Meike Schäfer

Manche Dinge bleiben lieber ungesehen

Es war als würde ein Tsunami all ihr Erträumtes und Erhofftes mit seiner dunklen, eiskalten Erscheinung rücksichtlos und unaufhaltsam mitreißen, als Linda wusste, dass ihr Traum zu Ende war und sie nun der Realität wieder in die Augen blicken musste. Ihre Kehle schnürte sich zu, ihr Bauch verkrampfte. Sie wusste, dass sie jetzt nicht mehr einschlafen würde, aber sie wollte es nicht zulassen, dass das Gefühl, eine betrogene Frau zu sein, früher als nötig in ihr emporstieg. Sie lag da, bewegte sich nicht, ließ die Augen geschlossen. Sie versuchte alle Einflüsse ihrer Umgebung zu ignorieren, aber es gab eine Ausnahme, die sich zu ihrer Trauer nicht von ihr ignorieren ließ.
Da war ein zweiter Herzschlag. Sie spürte immer wieder leichte Stupse zwischen ihren Schulterblättern. Ihr wurde kalt und warm zugleich. Kalt, weil sie nicht wusste wie sie reagieren sollte, da sie ihn so früh zurück gar nicht erwartet hatte. Warm, weil sie sich vorstellte, dass sie von Glück reden konnte, dass er sich noch so an sie schmiegte, als wäre dies ihre erste Nacht und alle Nächte zusammen gewesen, in denen beide noch auf Wolke sieben geschwebt waren. Jetzt erst bemerkte sie noch weitaus mehr als nur einen Herzschlag. Sie spürte seinen ganzen Körper an ihr haften, seinen Atem in ihrem Nacken und sein Arm, der sie umklammerte und auf ihrem Handrücken seine Fingerspitzen.
Er schlief. Linda schlug die Augen auf und ließ einen Blick über seinen Arm schweifen. Der Gedanke, dass er nicht nur ihr gehörte, sondern wohlmöglich einer anderen, war für sie unerträglich. Er hatte sich verändert, seit er angefangen hatte weniger Zeit mit ihr zu verbringen. Als er anfing – scheinbare – Überstunden zu machen, oftmals erst spät abends nachhause kam und sie nach jeder (berechtigten!) Frage: „Wo warst du? Weshalb hat es so lange gedauert?“ verdutzt anstarrte, mit den Worten: „Ach, habe ich dir das gar nicht erzählt?“.
Er hatte sich nicht von der Person verändert, ganz im Gegenteil. Die Beziehung verlief seit zwei Monaten genauso wie die letzten sieben Jahre auch – das hieß, anscheinend nur für ihn. Ob er weiß, dass für mich diese vielen angeblichen Überstunden und diese Heimlichtuerei kaum noch zu ertragen sind? Auch wenn es alles andere als schön wäre seine Beziehung oder Affäre vorgestellt zu bekommen. Linda hätte er damit einen großen Gefallen getan. Lieber der Wahrheit ins Auge blicken und vom schlimmsten ausgehen, als einen auf heile Welt machen und in den Sorgen und Vorstellungen untergehen. Das war das Motto, nach dem sie seit einigen Tagen lebte. Und obwohl der Verdacht auf eine neue Frau an seiner Seite sie schon seit zwei Monaten umzingelte, wollte sie gar nicht daran denken. Sie wollte an die Jahre davor denken und wünschte sich von ganzem Herzen, dass diese Ungewissheit und seine Heimlichtuerei vorbeizogen.
Sie hatte noch nicht einmal mehr die Gelegenheit gehabt, ihn anzuschauen. In seine grasgrünen Augen zu schauen und zu wissen, es war alles ok. Nicht nur das Versprechen, sondern auch die Tat der Geborgenheit, der Vertrautheit und der Zuneigung hatten sie verraten. Immer und immer wieder, wenn sie sich in seinen Augen verlor und sein Blick ihr wies, sie war die Eine, die Einzige für ihn. Linda musste allerdings zugeben, dass es nicht seine Schuld gewesen war, dass sie sich in letzter Zeit nicht an seinen Augen sattgesehen hatte. Immer wenn sie die Möglichkeit gehabt hatte, hatte sie sie nicht ergriffen. Es lag sehr wahrscheinlich daran, dass sie Angst vor Ablehnung gehabt hatte.
Nun war es anders. Nun könnte er sie nicht ablehnen. Nun schlief er. Er würde es gar nicht bemerken, wenn sie ihn musterte – ein Gefühl, das sie erleichterte, gleichzeitig aber auch traurig machte. Trotzdem drehte sie sich ganz vorsichtig nach links, bis sie mit dem Gesicht zu seinem lag. Die Augen waren geschlossen, dafür aber nicht seine Erscheinung. Sie musste lächeln. Er war ihr Traummann. Das war er schon nach ihrem ersten Treffen gewesen. Er hatte sich kaum verändert, sah noch genauso aus wie vor sieben Jahren. Ohne dass sie es verhindern konnte strich sie ihm über die Wange. Etwas, was sie lieber nicht hätte tun sollen, denn in diesem Moment wachte er auf.
Das Lächeln verließ sie urplötzlich, setzte sich aber bei ihm ab. „Hattest du einen Albtraum?“, brachte er hervor.
„Nein.“
„Warum schaust du mich dann an, als hättest du einen Schock erlitten?“
Weil es so ist, Felix.
„Tue ich das?“, tat sie verblüfft, ungefähr so wie er, bevor er sich eine Ausrede für sein eigentliches Schaffen einfallen ließ.
„Ich weiß ich sehe schlimm aus. Ich war gestern Abend auch ziemlich fertig, als ich im Büro fertig war.“
„Soso“, murmelte Linda und setzte sich auf. Sie schaffte es, dass er ihr Misstrauen nie zu spüren bekam, aber auch nur, durch Abstand oder ohne Blickkontakt. Denn er besaß das Talent, jeden ihrer Blicke zu durchleuchten. Vielleicht war das ja der Grund, weshalb sie – wenn auch ungewollt – jeden intensiven Blickkontakt zu ihm vermieden hatte, seit ihrem Verdacht. „Warum musstest du denn dieses Mal länger arbeiten?“
„Philipp wollte eine erste Meinung zu einem Entwurf hören“, erklärte er.
„Welchem Entwurf?“, fragte sie, versuchte interessiert zu klingen (sie brauchte keine Versuche dafür, da sie sich für alles von ihm und seinem Umfeld interessierte, aber wieder einmal war sie gezwungen nicht nur aus reinem Interesse zu fragen).
„Ähm“, fing er an. Damit hatte sie gerechnet.
Linda wäre am liebsten in ihrer Matratze versunken. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als dass man dieses Wort aus ihrem Gehör endlich verbannte. Denn es war Standard geworden. Je mehr sie in seinen Sätzen nachbohrte, umso häufiger war dieses Wort anzutreffen, und alle anderen Wörter des Wortstammes.
„Eine aufblasbare Kirche. Hört sich crazy an, ich weiß. Aber was wäre die Welt ohne solche Männer wie Philipp?“
„Arm dran“, meinte sie.
Sie war froh, dass Felix es als Sarkasmus vernahm. Aber sie war nicht froh über den angeblichen neuen Entwurf von seinem Kollegen. Denn der Bericht über den Architekten, der eine aufblasbare Kirche erschaffen hatte, war vor wenigen Tagen im Fernsehen gelaufen. Und er hatte ihn mit angeschaut. Sie warf einen Blick auf den Wecker, der auf ihrem Nachttisch stand, 05:33 Uhr.
Normalerweise fing ihr Dienst erst um acht Uhr an aber wie sollte sie denn bitte die restliche Zeit totschlagen? Das Kopfkino schwirrte nur so in ihr. Sie brauchte etwas, um sich abzulenken. Was gab es da besseres als Arbeit? Linda flüchtete ins Bad. Keine Viertelstunde später war sie fertig. In Unterwäsche kam sie zurück ins Schlafzimmer und suchte sich aus ihrem Kleiderschrank Klamotten für den heutigen Tag heraus. Sie entschied sich für eine cremefarbene Bluse und eine dunkelblaue Jeans. Ihre haselnussbraunen Haare flocht sie sich nach links in einem Seitenzopf zusammen. Sie ertappte sich dabei, dass sie ihr Spiegelbild skeptisch musterte. Meerblaue Augen, kleine Sommersprossen, helle Haut, hellbraune glattfallende Haare auf Brustlänge, dünne Figur. Ob das Gesamtpaket alle Männer attraktiv fanden?
„Du siehst gut aus“, vermerkte Felix, der sie vom Bett aus von Kopf bis Fuß musterte und jeden ihrer Schritte verfolgt hatte. Jetzt erst vernahm sie seinen Blick im Spiegel. Sie drehte sich um.
„Ist die Bluse neu?“
Linda seufzte innerlich. „Wenn du fünf Wochen als neu bezeichnest … ganz zu schweigen von den fünf Mal die ich sie seitdem getragen habe … ja.“
Schuldbewusst sah er sie an. „Oh, tut mir Leid, Schatz. Es ist nur … in letzter Zeit habe ich eine Menge um die Ohren.“
Das merke ich schon.
„Und weißt du wann diese Zeit zu Ende ist?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Er runzelte nachdenklich die Stirn. „In den nächsten Tagen. Vielleicht in ein, zwei Wochen.“ Sie nickte. Es freute sie, dass er zumindest eine grobe Schätzung aufbringen konnte, wie lange sie das alles noch zu ertragen hatte. Doch dann kam sein fataler Fehler. „Vielleicht auch drei, vier Wochen“, ergänzte er.
Linda musste sich zusammenreißen, dass sie jetzt auf der Stelle nicht austicken würde. Sie hatte Verständnis für ihn, wenn er nach seiner Arbeit nachhause kam und direkt ins Bett fiel, und auch für Überstunden, aber dann auch bitte mit Erklärung!
„Wohin gehst du?“ rief Felix ihr hinterher, als sie aus dem Schlafzimmer verschwand. „Du musst doch erst um acht bei Tortentraum sein.“
„Was dagegen, wenn ich früher anfange“, zischte sie zurück, griff ihre Tasche und nahm ihre Jacke von der Garderobe und machte die Haustür von außen zu. Ihr Fahrrad wartete im Vorgarten schon auf sie.
Es dauerte nie lange, bis sie bei Tortentraum ankam. Sie wohnte mit ihrem Freund in Linz am Rhein, im Landkreis Neuwied, in Rheinland-Pfalz. Die Strecke die sie für ihren Job, in Unkel, zurücklegen musste, belief sich auf acht Kilometer. Wenn sie mit ihrem Fahrrad fuhr – was recht häufig passierte, da Felix das Auto weitaus dringender brauchte als sie – brauchte sie maximal zweiundzwanzig Minuten.
Tortentraum war Konditorei und Café zugleich, mitten in einer kleinen Fußgängerzone, immer gut besucht. Es hatte ja auch einen guten Ruf. Es stand unter der Leitung von Jana Beyer, ihrer damaligen Ausbildungsleiterin. Sie war eine Meisterkonditorin und hatte sich vor knapp zwei Jahren den Traum vom eigenen kleinen Laden erfüllt. Und passend dazu, hatte sie ihre Lieblingsschülerinnen eingeladen bei und mit ihr zu arbeiten. Das Beste daran war, dass sie keine Chefin war, mehr eine gute Freundin, die nebenbei eine Kollegin mit exzellenten Ratschlägen war. Zu dumm, dass diese Ratschläge nur mit dem zubereiten und kreieren kleiner und großer Leckereien zu tun hatte. Linda hatte ohnehin nicht vor, ihren Kummer mit Jana zu teilen. Lieber mit Mona, einer sehr guten Freundin, sowie Kollegin. ´
„Linda?!“, stieß sie hervor, als sie ihre Freundin vor sich stehen sah.
„Morgen, Mona“, lächelte Linda.
„Hey. Was machst du schon hier? Ich dachte ich bin momentan die einzige die Überstunden nötig hat.“
Offenbar nicht nur du …
„Ich hatte einfach Lust zu kommen.“ Mona beäugte sie großzügig.
Aber sie wollte nicht weiter in ihr rumstochern. Schon gar nicht so früh am Morgen.
„Na dann. Ran an die Arbeit“, verkündete sie und stellte eine Himbeertorte in die Vitrine. Linda machte sich gleich daran die Tische zu säubern und passende Deko zu verteilen. Sie wechselten sich jeden Tag ab mit Küchen – und Servierdienst.
An manchen Tagen, wenn sich so viel Besuch wie heute ankündigte, waren sie normalerweise zu dritt. Aber Charlotte und Zoé waren im Urlaub und Jana – auch wenn sie alles stehen und liegen lassen würde, um für ihr Baby Tortentraum da zu sein – steckte diese ganze Woche auf einer Fortbildung (obwohl sich Linda fragte, was es für sie bitte noch zu lernen gab, was sie in der Küche noch nicht beherrschte). Sie hielt Jana Beyer ohne Zweifel für die beste Konditorin Deutschlands.
Mona versank spätestens am Vormittag in Dauerstress, Linda hingegen liebte es in ihm unterzugehen. Sie liebte ihren Job, liebte es dort zu arbeiten und die Düfte von heißem Kakao, Kaffee, Marzipan, Früchten, Obst und Schokolade ließen einen ohnehin alles um sich herum vergessen. Um die Mittagszeit, als der größte Andrang des Tages herrschte, übernahm sie, gegen Monas Willen, sowohl den Verkauf als auch das Kellnern. Sie wollte ihrer Kollegin keine Arbeit wegnehmen – obwohl sie sicher war, dass diese nicht in Trauer darüber zerfiel – aber sie brauchte diese Ablenkung. Stress tat ihr in solchen Momenten gut. Sie weigerte sich auf Monas Nachfrage sogar eine Pause zu machen. Doch genau das war es, was sie nicht wollte. Sie wollte arbeiten bis zum geht nicht mehr und noch darüber hinaus. Sie wollte ihren Kopf frei von den Sorgen rund um Felix bekommen. Das Problem dabei war, dass es sich so in ihr eingenistet hatte, dass es nur schwer zu beseitigen war.
Irgendwann, als sie die Rechnung zweier Frauen aufnahm und den Tisch abräumte, folgte ihr Mona in die Küche, wo sie das Geschirr abstellen wollte. Doch da sie nicht bemerkt hatte, dass ihre Kollegin ihr dicht an den Fersen klebte, erschrak sie als Mona ihre Hand auf ihre Schulter legte und ließ alles, was sich in ihren Händen befand, blitzartig los. Keine Sekunde später war der Fliesenboden ein Scherbenmeer. Linda sah durch die kleine Öffnung der angelehnten Küchentür und blickte zu ihrem Übel in duzende schaulustige Gesichter, die sie allesamt anstarrten. Linda erstarrte und lief rot an.
Mona nahm ein Kehrblech und machte die Tür schnell zu. Nicht etwa, weil es ihr peinlich war. Ganz im Gegenteil. Eigentlich war sie die Tollpatschige von beiden. Linda passierte so etwas nie. Aber jeder hatte mal einen schlechten Tag und Mona wusste, als sie in Lindas lebloses Gesicht sah, dass sie nicht nur solch einen erwischt hatte, sondern dass es auch einen bestimmten Grund dafür gab. Sie war so leicht zu entlarven wie keine andere.
Als sie wieder zu sich gekommen war, kramte sie eilig ein weiteres Kehrblech heraus und wollte ihrer Freundin mit dem Chaos, das sie allein angerichtet hatte, helfen aber Mona lehnte sofort ab.
„Lass gut sein, Süße. Ich will nicht dass du dir deine Hände aufkratzt.“
„Warum sollte ich das tun?“
„Weil du schon den ganzen Tag neben der Spur bist!“
Als sie fertig mit aufkehren war und die Scherben in den Müllsack kippte, wandte sie sich besorgt zu Linda, die an der Küchenablage lehnte und den Kopf in ihren Händen vergrub. „Linda, was zur Hölle ist los mit dir? So kenne ich dich gar nicht!“
„Die Teller und die Tassen bezahl ich natürlich!“, piepste sie.
„Ich rede hier nicht davon. Es geht schon seit zehn Uhr so. Du bringst den Leuten Dinge, die sie gar nicht bestellt haben oder verwechselst die Bestellungen der Tische. Du gibst den Leuten sogar entweder zu viel oder zu wenig Wechselgeld! Du wolltest die Tische und die Kasse übernehmen. Normalerweise hätte ich außer backen überhaupt keine Aufgabe, aber … ist dir aufgefallen, dass ich dir seit zwei Stunden ununterbrochen herlaufe um das geradezubiegen was zu falsch machst?“
Linda konnte es nicht fassen. Wie konnte sie nur so neben der Spur sein, dass sie ihre Arbeit falsch verrichtete und noch nicht einmal bemerkte, wie jemand hinter ihr aufräumte? So etwas war ihr noch nie in ihrem ganzen Leben passiert.
Sie schämte sich. Ungeheuerlich. „Es tut mir leid“, brachte sie nur hervor.
Etwas anderes fiel ihr nicht ein.
„Hey“, meinte Mona leise. „Vielleicht ist es besser du gehst nachhause und ruhst dich aus. So kann es doch nicht weitergehen!“
Ängstlich sah Linda auf und schüttelte den Kopf. Felix war zwar sicherlich nicht da, aber in diese Wohnung wollte sie in den nächsten Stunden noch nicht zurückkehren.
„Ich tue alles, Mona, aber wenn du mich jetzt wegschickst werde ich dir das eine Zeit lang nachtragen“, sagte sie.
Mona seufzte. Sie nahm Linda an der Hand und zerrte sie aus der Küche raus an den einzigen Tisch, der noch nicht vollkommen belegt war. Wackelig brach sie auf dem weißen Holzstuhl zusammen.
„Du bleibst jetzt hier sitzen, bis du dich besser fühlst! Verstanden?“, beschwor sie das Häufchen Elend, zu dem sich ihre Kollegin gewandelt hatte.
Linda brachte nichts weiter als ein knappes Nicken mit gesenktem Blick zustande. Das reichte Mona. Sie huschte mit ihrem Blick rüber zu der Frau, die gegenüber von Linda saß. Sie wollte nicht, dass die Kunden des Tortentraums ein schlechtes Bild bekamen. Doch bereits während sie versuchte, sich eine gute Entschuldigung im Kopf zusammenzustellen, wühlte die Frau in ihrer Handtasche, bis ihr Portemonnaie zum Vorschein kam. Sie zog einen Fünf-Euro-Schein heraus und schob ihn der schwarzhaarigen Kellnerin zu.
Perplex sahen Linda und Mona sie an.
„Bitte eine heiße Milch mit einem Esslöffel Honig für Ihre Kollegin“, gab sie Mona in Auftrag.
„Verzeihung, wir haben keine Milch mit Honig auf der Karte“, wies sie drauf hin.
„Außerdem müssen Sie nicht ihr Geld für mich ausgeben“, stotterte Linda, fassungslos über den Wunsch der Kundin. Denn, nicht nur dass es nicht selbstverständlich war und noch weniger vorkam, dass jemand so etwas tat. Linda liebte heiße Milch mit Honig. Wenn es einen Aufmunterer gab, den man verschlingen konnte, dann dieses Getränk.
Die Frage war, woher wusste die Frau das? Oder war es nur Zufall gewesen?
„Aber die Zutaten werden Sie doch wohl haben“, meinte die Frau.
Obwohl sie ab nun auch nicht mehr wusste wo ihr der Kopf stand, nahm Mona das Geld und verschwand in der Küche. Keine zwei Minuten später wurde das Getränk Linda serviert. Sie bedankte sich bei ihrer Kollegin und Freundin. Es war für sie seltsam. Sie war noch nie von ihr oder im Allgemeinen von Freunden oder Bekannten bedient worden – also öffentlich. Sie trank einen kräftigen Schluck, störte sich kaum daran, dass er noch richtig heiß war. Es tat ihr gut. Ein Teil von ihr fühlte sich wie neu geordnet. Und da sie von nun an nicht mehr nur die Sorgen um Felix heimsuchten, sondern auch ihr schlechtes Gewissen gegenüber der Frau, die eigentlich ihre Kundin hätte sein sollen, wollte sie gerade aufstehen und ihren Geldbeutel um fünf Euro zu erleichtern, als ihre Tischnachbarin sie zurückwies.
„Bleiben Sie bloß sitzen! Ich möchte nicht, dass Sie mir das Geld zurückgeben.“
„Das ist doch selbstverständlich!“, gegenargumentierte sie.
Doch die Frau schüttelte nur den Kopf. „Nichts ist selbstverständlich. Außerdem ist es mein hart erarbeitetes Geld und ich entscheide selbst was ich damit mache. Trinken Sie lieber Ihre Milch.“
Linda gehorchte, ohne Widerworte zu geben. Währenddessen betrachtete sie ihr Gegenüber. Es war eine Frau Mitte dreißig mit dunkelblonden lockigen Haaren, heller Haut und grünbraunen Augen. Sie glich ein wenig ihrer Tante, wenn man die Zeit um zehn Jahre zurückspulte.
„Woher wissen Sie das mit der heißen Milch und dem Honig?“, fragte Linda.
Die Frau sah weg, als hätte sie sie überhört. Sie fing an, ein bisschen nervös zu werden – wenn man das so beschreiben konnte. Sie presste ihre Lippen zusammen und starrte um sich herum. Das tat sie eine Weile, bis ihr Blick am Fenster haften blieb. Linda erklärte sich diese Reaktion damit, dass sie diese Frage vielleicht lieber nicht hatte stellen sollen. Wohlmöglich war sie der Frau gegenüber unangenehm. Gerade überlegte sie sich, alles zurückzunehmen, als sie doch erste Worte von sich hören ließ.
Komisch, dachte Linda. Erst das mit dem Geld und nun …
„Das Weiß von Ihrem Herz“, sagte die Frau und sah ihr direkt in ihre verwirrten Augen.
„Das Weiß von meinem Herz?“
„Der Kettenanhänger. Das silberne Herz, mit weißer Farbe.“
Linda blickte an sich herunter und fasste die Kette, die sie trug – seit sechs Jahren. Ein Geschenk von Felix. Er besaß das gleiche Herz, eben in schwarz und in Form von einem Lederband am Handgelenk. Sie natürlich an einer silbernen Kette.
„Das Weiß ist ausgelaufen und über die cremefarbene Schürze gelaufen“, erklärte die Frau. Linda wusste nicht wie sie reagieren sollte. Wen sie eher anstarren sollte. Die Dunkelblondhaarige oder die Kleidung, die ihren Oberkörper umschlang.
„Wie bitte?!“, quiekte sie, nach Hilfe und Luft schnappend.
Als sie die wohl Verrücktgewordene wieder fokussierte, hyperventilierte sie wohl gerade. Die Augen, sowie Mund und die gerade ineinander gefalteten Hände waren zusammengepresst und gedrückt.
Als sich alles nach und nach bei ihr lockerte und sie die Augen wieder aufschlug, wollte sie das kommende Gespräch mit sachten Worten beginnen. Denn sie wusste nur allzu gut, wie das, was sie war bei anderen ankam. Sie hatte bewusst dafür gesorgt, dass alle Leute den leeren Stuhl an ihrem Tisch außer Acht ließen. Sie hatte abgewartet. Abgewartet, dass sich die zierliche Kellnerin zu ihr setzte, und sei es auch nicht freiwillig. Denn sie hatte das Gespräch der beiden in der Küche mit verfolgt. Sie wollte ihr versuchen zu helfen und nicht als Spinnerin verschmäht werden.
„Ich bin Angelica. Angelica Walter“, stellte sie sich vor und schüttelte Linda die Hand. „Linda Steilen.“
„Linda …“, fing sie an. „Ich weiß nicht recht wie ich es Ihnen erklären soll … ich bin eine Art Hellseherin“, gab sie sich zu outen.
Linda nickte verständlich. Immerhin erklärte das diese schräge Vorstellung von dem Bild, das Angelica Walter ihr eben beschrieben hatte.
„Eine Art?“, erkundigte sie sich.
„Eine Hellseherin“, korrigierte sich Angelica.
„Machen Sie das beruflich oder …“
„Nein, nein“, wurde Linda unterbrochen. „Bloß nicht! Es ist vielmehr eine weitervererbte Gabe, als eine Berufung … wohl eher ein Fluch.“
„Warum ein Fluch?“, fragte Linda sie. Eine Gabe, die nicht jeder dritte Mensch besaß konnte zwar Vor – und Nachteile bringen, dachte sie sich, aber doch kein Fluch sein. Gerade wenn es sich um eine Vererbung handelte.
Angelica Walter lachte sarkastisch. „Es ist zwar schön und gut, wenn man etwas an sich hat, was einen einzigartig macht und was einem erlaubt Dinge zu sehen und wahrzunehmen, wovon andere nur träumen. Ich schäme mich auch nicht dafür. Immerhin hat meine Familie es geschafft, diese Gabe über mehr als fünf Generationen weiterzuvererben. Aber man erlebt die dunkle Seite des Sehens leider viel zu oft.“
„Zum Beispiel?“
Sie lächelte Linda zu. „Man weiß ob der Partner einen betrügt.“
Linda blieb ein Kloß im Hals stecken. Sie bekam nur noch wenig Luft. Was wollte diese Frau, diese Hellseherin, Angelica Walter damit andeuten? Sie wusste es aber war sich nicht sicher ob sie wirklich damit zu vermitteln versuchte: Ich habe aus deinem Gesicht gelesen, dass du misstrauisch gegenüber deinem Freund bist. Aber Linda traute es ihr zu.
„Wie können Sie wissen dass ich das denke?“, fragte sie vorsichtig, auf das schlimmste gefasst.
Nun trat auf Angelicas Gesicht das erste Mal etwas wie Unwissenheit auf.
„Tun Sie? Oh, das tut mir leid! Mir war klar, dass Sie etwas betrüben muss, aber dass ich mit diesem Satz ins Schwarze getroffen habe, war nicht meine Absicht! Ich meinte eigentlich mich.“
„Sie? Wurden sie denn betrogen?“
„Ja, allerdings“, meinte sie und senkte den Kopf.
Das Thema machte ihr anscheinend schwer zu schaffen.
„Wie haben Sie es herausgefunden?“, hakte Linda neugierig nach, obwohl sie nicht weiter in ihr rumbohren wollte – gerade weil sie das Gefühl kannte.
„Ein Glas. Ich war mit meinem damaligen Freund zum zweijährigen essen gewesen. Ich habe ihn gefragt wie sein Tag so war, was er gemacht hat. Er hat mir erzählt, dass ihm von der vielen Arbeit noch ganz der Schädel brummt. Dann habe ich ihn im Glas gesehen, wie er sich mit einer anderen Frau getroffen hat … und was er mit ihr gemacht hat.“ Angelica hielt kurz inne. „Aber es ist weitaus schlimmer nicht darauf vorbereitet zu sein, noch nicht einmal den Verdacht zu haben, dass er einen betrügen könnte. Und das ist nur eine von dutzenden anderen Höllen durch die ich gehen muss.“
Linda tat sie leid. Die bloße Vorstellung, über so eine Gabe zu verfügen und dann solche schlimmen Dinge mitzunehmen. Da konnte sie ja noch froh sein, dass sie eine Affäre schon befürchtete. Sie schaute aus dem Fenster, griff sich das nächstbeste Pärchen, das an Tortentraum vorbeiturtelte und versuchte sich vorzustellen, dass der Mann Felix war und die Frau seine neue Bekanntschaft. Ein unheimliches Gefühl kam in ihr auf. Ihr wurde schlecht und sie hätte weinen können bei dem Gedanken, dass ihre Vorstellung Wirklichkeit werden könnte.
„Kennen Sie den Spruch „manche Dinge bleiben lieber ungesehen“ oder das Gefühl, wenn man weiß, dass man es bereuen wird etwas gesehen zu haben, aber trotzdem hinschauen muss?“
„Ja“, wisperte Linda und wandte sich wieder Angelica zu.
„Der Spruch ist eine Tatsache, von dessen Umsetzung ich tagtäglich träume. Das Gefühl ist die Realität, und mein ständiger Begleiter.“
„Manche Menschen versuchen das Gesehene aber auch zu verleugnen, weil sie die Wahrheit kennen, aber nicht wahrhaben wollen.“
Linda spiegelte in diesem Satz ihre momentane Situation wieder und hoffte, dass Angelica es irgendwie durchschauen würde. Das tat sie natürlich auch.
„Sie glauben, dass Ihr Freund Sie betrügt?“ Linda nickte schüchtern.
Es war ihr peinlich bei ihr Hilfe zu suchen aber Linda wusste nicht wie es weitergehen sollte und vielleicht war das nun die Chance, um einen guten Ratschlag zu bekommen.
„Sie irren sich“, sagte Angelica Walter kurzerhand.
Ungläubig beäugte Linda sie. „Woher können Sie das wissen?!“
Welche Methode hatte sie dieses Mal angewandt? Oder welches Schauspiel war ihr vor Augen gestanden?
„Ich kann es in Ihren Augen sehen. Wie lange sie beide schon zusammen sind und auf welchem Stand die Beziehung ist. Glauben Sie mir, Linda, er betrügt Sie nicht, obwohl er sich aus lauter Stress Dinge zusammenreimt, die nicht stimmen und zu Recht Ihr Misstrauen erwecken.“
„Aber es muss dafür doch irgendeinen Grund geben! Er hat mir noch nie etwas verheimlicht, aber dieses Mal tut er es! Das spüre ich!“
„Sie spüren auch recht gut. Ja, es gibt ein Geheimnis. Aber es ist keine andere Frau, Linda, das verspreche ich Ihnen.“
„Was ist sein Geheimnis? Sagen Sie es mir!“
Angelica musste den Kopf schütteln. „Glauben Sie mir, ich würde es Ihnen liebend gern verraten, gerade erst wenn ich sehe, wie Sie diese Unsicherheit auffrisst. Aber dann wäre es keine Überraschung mehr, und glauben Sie, es wird sich lohnen“, versuchte sie Linda zu überzeugen, nahm sich aber vor, dass, wenn sie sie noch einmal darum bitten würde, es ihr zu erzählen, sie sie nicht auf die lange Folter spannen würde (denn sie war sich sicher, dass Linda dort schon viel zu lange verweilt hatte) und es ihr sofort berichten.
Genau das tat Linda auch. „Angelica, ich flehe Sie an!“, bettelte sie buchstäblich. „Ich werde tot umfallen, wenn ich ihm heute begegne!“
„Er plant, Ihnen einen Antrag zu machen“, verkündete sie unspektakulär.
Linda saß da, bewegte sich nicht, dachte nicht. Sie wusste nicht was sie von dieser Aussage halten sollte. Sie hatte mit allem gerechnet, hätte Angelica alles abgekauft, aber mit sowas hatte sie im Leben nicht gerechnet.
„Was meinen Sie mit Antrag?“
„Einen Heiratsantrag natürlich!“, sagte sie selbstverständlich.
Als sie die Fassungslosigkeit in Lindas Gesicht sah – die wirklich niemandem auf hundert Meter Entfernung entgehen konnte – legte sie noch einen drauf. Natürlich einen Satz der nicht mehr und nicht weniger der absoluten Wahrheit entsprach! Denn auch hier konnte sie Linda verstehen. Hätte sie selbst etwas dergleichen erfahren, nach so schlimmen Befürchtungen, hätte sie auch so reagiert. Ungelogen. Das wusste sie.
Ein Grund für sie – wenn auch ohne Einverständnis – ihr eine Ebene näherzukommen.
„Linda, er liebt dich! Du bist das Beste, was ihm je passieren konnte! Man muss zugeben, dass er ein schlechter Lügner ist, aber das Ergebnis des ganzen wird sich lohnen!“
Linda wusste nicht wo ihr der Kopf stand. Gerade eben wollte sie noch die Welt verfluchen und suchte nach einem Grund, warum Felix sie nicht mehr wollte. Nun stellte sich heraus, dass er sie mehr denn je wollte.
„Und da sind sie sich auch wirklich ganz genau, hundert prozentig sicher?!“
„Ich bin mir unendlich sicher!“
„Danke!“, hauchte Linda ihr nach einiger Zeit der Fassungslosigkeit entgegen und stürmte in die Küche.
„Ich danke dir!“, stellte Angelica, als sie wenig später von Linda bedient wurde, klar.
Das tat sie wirklich. Denn, auch wenn ihre Gabe mehr Qual als Segen war, hatte Angelica Walter heute, hier und jetzt, ihr nicht nur – erstmals nach langer Zeit – ein Lächeln zu verdanken. Nein. Sie hatte auch ein nie endendes Lächeln auf das Gesicht von Linda Steilen gezaubert und zwei Leben für immer verändert.
 

In der Geschichte geht es um die Begegnung zweier Frauen, die eine schlimme Zeit durchmachen und sich unwissend durch diese Begegnung gegenseitig helfen. So stellt sich die Begabung der einen, die bisher immer Fluch gewesen war, als Gabe heraus, um der anderen Frau Hoffnung für ihre geglaubte verloren gegangene Beziehung zu geben.Meike Schäfer, Anmerkung zur Geschichte

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Meike Schäfer).
Der Beitrag wurde von Meike Schäfer auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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