ob er sich dann später in viele kleine Tobiasse zurückverwandeln musste? Oder läge er vielleicht in Einzelteilen im ganzen Garten verstreut? Schaudernd konzentrierte Tobias seine ganze Kraft auf den Zusammenhalt. Nun wusste er, was Kohäsion bedeutete! Dann endlich konnte er sich an einem Grasstängel festhalten, der aus den Platten ragte. Schnaufend holte er Luft.
„Du hast eine beachtliche Kohäsion entwickelt!“, rief eine vorwitzige Stimme vom Ufer her. Mr. Splodge war im Dschungel der langen Grashalme und Kräuter untergetaucht und durch die grüne Farbe gänzlich unsichtbar. Tobias schüttelte sich, sodass die Tropfen von seiner roten Oberfläche flogen, und folgte ihm. Schließlich erreichten sie das duftende Blumenbeet vor dem kleinen Atelier. Sie rutschten unter der Eingangstür hindurch und betraten den hellen, freundlichen Raum.
Vor der breiten Fensterfront stand eine Staffelei mit einer leeren Leinwand. Daneben lagen auf einem wackeligen Tischchen Farbtuben, Pinsel, Lappen und alles Mögliche und Unmögliche, was die Oma zum Malen benötigte, sowie zahllose verknüllte Papierbogen.
Doch die Künstlerin war nicht am Arbeiten, sondern schlief tief und fest in einem Schaukelstuhl inmitten des Raumes. Auf ihrem Schoß hatte sich der Kater Picasso eingerollt und schlief ebenfalls. „Sie lässt sich gern durch ihre Träume zum Malen inspirieren“, erklärte Tobias, „und ...“
„Diesmal nicht!“, erscholl eine unangenehm laute, befehlsgewohnte Stimme direkt hinter ihnen. Die beiden zuckten zusammen und schrumpften vor Schreck auf die halbe Größe zusammen. Als sie sich umschauten, bemerk­ten sie plötzlich überall bunte Flecken, die umherwuselten: Flecken, die ihnen winkten, Flecken, die laut plapperten, Flecken, die umherhopsten, und Flecken, welche in atemberaubender Geschwindigkeit zwischen den anderen hindurchsurften. Flecken an der Staffelei, Flecken auf dem Fußboden und auf dem Tisch – kurz gesagt: Hier war was los!
„Ruhe!“, brüllte die Stimme. Sie gehörte zu einem viereckigen graublauen Fleck an der Staffelei, vermutlich durch ein Preisschild entstanden, das einst dort klebte. Augenblicklich trat Ruhe ein. „Wer seid ihr und was wollt ihr hier?“, herrschte er die beiden an.
„Ich bin Mr. Emerald Splodge von der Firma Windsor & Newton“, antwortete Tobias’ Begleiter höflich.
Der graue Fleck schnaubte verächtlich. „Ein Aquarellfleck! Und wer ist der andere?“
Der Angesprochene entgegnete patzig: „Ich bin Tobias, der Enkel der Malerin. Du solltest uns respektvoller behandeln, sonst muss ich meine Oma mal zum Fleckenentfernen überreden!“ Er ärgerte sich über die Großspurigkeit seines Gegenübers, der doch auch nichts anderes war als ein Fleck.
Der zuckte daraufhin zusammen. Dann räusperte er sich einige Male. „Nun ja“, er räusperte sich erneut, „also, ähm, ich kann euch hier gut gebrauchen, denn die Lage ist ernst. So ernst, dass ich den Ausnahmezustand ausgerufen und eine Krisensitzung aller atelierbewohnenden Flecken befohlen habe.“
„Was ist denn passiert?“, fragte Tobias erschrocken.
„Die Sache ist die: Otto, ein alter Schulfreund von Oma Luise, war gestern in der Stadt zu Besuch und hatte sie zu einem Mondscheindinner eingeladen. Ganz genau wissen wir nicht, was dort beredet wurde. Jedenfalls kam Luise bester Laune heim, denn Otto hat ihr einen Auftrag erteilt: Sie soll einen brüllenden Hirsch auf einer Waldlichtung für ihn malen, Otto ist ein begeisterter Jäger. Sie war so guter Dinge, dass sie sich noch um Mitternacht an ihren Skizzenblock setzte, um zu arbeiten.“
„Ja und?“, fragte Mr. Splodge. „Was ist daran so schlimm? Schließlich ist Luise eine renommierte Künstlerin, die Abbildung eines brüllenden Hirsches ist doch ein Klacks für sie!“
Doch Tobias hatte verstanden. „Meine Oma ist die Vorsitzende des Künstlervereins Die wilden Alten. Wenn sie ein so kitschiges Bild malt, schadet das ihrem Ruf als Wildeste der Wilden. Ich kann mir schon die Schadenfreude im Gesicht von Gertrude Rehbein, ihrer größten Kritikerin, vorstellen!“ Tobias ahmte eine hohe, spitze Stimme nach: „Na, Luise, malst du jetzt für die Spießer?“
„Nun, wie dem auch sei“, riss der graue Fleck die Gesprächsführung wieder an sich, „sie machte noch heute Nacht einen Entwurf nach dem anderen, aber kein einziger war zufrieden stellend.“ Hierbei deutete er auf den ansehnlichen Haufen zerknüllten Papiers auf dem Tischchen neben der Staffelei. „Irgendwann hat sie entnervt aufgegeben. Und wir haben uns hier versammelt“, damit deutete er auf die vielen Flecken und Kleckse, „um ihr zu helfen. Wir wollen einen brüllenden Hirsch darstellen, aber einen, wie er Luises Ruf gerecht wird, nicht so ein kitschiges Tier, wie sie es gestern abend versucht hat!“
Tobias und Mr. Splodge waren gleich Feuer und Flamme. Unter der Regie des grauen Flecks – er ließ sich von den anderen mit „Eure Fleckigkeit“ anreden – ging die Arbeit schnell voran. Er hatte sich im Regal gegenüber der Staffelei postiert, um besser dirigieren zu können, was sich ungefähr so anhörte: „Alle grünen Kleckse – vorwärts, marsch, bewegt euch in den Hintergrund! – Nein, der gelbe Punkt nicht in die Bäume, du gehörst in den Mond! Halt, die zarte Farbe nach außen, die kräftige nach innen ...!“
So brüllte, schnauzte, schnarrte, wedelte und kommandierte er, bis das Bild allmählich Gestalt annahm. Doch ach, was für ein „Hirsch“ war da entstanden! Tobias, Mr. Splodge und zahlreiche übrig gebliebene Flecken standen fassungslos davor.
„Der sieht ja aus wie ein Dackel mit Masern!“, flüsterte einer. Die anderen prusteten los.
„Eure Fleckigkeit“, plötzlich der Lächerlichkeit preisgegeben, lief rot an und ähnelte damit nicht wenig seiner eigenen Schöpfung. „Macht es doch besser!“, brüllte er beleidigt und kehrte ihnen den Rücken zu.
Tobias bekam Mitleid. Nein, dachte er, das hat er nicht verdient, schließlich wollte er Oma einen Gefallen tun und hat sein Bestes dafür geleistet. „Ich denke, wir sollten vielleicht einige unwesentliche Korrekturen vornehmen“, sagte er versöhnlich.
Daraufhin entbrannte eine lebhafte Diskussion über das korrekte Aussehen eines Hirschs. Ein fast durchsichtiger Fettfleck erwies sich als Experte, er entstammte dem Handbuch „Tieranatomie für Künstler“, Kapitel Huftiere, Seite 237. Vermutlich hatte Oma ihn durch die Angewohnheit, beim Essen zu lesen, verursacht. Mit seiner Hilfe ging die Gestaltung des brüllenden Hirschs zügig voran: Der eben noch zu klein geratene Wald- und Wiesenbewohner wuchs und nahm klarere Konturen an, zumal ihm der Fettfleck ein wahrhaft prächtiges Geweih verlieh.
Allerdings mussten einige farbenfrohe Kleckse, die darauf brannten mitzumachen, immer wieder daran gehindert werden, sich in den Hirsch zu schmuggeln, denn sie waren eigentlich für die Umgebung vorgesehen. „Der Hirsch muss braun sein, allenfalls darf ein wenig Grau und Schwarz hinzukommen. Die grünen, roten, blauen und gelben Punkte bitte ich um Geduld, sie dürfen gleich die Landschaft abbilden!“, versuchte sich der „Experte“ Gehör zu verschaffen, konnte sich aber in dem Gewusel der vielen Farben nicht wirklich durchsetzen.
„Eigentlich sieht der Hirsch jetzt aus wie ein Hippie“, meinte Tobias grinsend.
Plötzlich flüsterte einer der Flecken aufgeregt: „Schnell, schnell, sie erwacht!“ Er deutete auf Oma, die sich gerade im Schaukelstuhl genüsslich rekelte. Kater Picasso sprang beleidigt von ihrem Schoß.
Mr. Splodge und Tobias warfen noch einen Blick auf das Gemälde, bevor sie mit den übrig gebliebenen Farbflecken in das Bild sprangen, um einen geeigneten Platz einzunehmen. Dann verhielten sich alle still, niemand rührte sich.
Tobias hatte sich zu einer Unterschrift im Bild geformt. In roter Farbe war nun dort zu lesen: „Oma“.
Verwundert schaute sich Luise im Raum um. So sauber hat es hier schon lange nicht mehr ausgesehen! Wohin waren die ganzen Flecken, die sich im Laufe der Jahre im Atelier angesammelt hatten, verschwunden? Kopfschüttelnd trat sie vor das Bild. Ah, da waren sie! Luise betrachtete das Gemälde mit Wohlwollen. Ja, genau so sollte es aussehen, ein richtig wilder Hirsch war das, bunt und genial! Vielleicht könnte sie das Bild auch ihrer Freundin Gertrude schenken und für Otto eines der vielen Hirschbilder aus Waldemar Schrotkorns Geschäft „Zubehör für Jäger und Angler“ kaufen? Denn dieses gefiel dem Naturfreund sicher nicht! Aber wie war das Werk entstanden? Gestern Nacht hatte sie doch nur Bleistiftskizzen erstellt und die zerknüllt, weil sie immer wieder missrieten. Sollte sie etwa im Schlaf ...? Rätselhaft war das Ganze schon. Stirnrunzelnd trat sie näher an die Staffelei und betrachtete ihr Werk und ganz besonders die seltsame Signatur unten rechts – Oma? Da ging ihr ein Licht auf ...
Währenddessen überlegte Tobias, wie er sich zurückverwandeln könnte, um ihr die Sache zu erklären. Vorsichtig wandte er den Kopf in Richtung des Farnwedels hinter ihm, in dem sein grüner Begleiter steckte. „Ssst!“, zischte er. Mr. Splodge jedoch schaute starr geradeaus. Tobias runzelte die Stirn. Was hatte der denn? Er drehte sich wieder um – und erschrak heftig, als die Stimme seiner Oma direkt neben ihm im Bild erklang. „Luise“ stand jetzt hinter dem von ihm gebildeten Wort „Oma“, die Signatur war nun vollständig.
„Schön, dass du herausgefunden hast, wie du dich in einen Fleck verwandeln kannst! Es steckt also ein kleiner Künstler in dir! – Und vielen, vielen Dank für deine und eure Hilfe!“ Sie wandte sich nun auch den anderen Flecken zu, die sich tuschelnd und kichernd aus ihrer Starre lösten.
Tobias war ganz perplex. Doch als Oma ihn an der Hand nahm und aus dem Bild sprang, ließ er sich mitziehen. Die beiden standen nun wieder in voller Größe vor der Staffelei, auf der man mit etwas gutem Willen einen brüllenden Hirsch in einer Landschaft erkennen konnte. Inzwischen hatte der Regen aufgehört und einige Sonnenstrahlen ließen die bunten Flecken und Punkte hervortreten.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.04.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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