Christa Astl

Heimepisoden: "Taubstumm"




 
 
Eine berührende Begegnung hatte ich mit einer taubstummen Frau. Eher klein, dick, kurze, schüttere graue Haare, hätte man sie auch für einen Mann halten können, was leider oft geschah. Sie war im Rollstuhl, eckte bei ihren unruhigen Fahrten durch die Station immer wieder einmal an einem Tischbein an und stieß unartikulierte raue Laute aus.
In dieser Station hatte ich als Gesprächsbegleiterin öfter zu tun, wusste aber noch nicht, wie ich mit dieser Bewohnerin umgehen sollte. Ich befreite sie nur aus ihrer Lage, sie rollte weiter und ich ging zu "meinen" Damen am Tisch. Eine meinte: "Der Mann mit seinem Schreien ist aber lästig!" - Hier war Erklärungsbedarf gegeben, waren doch die Menschen schon Monate oder sogar Jahre lang beisammen! Die Anonymität der Stadt auch hier auf so engem Raum? Wo ohnehin jeder an Einsamkeit leidet? Ich erklärte also, dass das eine Frau sei, die taubstumm war und keine Worte sprechen konnte, dass sie sich aber irgendwie mitteilen wolle. Gerade kam sie wieder zurück, da streckte eine "meiner" Frauen die Hand aus und zog sie mit an den Tisch.
Die Taubstumme zeigte auf deren Rollator. Nach meiner Frage bei der Stationsschwester und der Erlaubnis der Besitzerin durfte die Taubstumme eine Runde in meiner Begleitung gehen. Mit vor Glück leuchtenden Augen brachte sie den Rollwagen zurück.
Ein andermal traf ich sie, wie sie am Geländer, das den Gang entlang führt, immer wieder aufzustehen versuchte. Erneut bekam ich die Erlaubnis, mit ihr ein Stück zu gehen. Ohne Rollator diesmal, dem Geländer entlang, ich schob den Rollstuhl hinterher, bereit sie "aufzufangen". Voll Vertrauen, dass ich als ihr Schutzengel hinter ihr war, ließ sie sich zurückfallen, wenn an einer Zimmertür vorbei kein Geländer war. Als ich sie nach einer langen Runde in den Aufenthaltsraum brachte, hörte ich ein lautes krächzendes "Danke" und sie hielt lange meine Hand und streichelte sie.
 
Oft ging ich nun mit ihr oder holte sie an den Tisch zu den anderen Frauen, alle versuchten, sie auf irgend eine Weise teilnehmen zu lassen.
Im Garten, wo ich sie nur im Rollstuhl fuhr, gab ich ihr Blumen, Gräser, Früchte in die Hand, zeigte, von wo ich diese gefunden hatte... mit Worten konnte ich die Frau ja nicht erreichen. Sie hingegen begann zu reden. Auch wenn ich sie nur schwer verstand, so wiederholte sie ihre Worte geduldig und las die Antwort oder das Verstehen aus meinem Gesicht. Von einem schweren Unfall berichtete sie, von allerlei Krankheiten und Gebrechen.
Einmal geleitete ich sie zu einer Bank und setzte mich neben sie. Wir waren uns also sehr nahe, hielten uns an den Händen. Plötzlich umarmte und drückte sie mich und gab mir einen Kuss auf die Wange.
Wie viel Leid und Einsamkeit muss in dieser Seele gewesen sein?
 
 
ChA 08.06.15


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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