Anita Voncina

Die Erbschaft

Edi saß auf einem der beiden ausladenden, schwarzen Ledersessel vor dem riesigen, auf Hochglanz polierten Mahagonischreibtisch des Notars und strich sich mit seiner schweißnassen Hand über das schüttere, aschblonde Haar. Dabei betrachtete er unsicher die hohen Regalwände in dem Büro, die zur Decke reichten und bis auf den letzten Platz mit Büchern gefüllt waren. Schließlich atmete er die Raumluft, die so stilvoll nach teuren Zigarren und einem eleganten, herben Männerparfum roch, tief ein und heftete schließlich seinen Blick auf die randlose Brille seines Gegenübers. Seine innere Anspannung begann sich etwas zu legen, als ihn der Notar aufmunternd anlächelte, sich danach mehrmals dezent räusperte und Edi anschließend fragte, ob er nun bereit wäre, den letzten Willen des Verstorbenen zu hören.
     Für einen kurzen Moment schweiften Edis Gedanken noch einmal ab und er hatte das Gefühl, dass sein Herz doch noch einen nach außen hin sichtbaren Luftsprung machen würde, doch dann nahm er sich vor all die wundervollen Pläne, die er seit Tagen unablässig geschmiedet hatte, wenigstens noch für die nächsten Minuten energisch beiseite zu schieben. Zumindest so lange, bis der Notar das Testament seines verstorbenen Onkels, dessen einziger lebender Nachkomme er war, verlesen haben würde.
     „Und so möchte ich meinem Neffen Eduard, Sohn meines verstorbenen Bruders Franz, den Eichenschrank aus meinem Arbeitszimmer übereignen und hoffe dabei, dass dieser ihn zu meinem Gedenken in Ehren halten wird.“ Nachdem der Notar diesen Satz aus den mit einer grünen, gedrehten Kordel zusammengebundenen Papieren vorgelesen hatte, machte er eine deutlich erkennbare Pause, bevor er sich erneut in seinem Ledersessel zurücklehnte, die Brille von der Nase zog und seine grauen Augen aufmerksam auf Edis reglose Gestalt heftete. Als sich nach einer ganzen Weile der völligen Stille jedoch weder der ungläubige Ausdruck in den Augen des Mannes auf der anderen Seite seines Schreibtisches verändert hatte, noch sich dessen halb geöffneter Mund geschlossen hatte, verspürte der Notar das dringende Bedürfnis, dem Text des Verstorbenen noch etwas hinzuzufügen. Und so versuchte er seiner Stimme einen möglichst sanften Klang zu verleihen als er zu Edi sagte, dass dies wohl alles gewesen sei, was das Erbteil des Neffen beträfe. Der restliche Nachlass, die Baugrundstücke rund um das örtliche Kloster, die Mietshäuser in der Innenstadt, die Anlagekonten, Aktien und das Herrenhaus mit dem Parkgrundstück und dem angrenzenden Nutzwald, würden gemäß der Verfügung des Verstorbenen in den Besitz verschiedener Wohltätigkeitsorganisationen, der zuständigen Diözese und der Heimatstadt des Verstorbenen übergehen.
     Edi saß in sich zusammengesunken und kraftlos in seinem Ledersessel, er hatte rasende Kopfschmerzen und es war ihm schlecht. Je mehr er sich bemühte auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, desto unverständlicher erschien ihm das Vermächtnis seines Onkels. Mit einem Schlage hätte sich Edis Leben nun verändern können, es hätte endlich Schluss sein können mit all den Geldsorgen, die seine Frau und ihn schon seit Jahren plagten. Sicherlich, musste er sich eingestehen, war das Verhältnis zwischen ihm und seinem Onkel niemals sehr herzlich gewesen, denn der alte Mann war immer ein überaus schwieriger Mensch. Und doch, obwohl Edi nie auf den Tod seines Onkels gewartet hatte, war er sich stets sicher gewesen, dass er diesen eines Tages beerben würde. „Wer denn sonst wenn nicht seinen einziger Verwandter“, murmelte er halblaut und erhob sich anschließend mit weichen Knien von seinem Platz. Dann reichte er dem Notar die Hand, bedankte sich für die Zeit, die dieser sich für ihn genommen hatte, und verließ das Notariat so schnell er konnte. Während der Notar sich dann wieder in seinen Sessel fallen ließ, sich zurücklehnte, mit Genuss eine Zigarre rauchte und darüber nachdachte, warum das Geld auf dieser Welt doch immer wieder eine so große Rolle spielte, war Edi mit seinem Auto bereits schon stadtauswärts unterwegs.
     Eine halbe Stunde später stellte er den Wagen in der Auffahrt des Herrenhauses ab, das Edis Großvater vor langer Zeit erbaut hatte und das bis zum heutigen Tag Familienbesitz gewesen war. Dann klingelte er an der Tür des Hausmeisters, der in dem riesigen Gelände das ehemalige Gästehaus bewohnte. Kurz danach war Edi mit dem Mann unterwegs zum Haupthaus, denn er hatte sich vorgenommen, sein Erbteil, und sei es noch so unbedeutend, noch am selben Tag abzuholen. Warum er das unbedingt tun wollte, wusste er selbst nicht so ganz genau, doch er hatte das Gefühl als würde er, wenn er das alte Stück nicht umgehend mit nach Hause nähme, auch noch auf den allerletzten traurigen Rest seiner Hoffnungen, die er sich bis dahin gemacht hatte, verzichten. Schließlich erreichten Edi und der Hausmeister das Arbeitszimmer des verstorbenen Onkels mit seinem stickigen Mief, der in den schweren, dunkelgrünen Samtvorhängen und der düsteren Wandtäfelung aus Ebenholz hing, seit er sich zurückerinnern konnte. „Ihr Herr Onkel hat das Licht nicht sehr geschätzt“, sagte der Mann zu Edi wie zur Entschuldigung und steuerte gleich darauf die Fenster an, um die Vorhänge zurückzuziehen und die Scheiben zu öffnen. Das fahle Licht eines diesigen Nachmittags im Dezember fiel damit in den Raum und beleuchtete auf diese Weise wenigstens notdürftig das schwere Mobiliar. Den mit Papieren überhäuften, riesigen Schreibtisch in der Mitte, den ausladenden, abgewetzten Lehnstuhl neben der Jugendstillelampe aus Messing in der die Birnen fehlten, und den verschlossenen Aktenschrank rechts neben der Tür. In der hinteren Ecke des Zimmers schließlich stand Edis Anteil am vererbten familiären Vermögen, der Eichenschrank, dunkel, wuchtig und selbst bei der mangelhaften Beleuchtung im Raum deutlich erkennbar abgewohnt und schäbig.
     Schweigend ließ Edi seine Hand über den abgeplatzten Lack des Schrankes gleiten, über die zahlreichen Risse und tiefen Kratzer, die man diesem im Laufe der Jahrzehnte zugefügt hatte, betrachtete dabei das kaputte Schloss der Türen und den fehlenden Fuß vorne rechts, den man lediglich durch einen ungehobelten Holzklotz ersetzt hatte. Und entdeckte schließlich die unzähligen, winzigen Löchlein eines Holzwurms, der darin vermutlich schon seit geraumer Zeit hauste. „Alter Junge“, sagte Edi leise und meinte damit den Holzwurm, „mach dir keine Sorgen, du musst anscheinend doch nicht umziehen, denn hier, mein Lieber, passt du eigentlich bestens ins Bild.“ Danach drehte sich Edi auf dem Absatz um, klopfte dem verdutzten Hausmeister im Vorbeigehen aufmunternd auf die Schulter und durchquerte das Herrenzimmer des Onkels mit eiligem Schritt. Als er wenig später die schwere, knarrende Eingangstüre des Hauses hinter sich geschlossen hatte und auf sein Auto zusteuerte, wurde ihm mit einem Schlag bewusst, dass es, genau genommen und logisch betrachtet, keinen vernünftigen Grund mehr dafür geben könne, noch länger niedergeschlagen und enttäuscht zu sein, oder gar mit dem Schicksal und dem Verstorbenen zu hadern. Denn um nichts auf der Welt hätte Edi mit dem Onkel jetzt noch tauschen mögen. 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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