Germaine Adelt

Großvater

Großvater

Jeden Sommer verbrachte ich die Ferien bei meinem Großvater. Dies gehört zu den schönsten Erinnerungen an meine Kindheit. Der besondere Reiz bestand darin, dass man sich auf dem alten Hof in längst vergangene Zeiten versetzt fühlte.
Das Wasser wurde aus der Pumpe geholt, die im Waschhaus neben dem Stall stand. Die Toilette war ein Bretterhäuschen mitten auf dem Hof. Im gesamten Haus gab es nur eine Stromquelle: die flackernde Küchenlampe über dem Tisch. Sie verdankte ihre Existenz wohl nur der Tatsache, dass Großvater auch an den langen Winterabenden seine Zeitung lesen wollte. Großmutter saß dann zu gern neben ihm und flickte hingebungsvoll die Wäsche.

Heute vermisse ich oft diese unendliche Ruhe. Kein Radio oder Fernseher dudelten, am Hof kam höchst selten ein Auto vorbei. Nur das Muhen der Kühe, der Gesang der Vögel oder das monotone Ticken des Regulators waren zu hören.
Oft verbrachten wir den Tag auf dem Feld und wenn wir uns ausruhten, dann auf der kleinen Holzbank, gleich neben dem Gartentor. Großvater erzählte dann Geschichten aus der Zeit, in der es weder Strom noch Telefon gab. Von schönen und schweren Zeiten. Von Glück und Unglück. Von Krieg und Missernten.
Eines Tages fragte ich ihn: „Sag, worin besteht er eigentlich, der Sinn des Lebens?“
Er lächelte und antwortete: „Das weiß ich nicht.“
Dann reckte er seine Nase in die Sonne, schloss die Augen und genoss die wärmenden Strahlen. „Weißt du, solange die Sonne immer wieder aufgeht und uns wärmt, sei es im Sommer oder im Winter, ist das für mich Leben.“
„Aber, worin liegt der Sinn, wenn wir sterben ohne Großes geleistet zu haben?“
Verwundert sah er mich an: „Ist es nicht groß genug, wenn man eine Familie gründet und ernährt? Reicht es in deinen Augen nicht, wenn man durch eigene Hände Arbeit die Grundlage dafür schafft?“
„Nein, das meine ich nicht. Ich meine das Schaffen von etwas Großem, etwas von
Wert. Etwas was nach dem Tode bleibt“
Seine Augen funkelten listig: „Auch du wirst Kinder haben.“
„Ach, Großvater!“ schmollte ich, „Du verstehst mich nicht.“
Mitleidig schüttelte er den Kopf.
„Ich verstehe dich sehr wohl. Haben sie dir auch eingeredet, dass es nicht reicht morgens aufzustehen, die Arbeit zu tun und die Familie zu ernähren? Glaubst du auch, etwas Großes schaffen zu müssen? Sei es ein Buch oder was auch immer, nur um deinen Namen der Nachwelt zu erhalten? Natürlich sollst du Großes tun, wenn es dir gegeben ist. Aber nicht um des Lebenssinns willen. Leben hat immer Sinn. Sieh mich an! Ich lebe, weil ich es gern tue, ohne darüber nachzudenken. Ich freue mich, wenn die Sonne aufgeht und ich mit deiner Großmutter den Tag erleben kann. Aber was soll das alles?“
Wieder reckte er seine Nase in die Sonne und murmelte:
„Glaube mir, solange sie scheint wird es Leben geben. Ob nun sinnvoll oder nicht.“

Vielleicht hatte er sogar recht.
Inzwischen ist Vater älter, als Großvater damals war. Und immer wenn mich Zweifel plagen, ob all mein Tun und Schaffen auch richtig und groß genug ist, gehe ich in den Stadtpark. Dann setze ich mich auf eine Bank, recke meine Nase in die Sonne und genieße die wärmenden Strahlen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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