Mil da Silva

Winter

Sie saßen bei Tisch, seit mehr als zwei Stunden saßen sie dort schon, er auf der Bank, den Kopf in eine Hand gestützt, und mit der anderen Hand hielt er die Flasche, daraus goss er Wodka in ein kleines, schweres Glas. Er verschüttete viel dabei, weil er nicht hinsah beim Einfüllen, er schaute an die Wand, er schüttete Wodka auf den Tisch und bemerkte es nicht einmal.
Sie saß ihm gegenüber, auf einem hartem Holzsessel, in eine Decke gehüllt, sie wackelte mit den nackten Zehen, sie fror, und sie sah ihm zu, wie er Wodka trank und Wodka verschüttete und wie seine ausdruckslosen Augen ins Nichts starrten. "Es ist der Krieg, der ihn so macht", dachte sie, "früher war er ganz anders, vor dem Krieg". Früher, da war er von der Arbeit heimgekommen, pünktlich um zwei, und er hatte gelacht, wenn er von der Arbeit erzählt hatte, und wenn sie erzählt hatte, dann hatte er auch gelacht. Er hatte sehr gerne von der Arbeit erzählt. Vom Krieg hatte er nur einmal erzählt. "Heute habe ich vier erschossen", hatte er gesagt, am ersten Tag, dann hatte er geschwiegen, seither hatte er immer geschwiegen, gar nichts mehr gesagt.
Sie versuchte, sich zu erinnern, wie er seine großen Hände auf ihre Schultern gelegt hatte oder um ihre Hüfte, immer dann, wenn sie am wenigsten damit gerechnet hatte, und wenn sie dann erschrak, dann hatte er übermütig gelacht und sie umgedreht und auf den Mund geküsst.
Er hatte sie gerne berührt, und sie war gerne von ihm berührt worden, mit seinen großen Händen, die waren rissig und rau und schwielig von der Arbeit. "Das sind jetzt Mörderhände", dachte sie und zitterte dabei.
Er hatte Kohlen geschaufelt, immer von vier bis um zwei, immer die Frühschicht. Er war der beste Arbeiter gewesen, der beste der ganzen Fabrik.
"Wenn der Krieg aus ist", sagte sie zu ihm, "dann wirst du wieder arbeiten".
"Die Schaufel wartet", fügte sie hinzu und versuchte zu lächeln. Sie rieb sich mit den Händen die frierenden Zehen.
Sie sagte nicht, dass die Fabrik zerbombt war, ein Schutthaufen. Er sagte es auch nicht. Er starrte an die Wand. Seine Augen waren grau wie früher, aber die goldenen Pünktchen, die darin so fröhlich geglitzert hatten, waren nicht mehr zu sehen.
"Der Krieg ist bald zu Ende", sagte sie und bemühte sich, nicht mit den Zähnen zu klappern, "bis der Winter kommt, ist der Krieg längst zu Ende".
"Der Winter ist doch schon da", sagte er. Er sagte es gegen die Wand, und er sagte es mechanisch, wie eine Maschine. Seine Stimme klang heiser und rau". Er trank sein Glas in einem Zug leer und füllte es wieder an.
"Es ist September", dachte sie, "es ist Herbst". Und sie sagte: "Wenn der Winter vorbei ist, dann ist auch der Krieg vorbei". Sie schaute zu ihm und versuchte, mit ihren verkrampften blauen Lippen zu Lächeln, aber sie schaffte es nicht.
"Der sibirische Winter ist lange", sagte er und füllte sein Glas an.
"Wir sind hier nicht in Sibirien", sagte sie.
"Es gibt Orte, da hört der Winter gar nie auf", sagte er.
"Er hat recht", dachte sie, "und das hier ist einer dieser Orte".
Sie sagte: "Im Frühling, da haben wir einander kennen gelernt. Du hast mir Blumen in die Haare gesteckt, und dann haben wir auf der Wiese geschlafen".
Sie sagte nicht, dass die Wiese jetzt eine Schuttwüste war. Und dass es im Winter gar keine Blumen gab. Er sagte es auch nicht. Er sagte überhaupt nichts mehr. Er schaute an die Wand und durch die Wand durch und verschüttete Wodka auf den Tisch.
Sie versuchte, ihm in die Augen zu schauen, einen letzten Schimmer seiner Lebensfreude zu erhaschen, aber die goldenen Pünktchen waren unter dem unendlichen grau verschüttet.
Sie wollte aufstehen, wollte zu ihm hingehen, sie wollte seine Hände streicheln und seine traurigen Wangen. Aber ihre blaugefrorenen Füße waren längst lahm geworden.

Das ist eine Geschichte für Frieden.

Krieg hinterlässt eine verletzte, verstörte,
verhungerte, verwundetet und verzweifelte
Bevölkerung
- so wie die beiden Protagonisten meiner
Geschichte, die weder einander noch sich selber
noch erkennen.

Ich wünsche mir, dass wir einfach alle friedlich
nebeneinander leben können - und dieser Text
richtet sich dabei an Russen und Ukrainer:
Vergesst nie, dass ihr Brüder seid.
Vergesst nie, dass nicht ihr einander hasst,
sondern nur eure Präsidenten einander hassen.
Mil da Silva, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.05.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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