Meike Schäfer

Alvarez - Der Schwur - 1. Kapitel - Der Beginn - Seite 28-47

Ich wusste, andere hätten sich über so ein Urteil glücklich geschätzt, aber ich konnte das nicht. Ich war froh, dass ich keinen zu großen Ärger bekam aber eigentlich wollte ich ihn. Denn ich war sicher die einzige, die von ihren Eltern verschont wurde, nur wegen ihrer Situation. Ich akzeptierte ihr Urteil nicht. „Nein Victoria.“
Verwundert sah sie mich an. „Was ist denn los?“
„Ich will wie ein normales Kind behandelt werden und nicht einfach eine Sonderbehandlung bekommen, nur weil du meine Situation verstehst.“
Sie grübelte zuerst über ihre Antwort nach aber dann kam doch eine Lösung, mit der ich zufrieden war.
„Also zuerst mal behandele ich dich wie ein normales Kind und du bekommst sicher keine Sonderbehandlung! Aber wenn du es so willst, wie wäre es mit … Hausarrest für heute?“ Ich grinste. „Klar.“
Plötzlich stand sie auf und wies mich schnell nach oben.
„Na dann ab Fräulein! In dein Zimmer und mach deine Hausaufgaben!“, befahl sie mir in einem gespielten strengen Tonfall. Ich verbarg mein Grinsen über ihre mangelnde schauspielerische Leistung und machte mich auf in mein Zimmer. Für den ersten Schultag nach den Ferien gaben uns die Lehrer erstaunlich viel auf. In Kunst mussten wir Fachbegriffe erklären, von denen ich absolut keine Ahnung hatte, in Biologie den Aufbau des menschlichen Körpers in Nummern gliedern und aufschreiben, was die meiste Zeit beanspruchte, und ein Arbeitsblatt zum Thema „Die Pest im Mittelalter“ für Geschichte ausfüllen. Gerade war ich in Biologie versunken, als mich Victoria von unten zu sich rief.
„Katrin.“
„Ja?“
„Kommst du bitte runter, wir haben Besuch.“
Na toll, dachte ich. Hoffentlich war es nur eine Nachbarin, die etwas vorbeibringen wollte. Als ich aber auf dem halben Weg zur Treppe war, sah ich den Besuch und wusste nicht, ob ich schockiert oder fröhlich reagieren sollte.
„Hallo Katrin.“
Unten neben Victoria stand der Junge, dem ich heute in der Schule begegnet war. Der, der mit seiner Schwester in der Cafeteria gesessen und zu Emma und mir rüber geschaut hatte. „Hi“, antwortete ich trocken.
„Katrin, das ist Matthew Cabot“, stellte sie mir den Jungen vor.
„Nur Matt, Victoria“, korrigierte er sie.
„Wieso müsst ihr eure Namen immer verkürzen. Matthew ist so ein schöner Name.“
Victoria ging in die Küche und trocknete die noch übrig gebliebenen Teller ab.
„Kate würde ich tragischer finden“, gab er zu bedenken.
Sollte das ein Verkupplungsversuch von Victoria werden, hatten wir beide immerhin schon mal eine Gemeinsamkeit. Wir wollten beide nicht, dass mein Name gekürzt wurde und nicht nur wir beide. Ich ahnte schon, was jetzt kam. Victoria hielt einen kurzen Vortrag über ihre Herkunft.
„Ein englisch ausgesprochener Name für meine Tochter? Nein, nein, nein. Schließlich kommen meine Eltern aus Deutschland. Auch wenn ich keinen großartigen Kontakt mehr zu ihnen halte, das Recht, meinem Kind einen deutschen Namen zu geben, habe ich doch noch.“
Um sie etwas zu beruhigen, versuchte ich sie anderweitig zu beschäftigen. Man durfte ja nicht vergessen, dass der Junge namens Matt Cabot auch noch anwesend war.
„Ähm Victoria?“
Sie drehte sich zu mir um. Gerade, als ich mir eine gute Geschichte ausdenken wollte, kam sie selbst auf eine.
„Was ist los? Oh ja, mein Fehler. Ich kenne Matt schon seit Jahren und habe ihn gebeten, dass er sich dich vornimmt“, sie schaute auf ihre Uhr und bekam sichtlich einen Schock. „Ach du meine Güte, so spät schon! Der Supermarkt schließt in einer Stunde, und ich muss zusätzlich noch ein paar Erledigungen machen. Einen bestimmten Wunsch Katrin?“
Ich schüttelte den Kopf. „Wie immer nichts.“
„Dann fahre ich mal los. Ihr beiden kommt zurecht?“
„Ich denke schon“, sagte Matt ohne auch nur einen Moment den Blick von mir abzuwenden.
„Gut, bis später.“
Mit diesen Worten machte sie die Haustür hinter sich zu und verschwand mit ihrem Auto auf der Straße. Gedanklich war ich ihr hinterhergelaufen und hätte gegen die Tür gehämmert und geschrien, als sie zufiel. Jetzt stand ich auf der Treppe, hielt mich mit einer Hand am Geländer fest und hoffte, dass hier das schneller vorbeisein würde, als so manch anderes Unangenehme. Ich vermied den Blick zu ihm und klammerte mich wortwörtlich an dem hellen Holz fest. Was wollte sie überhaupt damit bewirken, dass ich allein in einem Haus mit einem völlig Fremden war. Fand sie das etwa lustig?
„Willst du nicht mal von der Treppe runterkommen“, forderte mich Matt auf.
Widerwillig blickte ich ihn an.
„Die Situation und die Hektik haben mich praktisch überrumpelt.“
Das gleiche Grinsen, mit dem er vorhin in der Schule alle Schüler hinter mir gemustert hatte, trat in sein Gesicht.
„Warum fangen wir dann nicht da an, wo wir aufgehört haben.“
Ich überlegte. Wo hatten wir aufgehört? Das einzige, über das wir uns überhaupt unterhalten hatten, war Mathe gewesen. Zwar nicht das beste Thema für das erste Gespräch aber was wollte man machen.
„Die Mathe Klausur?“, versuchte ich es.
Er ging langsam im Kreis. „Wenn du möchtest, dass ich dir Nachhilfe in Mathe gebe, ist es zwar nicht meine Aufgabe aber, wenn wir den Grund meines Daseins darin einfließen lassen, habe ich damit kein Problem.“
Ich verstand vom Inhalt dieses Satzes fast gar nichts aber ich wollte es auch nicht. Ich war froh, wenn er wieder gehen und mir keine Vorträge halten würde, die ich sowieso nicht nachvollziehen konnte. In der Schule benahm er sich ganz normal, wie es alle Jungen in seinem Alter taten, vielleicht ein bisschen rücksichtsvoller. Jetzt kam er mir mehr wie ein Professor vor, und das machte mir Angst.
„Wenn du mir den Grund für dein Dasein nennen würdest.“
Sein Blick wanderte zum Wohnzimmer.
„Dafür setzen wir uns am besten auf die Couch.“
„Ok.“
Wenn es nichts Weiteres ist, dachte ich.
„Also?“, fragte ich, als wir uns gesetzt hatten und er mich ruhig anschaute.
„Das, was ich dir jetzt sage, ist nicht übernatürlich schön und deshalb brauche ich, wenn es geht schon ab morgen, dein vollstes Vertrauen.“
Jetzt wirkte er auf mich wieder wie vorhin in der Schule. Obwohl er nicht besonders froh klang, aber das war mir egal. Im Gegenteil. Wenn er mich extra aufsuchte, um mit mir etwas Unangenehmes zu besprechen, hieß es mehr, dass es für mich Nachteile hatte, anstatt für ihn und ich brannte darauf, mir diese schlimmen Sachen erzählen zu lassen.
„Mein Vertrauen muss man sich erst mal erarbeiten.“
„Das kriege ich hin. Hört sich jetzt etwas ernster als heute Morgen an, nicht?“
Verunsichert sah ich ihn an. „Was willst du von mir?“
Ich wollte keine Show haben, sondern einfach Fakten. Als er das, nach meinem Gesicht zu urteilen, erkannte, brachte er sein Wissen kurz rüber. „Deine Mom und du, ihr stammt von Zauberern ab.“
Ich konnte ihn nur anstarren. Meine Gesichtszüge vereisten gleichzeitig. Woher hatte er diese Information? Belauschte er uns etwa? War er in der Schule etwa nur so nett gewesen, aus Mitleid, weil er wusste, dass ich teils nicht wie die anderen war?
„Wer sagt das“, wollte ich wissen.
Ich versuchte mir keine Emotionen oder Gefühle anmerken zu lassen. Einfach ein Anblick, der keine eindeutige Antwort gab, auf seinen Verdacht, seine Vermutung oder seine Erkenntnis.
„Victoria.“
Als er den Namen meiner Mom aussprach, teilte er meinen Blick. Nur war jetzt der Unterschied, dass ich leicht geschockt dreinblickte. Victoria hatte es ihm erzählt! Es spielte eigentlich keine Rolle, ob es er oder jemand anderes war. Sie hatte hinter meinem Rücken, eine andere, mir völlig fremde Person eingeweiht in Dinge, die niemanden außer uns etwas angingen. Der einzige Mensch, der davon wusste, war Emma. Als meine beste Freundin hatte Victoria vor etwa einem Jahr Verständnis dafür gezeigt, dass sie es erfahren durfte. Nach dem sie mich mehrere Wochen nur noch genervt hatte mit dem, was mit mir los sei, war ich sehr froh darüber gewesen, ihr es endlich sagen zu können. Aber ein Fremder, konnte sonst was mit dieser Information anfangen.
„Und, wieso interessiert dich das?“, wollte ich wissen.
„Deine Mom hat dir sicher noch nichts über deinen Dad gesagt, oder?“
Etwas Kaltes durchfuhr meinen Körper. Lange Eiszapfen drangen blitzschnell in meinen Körper ein, bohrten Löcher in meine Haut und steuerten weiter auf mein Herz zu, welches sie umzingelten. Es war jetzt vollständig eingefroren und nichts konnte mehr raus und mehr rein.
„Nein“, sagte ich ruhig. „Ich wüsste aber nicht was dich das angeht.“
Er hielt beide Hände hoch, als Zeichen, dass er es mit mir nicht Böse meinte. Um zu verhindern, dass ich gleich vielleicht ausrastete, was eventuell der Fall war.
„Denk jetzt nichts Böses über ihn, denn er ist sehr nett und ist mit meinem Dad befreundet. Seine Vorfahren waren sogenannte Blutsauger. Heute sagt man dazu Vampire. Die Vorfahren meiner Familie sind nicht die gleichen wie seine, da sie aus einem uralten Adelsgeschlecht stammen aber sie sind auch Blutsauger.“
Aus dem normalen sympathischen Typen von heute Morgen war jemand verrücktes geworden. Vom Benehmen und Aussehen war er ganz der alte, insofern ich das beurteilen konnte, aber er redete nicht mehr normal. Irgendwas mit Blutsaugern und Adelsgeschlecht und Vampir. Meinetwegen konnte er seiner Fantasie freien Lauf lassen, aber er zog meinen Dad in das Ganze mit hinein und das hatte noch Konsequenzen.
„Meinst du damit, dass mein Dad ein Vampir ist?“, erkundigte ich mich, ob ich mich gerade nicht verhört hatte.
„In gewisser Hinsicht. Wenn du dir aber einen kreidebleichen Mann mit einem langen schwarzen Umhang in einer Gruft oder in einem Sarg liegend vorstellst, liegst du falsch.“ Ich ignorierte den zweiten Satz vollständig. Nur auf die ersten drei Wörter kam es mir an. In gewisser Hinsicht. Sollte das etwa heißen, dass er meinte, dass mein Dad in gewisser Hinsicht ein Vampir war oder ist? Dies war absurd.
 „Du erwartest doch nicht ernsthaft von mir, dass ich dir glaube!“
„Ich weiß, die Sache überfordert dich aber ich muss dir das erzählen. Befehl von Victoria.“ „Nur weil wir nicht wie andere Menschen sind, erfindet sie Lügen über meinen Dad, die ihn als eine der dunkelsten Gestalten der Fabelwesen entpuppen soll und schickt auch noch einen Fremden vor, damit sie mich nicht anlügen muss?“
Ich senkte den Kopf und lachte in mich hinein. Ich hatte gerade mit anderen Worten gesagt, dass Victoria eine Verräterin war. Ob sie es wirklich war oder nicht, wollte ich mir gar nicht erst überlegen.
„Für Victoria bin ich kein Fremder, genauso wenig wie für deinen Dad und wir sind uns auch schon mal begegnet und da warst du weitaus freundlicher, als du es jetzt bist.“
Ich setzte mich wieder aufrecht und sah ihn hasserfüllt an.
„Da wusste ich auch noch nicht, dass du so etwas Abscheuliches über meinen Dad behauptest.“
Nun verfinsterte sich auch seine Miene. Er rieb sich die Hände, während er mich fokussierte. Bei anderen verstand ich, dass sie an diesem Punkt von meinem Benehmen genervt waren, aber er hätte dafür Verständnis zeigen müssen. Er hatte damit angefangen, meinen Dad schlechtzureden.
„Hast du irgendwas? Einen Anhaltspunkt, der beweisen kann, dass ich lüge? Weißt du überhaupt etwas von deinem Vater?“
Entsetzt sah ich Matt an. Wie redete er mit mir? Und was erwartete er von mir? Ich wusste nicht wie alt er war aber ich war fünfzehn, ein Einzelkind und ohne Vater aufgewachsen. Von meiner Mutter hatte ich eine Abstammung vererbt, die dieser Welt vollkommen fremd war und für die ich mich schämte, obwohl ich dafür bis jetzt noch keine Anzeichen verspürte. Ich wusste nicht, welchen Auftritt er sich hier erhofft hatte, aber ich wollte auf gar keinen Fall Teil davon sein. Ich spielte da nicht länger mit. Ich stand auf und wollte das Wohnzimmer verlassen.
„Das muss ich mir nicht länger anhören!“
Gerade wollte ich in Richtung Tür schreiten um sie gnädig für ihn aufzuhalten, wenn er das Haus verließ, aber dann brachte er mich doch aus meinem Konzept, indem er dafür sorgte, dass ich noch nicht einmal das Wohnzimmer verlassen konnte. Mit verschränkten Armen und einem wütenden und nervigen Blick, lauschte ich widerwillig seinen Worten, die mich eines Besseren belehren sollten.
„Ich weiß nicht, wie du dahin gekommen bist aber ich lebe im Sein. Deine Mom und dein Dad leben auch im Sein. Nur du lebst im Schein. Du hast deinen Dad nie gesehen, mit ihm nie gesprochen und außer dir gibt es keinen Anhaltspunkt, der beweisen kann, dass er wirklich existiert hat. Ich kann verstehen, dass du dir ein Bild in deinem Kopf entstehen lassen hast, was einen netten, freundlichen Menschen zeigt aber das muss nicht heißen, das du recht behältst. Ich sage nicht, dass dein Dad ein schrecklicher Mensch ist. Er ist, wie schon gesagt, sehr nett aber nur weil seine Vorfahren Vampire waren, macht ihn das nicht automatisch zum Monster! Das Monster ist jemand anderes.“
Wortlos stand ich da. Ich war nicht mehr wütend auf ihn. Ich konnte ihn noch nicht so sehr leiden, dass ich ihm sofort die Freundschaft anbieten wollte, ich hasste ihn aber auch nicht. Dass ich nachgegeben habe lag daran, dass er mir die Lage erklärt hatte und dass er damit recht behielt. Ich war so wütend auf ihn gewesen, weil er mir veranschaulichte, dass mein Dad ein schlechter Mensch war, ein Vampir. Mir persönlich ist egal, was er letztendlich ist, denn es zählten ja bekanntlich nur die inneren Werte und ein netter Vampir sollte auch schon mal vorkommen. Ich ließ ihn einmal richtig zu Wort kommen und es entpuppte sich als wahrhaft hilfreich. Ich kam langsam wieder in seine Nähe.
„Wer soll dann das Monster sein?“
Als er sprach, hörte er sich nicht mehr verärgert an. Er schien eher froh darüber, dass ich nicht wieder so auf ihn hetzte. „Mein Onkel. Ebenfalls ein Vampir.“
„Heißt das, wenn dein Onkel ein Vampir ist, bist du auch einer?“
„Ja, ich habe ja die gleiche Abstammung.“
Jeder andere Mensch, bestes Beispiel Emma, wäre jetzt sicher lauthals schreiend durch das Haus gerannt und hätte nach Knoblauch gesucht, oder das Gegenteil, wie Chris, hätte ihn als gigantisch angesehen. Ich stand in etwa in der Mitte. Mich schockierte sein Geständnis nicht. Um ehrlich zu sein war ich froh drum, mit jemandem zu sprechen, mit dem man nicht verwandt war und mit dem scheinbar alles noch stimmte aber auch anders war. Ich nickte.
„Ist in Ordnung.“
Um sicherzugehen, dass ich nicht scherzte, hob er seinen Kopf zu mir hoch. Mit dieser Reaktion hatte er wohl gar nicht gerechnet. Aber sein Blick wurde nur noch heller.
„Und habe ich dir heute einen Schrecken eingejagt? Hab ich mich anders verhalten, als andere oder an einem Menschen gesaugt?“
Ich musste lachen. Er auch, aber er hielt sich in Grenzen. Ich fand es einfach nur komisch, wie er sich ausdrückte. Obwohl es für die Vampire im allgemeinen Sinn unentbehrlich war.
„Weiß Victoria davon?“
Matt nickte. „Ja. Sie wusste es schon durch deinen Dad und sie hat es bis jetzt noch nicht bereut.“
„Hast du mich nur deshalb heute angesprochen?“
„Was heißt hier nur deshalb? Ich wollte mir einen ersten Eindruck von dir machen.“
Verzweifelt begab ich mich näher in Richtung Couch. Auf mein Urteil war ich nicht gerade gespannt. Dafür musste man aber auch die Situation sehen und mich verstehen. Immerhin hatte er mich mit meinem Dad provoziert und mich über mein gesamtes zukünftiges Leben verunsichert.
„Und wie war er?“, fragte ich zögernd.
Er hob die Augenbrauen, als wüsste er nicht, warum ich mich so vor seinen Worten versteckte. „Eindeutig positiv. Du kommst ganz nach deinen Eltern.“
Machte er Witze? Nach dem, was ich in den vergangenen Minuten von mir gegeben hatte, waren meine Erwartungen weitaus entsetzlicher gewesen. Vielleicht konnte er mich ja auch verstehen. Ich wollte es zumindest nicht weiter auf die Spitze treiben. Somit entschied ich mich, mit ihm jetzt alles durchzukauen, weshalb er hier war.
„Erzähl mir noch mehr über deinen Onkel.“
„Ich formuliere es mal harmlos, soweit wie es geht. Setz dich ruhig wieder hin“, forderte er mich auf und wies auf die Couch, auf den Platz, den ich eben verlassen hatte. „Spätestens in zwei Minuten, wirst du sowieso nicht mehr gerade stehen können.“
„Du traust mir ja echt was zu“, protestierte ich gegen seine Anmerkung, während ich mich setzte.
„Nein“, grinste er, „Obwohl es unwahrscheinlich ist, traue ich dir das mehr zu, als den Rest.“
„Dann fang an.“
„Mein Onkel heißt Tyrece Fawkes. Er steht zu seinen Vorfahren, wie der Papst zu Gott. Wir hätten normalerweise dieselben Vorfahren aber vor einer Zeit gingen sie getrennte Wege. Tyrece will, dass die Gesetze, die seine Vorfahren aufgestellt haben auch erhalten bleiben aber deine Eltern haben ein Gesetz gebrochen, indem sie dich gezeugt haben. Es geht ihm nur um Rache und die bekommt er, wenn er dich tötet.“ Beklommen schaute ich zu ihm. Das war eine Geschichte, die man nicht gerade erwartete. Man hoffte trotz allem auf etwas weniger dramatisches. Ich fing aber, im Gegensatz zu anderen, nicht direkt an zu weinen. Es erschütterte mich schon sehr und versetzte mich auch in einen großen Schockzustand, aber um es richtig nachvollziehen zu können, musste er mir mehr erzählen. „Dein Onkel, Tyrece, will mich also umbringen“, wiederholte ich seine Worte in Kurzfassung, um es selber erst mal zu verinnerlichen.
„So sieht es aus“, sagte er, ebenfalls angeschlagen. Ob er sein Mitleid nur vorspielte oder es wirklich ernst meinte, wusste ich nicht. Als ich über jeden einzelnen Satz nachdachte, hielt ich an der Stelle, in der Victoria eine Rolle spielte, an. Nur weil sie und mein Dad mich gezeugt hatten, war ich in Gefahr? Was sollte denn das bedeuten? Hatte sie etwa bewusst gegen dieses Gesetz verstoßen, nur um diesem Tyrece Fawkes zu zeigen, dass nicht alle nach seiner Pfeife tanzten? Wäre das der Fall, dann müsste ihr mein Leben damals völlig egal gewesen sein.
„Und Victoria wusste das und hat mir nichts gesagt?“
„Es war besser, dass ich es dir sage“, wollte er sie in Schutz nehmen aber ich winkte nur ab. Das ging alleine Victoria und mich etwas an und nicht ihn.
„Entschuldige mal bitte aber sie ist meine Mom. Sie ist für mich verantwortlich und dann ist es gefälligst auch ihre Aufgabe, es mir zu sagen!“ „Katrin!“, schrie Matt mich an, um auch mal zu Wort zu kommen und mich eventuell wieder von Victorias Unschuld zu überzeugen. Erschrocken von seinem Aufschrei und der Ungeduld, die er mit mir hatte, verstummte ich augenblicklich und saß wie gefesselt dort. Dann lockerte er sich aber zum Glück wieder. „Kannst du dir vorstellen, wie es ist, Kinder zu haben? Du hast den Wunsch Mutter zu werden und auf einmal liegt nach neun Monaten in deiner Hand ein kleines Lebewesen zu dem du, während der Schwangerschaft eine innige Bindung aufgenommen hast, da es in deinem Körper gewachsen ist. Du liebst dein Kind über alles und würdest alles für es tun. Nach einigen Jahren hat es sich zu einem selbstständigen Menschen gewandelt und ist zwar nicht ganz perfekt geworden aber du liebst es trotzdem. Sobald du ihm in die Augen schaust, siehst du all die Jahre in Sekunden vorbeigehen. Es wurde gelacht, geweint, gefeiert, getrauert, geliebt und gehasst. So viele Momente, die du gar nicht ohne es und mit ihm zusammen erlebt hättest. Alles ist perfekt und du, die stolzeste Mutter weltweit. Doch dann erfährst du, dass du es verlieren könntest, für immer und weißt, dass der Gegner eine große Macht besitzt. Victoria weiß auch, dass sie alleine nichts gegen den Gegner machen kann und so holt sie sich Hilfe, von uns, mir und meiner Familie. Aber würde sie dir in die Augen schauen und wieder jeden Moment mit dir sehen, glaubst du wirklich, dass sie das übers Herz bringen wird? Würdest du es von ihr verlangen?“
„Und was soll ich ihr sagen, wenn sie wiederkommt?“
Diese Frage stellte ich mir schon, seit sie das Haus verlassen hatte.
„Zum Beispiel, dass du unsere und speziell meine Hilfe annimmst und mir versuchst zu vertrauen. Das erspart ihr sicher einige Sorgen.“
Schön, dass es Victoria Sorgen ersparte. Mir brachte es nur welche.
„Wieso sollte ich dir vertrauen?“, fragte ich Matt.
„Als Victoria mir von dir erzählt hat, habe ich mit einem eingebildeten Mädchen gerechnet, dem alles egal ist außer sich selbst. Aber du bist ganz anders. Nett, sympathisch, hilfsbereit, freundlich, vielleicht ein bisschen in dich eingekehrt, klug, intelligent, wenn auch manchmal ein bisschen aufbrausend. Da fragt man sich wirklich, wieso hält so ein Mädchen ihr Leben an, nur weil sie von Zauberern abstammt?“
Er wusste überhaupt nicht, was er da sagte. Er konnte sich nicht in meine Lage versetzen. Zwar hatte er vielleicht auch eine etwas andere Abstammung aber zwischen Zauberern und Vampiren lagen meilenweite Unterschiede.
„Vampire sind eben begehrter.“
Er gab ein hysterisches knappes Lachen von sich. „Zauberer schaffen es auch leicht Menschen, ohne dass sie sie verzaubern, zu beeindrucken.“
„Schon mal Dracula gelesen oder Frankenstein? Davon gibt es unzählige Bücher und Verfilmungen und je geheimer und unergründlicher die Gestalt ist, umso besser. Ich meine, der Vampir die Sagengestalt!“
„Ich hörte zwar Dinge von Frankenstein und Co., aber ich war zu sehr mit meinem eigenen Leben beschäftigt, als dass ich mich um diese Legenden kümmere.“
Ich sah ihn ungläubig an. „Das heißt, du bist zwar ein Vampir aber kennst nicht die Legenden?“
„Wenn Leute etwas sehen, was neu ist oder ihnen die Sprache verschlägt, sei es gut oder schlecht, dann erzählen sie es weiter, machen die Geschichte aber gleichzeitig spannender, als sie ist. Das machen die meisten, um Aufsehen zu erregen. Man hat wissenschaftliche Gründe, für das, was die Leute im Mittelalter für einen Vampir gehalten haben, speziell die Merkmale. Man hat weitere Geschichten über diese Gestalten erfunden. Die Leute wollten etwas spannendes, neues, was aber auch beängstigte. Die Kirchen standen im Mittelalter an oberster Macht und waren von den Sagen über die Kreaturen natürlich schockiert, weil sie glaubten, dass ihr Leben nichts mehr mit Gott zu tun hat. Deshalb erfand man immer neue Geschichten um die Leute von ihnen fernzuhalten. Aber mit der Zeit fingen die Menschen an, die Gefahr zu suchen und ließen sich immer neue Geschichten zum Vampir einfallen, um ihn weiterleben zu lassen, wenn er auch nicht existiert hat. Zumindest nicht in der Form der Menschen, die damals beschuldigt wurden, einer zu sein.“
„Heißt das, du glaubst nicht an Vampire?“
Er gab ein kurzes Lachen von sich. „Dann hätte ich den Glauben an meine Abstammung verloren und wäre sicher heute nicht hier. Aber was man unter einem uralten Vampir versteht, der nachts aus dem Sarg gekrochen kommt, trifft nur auf meine Vorfahren zu. Die sind aber schon lange wirklich tot. Als Vampirexpertin weißt du ja sicher auch, dass man sie durch spitze Gegenstände töten kann. Im Prinzip war es damals egal, was man ihnen ins Herz stieß. Hauptsache es ist unfähig weiterzuarbeiten und kann auch nicht mehr geheilt werden.“
„Um sowas zu wissen muss man doch kein Experte sein. Das sind die Grundkenntnisse“, fuhr ich ihn an.
„Fallen dir auch die Grundkenntnisse zu Zauberern ein?“
Ich grinste ironisch. „Da gibt es doch keine.“
Er atmete tief ein und wieder aus. „Wenn du mich loswerden willst, solltest du diesen Satz in ein paar Wochen noch mal wiederholen. Dann weiß ich nämlich“, sein Zeigefinger erhob sich und fokussierte meine Nase, „dass dir nicht mehr zu helfen ist.“
„Eben hieß es noch ich bin klug“, erinnerte ich ihn.
„Und eine der klügsten Entscheidungen in deinem Leben triffst du, indem du mir vertraust.“
Er sagte diesen Satz mit einer vollen Leichtigkeit. Aber es konnte auf alles deuten. Ich wusste nicht, ob er es mit Leichtigkeit ausdrückte, weil er wusste, dass ich ihm bei diesem Versprechen hundertprozentig vertrauen konnte, oder um sein schlechtes Gewissen, geleitet von einer Lüge, zu beruhigen. Aber nach alledem, was mir Victoria über die Jahre für Details verschwiegen hatte und jetzt, vermutlich auch aus einem schlechten Gewissen, mit allem, wenn auch auf indirekte Art, auspackte, war ich eigentlich guter Dinge, ihm zu vertrauen. Immerhin … wenn Victoria es tat. Sie ist schließlich meine Mutter.
„Victoria ist alt genug um zu wissen, wem sie vertraut und wenn sie dir vertraut, spricht für mich nichts dagegen.“
Er verdunkelte seine Augen. „Man muss nicht alle Tage sein Leben einem fremden Menschen anvertrauen dessen Wurzeln, noch dazu von Vampiren stammen“, sagte er leise, und ruhig.
„Versuchst du mich gerade zu überreden, dir nicht zu vertrauen?“, fragte ich perplex.
„Ich mache es wie ein Arzt. Du musst die Medizin einnehmen, sonst wirst du nicht gesund aber ich weise dich auf mögliche Risiken hin.“ Mögliche Risiken? Zuerst tat er alles nur um die Möglichkeit zu haben, dass ich ihm eventuell vertraute, und jetzt? Jetzt hatte er was er wollte und machte einen Rückzieher, wegen möglichen Risiken? Die hätte er auch am Anfang schon erwähnen können. Er sollte sich mal entscheiden.
„Sind die Risiken in dem Fall schlimmer als die Medizin ganz wegzulassen?“
„In dem Fall geht es um dein Leben und ohne Medizin kann ich dir garantieren, dass du früh sterben wirst.“
Mir stockte der Atem. Alles, was vor ohne Medizin kam, bekam ich gar nicht mit und es interessierte mich auch nicht. Was mich schockierte war, dass er mir einfach so garantieren konnte, dass ich so früh sterben würde. Er zuckte bei dem Wort noch nicht einmal zusammen, weder sein Körper, noch seine Lippen. Wenn es wenigstens ein kleiner Muskel gewesen wäre, aber nein. Wäre es ihm so egal, wenn ich sterben würde, wie er es aussprach? Ok. Wir waren uns heute in der Schule beiläufig das erste Mal begegnet, aber wenn er doch so einen langen und engen familiären Kontakt zu Victoria hatte, konnte es ihn doch nicht einfach so kalt lassen! Oder? Schließlich war ich ihre einzige Tochter, ihr einziges Kind und nebenbei bemerkt, auch noch erst fünfzehn. War das etwa ein angemessenes Verhalten gegenüber einer Fünfzehnjährigen? Sicher nicht.
„Besser erlöst zu sein als sich vor seinem Tod noch lange quälen zu lassen.“
Ich musste mächtig schlucken. Dieser Satz stammte nicht von mir selbst. Vielleicht war es ein Reflex meines Körpers, meiner Emotionen, mich zu verteidigen gegen das, was er mit größter Leichtigkeit von sich gab. Aber meine Worte zeigten Wirkung. Schockiert sah er mich an und zog seine Augen so zusammen, dass er mich fasst anblinzelte.
„Glaubst du, ich würde dich quälen, geschweige denn meine Familie? Und glaubst du, dass mein Onkel dir ein Messer ins Herz rammt und das war es schon? Nein. Er hätte zu viel Spaß dabei, dir zuzusehen, wie du leidest.“
„Ich vertraue dir“, setzte ich nochmals an. „Trotz furchterregender Verwandtschaft.“
„Ist das dein Ernst?“
„Nach deiner kurzen Zusammenfassung über dein Leben, kommst du mir unnatürlich nett vor, und bis jetzt hast du mir keinen Grund gegeben, dir nicht zu vertrauen. Also warum nicht?“
Er schüttelte voller Verwunderung den Kopf. „Entweder du kannst gut schauspielern oder du hast wirklich eine positive Einstellung. Du bist also dabei?“
Ich krümmte mich leicht. Ob ich dabei war … Eigentlich wäre nichts dagegen einzuwenden, würde ich ihn schon länger kennen. Solche Entscheidungen konnte man nicht einfach so innerhalb von einer halben Stunde treffen. So etwas brauchte Zeit. Und wenn ich es mir nochmal recht überlegte, stand mir diese ja auch zu.
„Du hast gesagt, ich kann bis morgen warten.“
„Aber eben klang deine Entscheidung so eindeutig.“
Als müsste er kurz vor dem Ziel nochmal von vorne anfangen, sah er mich an. Dieser Rückschlag war für ihn sicher nicht leicht und auch kaum vorstellbar nach den Hoffnungen, die ich ihm gemacht hatte. Aber er musste sich keine Sorgen machen. Ich würde ja eh einwilligen.
„Ist sie ja auch aber ich muss, was du mir heute gesagt hast, erst mal in der Nacht verarbeiten und dann sage ich dir Morgen Bescheid.“
„Das heißt, du weißt schon, dass du mitmachen wirst aber wartest damit noch so lange, bis du mir deine Entscheidung sowieso mitteilen musst?“
Ich musste lachen. So wie er es rüberbrachte, klang es komisch. Sehr komisch. Ich hielt meine Hand vor den Mund um das Lachen etwas zu dämpfen.
„Ja“, brachte ich schnell hervor.
Ich hielt die Luft an um mich wieder einzufinden. Ich atmete tief aus. Meine Augen waren etwas feucht. Ich war positiv von Matt überrascht und konnte es selbst kaum glauben. Sam, Chris, Simon und meine anderen männlichen Mitschüler brachten mich normalerweise bei jedem zweiten Satz zum Lachen. Eine der Sachen, die ich an der Schule so liebte. Aber außer ihnen, brachte mich keine einzige andere männliche Person auf Anhieb zum Lachen. Wenn Matt es schaffte, war das für meinen späteren Umgang mit ihm schon die halbe Miete. Ehe ich verstummte und er merkte, wie schwer es mir fiel, mein Lachen zu unterdrücken, zogen sich seine Mundwinkel selbst zu einem Lächeln.
„Wieso müsst ihr es immer so kompliziert machen! Zum Glück haben es sich meine Schwestern über die Jahrzehnte abgewöhnt.“
Er hatte Geschwister? Also war es eine Großfamilie. Mehr Mitglieder hießen mehr Schutz. Aber wenn ich es mir recht überlegte, eine Familie mit mindestens fünf Personen, dessen Kinder vielleicht sogar allesamt älter waren als ich und wenn man bedachte, dass in Großfamilien bekanntlich jeder unterschiedlich war, ließ mich das gefühlsmäßig enorm schrumpfen.
„Ich sagte dir, ich muss darüber schlafen. Mit so viel Neuem auf einmal wurde ich noch nie konfrontiert“, erklärte ich ihm.
Er willigte mit einem knappen Nicken ein. „Dann wird´s Zeit dazu. Gibt es sonst noch etwas, dass ich über dich wissen sollte, oder dass du mir erzählen möchtest?“
Ich zögerte und dachte an Emmas Worte. Sollte ich ihn wirklich einweihen in das, was sie von ihm dachte? Einerseits könnte man das als Freundschaftverrat ansehen. Andererseits würde ich, sowie es aussah, in der Zukunft noch viel Zeit mit ihm verbringen und wenn ich ihm vertrauen musste, musste er mir sicherlich auch vertrauen. Und obwohl ich nicht der Typ Mensch war, der alles sofort weitererzählte, würde es mich auf Dauer schon eine Menge an Energie kosten, es ihm zu verschweigen. Und da er bestimmt schon genügend Erfahrung mit Mädchen oder Frauen hatte, würde dies kein Neuland für ihn sein. Ich erwartete von ihm zumindest, dass er damit für sein Alter professionell umging und sich nicht über sie lustig machte. Obwohl ich ihm das auf den ersten Eindruck ganz und gar nicht zutraute.
„Falls es dich glücklich macht, obwohl, wie du sagtest, du schon an so etwas gewöhnt bist, du hast recht.“
„Womit?“
„Meine Freundin. Sie findet dich sehr gutaussehend und denkt, ich würde es ihr gleichtun.“ Er hob die Brauen. „Tust du nicht?“
Ich schüttelte sofort den Kopf.
„Wirklich nicht?“
Mein Kopf schwang von links nach rechts.
„Träum weiter Vampir“, bemerkte ich mit einem Grinsen auf den Lippen, welches mir schnell wieder verging, als ich sein ernstes Gesicht sah.
„Würdest du bitte aufhören, mich Vampir zu nennen!“
Über seinen plötzlichen Stimmungswechsel war ich so sehr überrascht und schockiert, dass ich gar nicht wahrnahm, ob er seine Worte flüsterte oder schrie.
„Du bist doch einer“, rechtfertigte ich meine Aussage. Nicht, dass ich den Ausdruck Vampir absichtlich gesagt hätte, nur um ihn zu kränken.
„Du bist auch eine Zauberin. Verstehst du was ich meine?“
„Du hast aber gerade gesagt, dass du mit deinem Leben glücklich bist.“
„Das bin ich auch, aber in tausenden Jahren wurden die Merkmale, die einen typischen alten Vampir ausmachen, nicht weitervererbt oder nur teilweise. Ich bin so einer nicht! Als Vampir bezeichnet man die Gesichter des Todes und die Schattenseiten der Fantasie. Sehe ich etwa so aus?“
Ich starrte ihn baff an. Natürlich nicht! Hätte ich gewusst, dass er es mehr als Beleidigung, denn als Tatsache annahm, hätte ich ihn nie so damit konfrontiert.
„Es tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass du den Begriff Vampir als Beleidigung siehst.“ „Ich sehe es doch nicht als Beleidigung. Ich bin eben nichts von dem, was man sich unter einem Vampir vorstellt.“
Sicher nicht. Es war beruhigend zu sehen, wie sich Gestalten mit der Zeit doch veränderten, vor allem, wenn sie damals als furchteinflößend galten.
„Ich weiß. Wäre ein alter Mann mit Krückstock hereingekommen und hätte gesagt, er sei ein Vampir, hätte ich sicher anders reagiert.“
„Hauptsache Frischfleisch, stimmt´s? Aber gut zu wissen, dass du glaubst, auch ohne mich den Feind zu erkennen, aber nein. Ich will nur nicht nach etwas genannt werden oder für etwas gehalten werden, dass ich nicht bin.“
In diesem Punkt fand ich für ihn vollstes Verständnis. Es fühlte sich so an, wie ich. Meine Wurzeln waren zwar keine üblichen, aber ich fühlte mich trotzdem als normaler Mensch. Da konnte ich ihm keine Vorwürfe machen, wenn er nicht als das bezeichnet werden wollte, was er, oder seine Vorfahren, waren.
„Ok, Mensch.“
„Ich bin auch kein richtiger Mensch.“
Das war mir klar aber wie sollte ich ihn dann nennen?
„Wie darf ich das verstehen?“
„Es ist wie eine andere Sprache. Stell dir vor, du sprichst nach wie vor deine Muttersprache und hast zusätzlich eine Fremdsprache gelernt. Du kannst dich mit der Person, die die Fremdsprache spricht unterhalten aber verstehst nicht jedes Wort hundertprozentig, weil du nicht jedes Wort auswendig kannst. Trotzdem reichen deine Kenntnisse aus, um mit ihm ein vernünftiges Gespräch zu führen.“
 Ich grinste, während ich über seine Worte nachdachte. Trotz, dass er um etwas zu erklären, immer extravagante Beispiele brauchte, verstand man seine Mitteilung.
„Mit anderen Worten, du bist ein Halbvampir.“
„Nein. Ich bin beides.“
„Und von welchem Teil besitzt du am meisten?“
Er zuckte mit den Schultern aber dachte dabei sehr scharf nach. Wohlmöglich war er sich darüber selbst noch nicht ganz im Klaren. Auch hier hatte er mein vollstes Verständnis. Obwohl ich, weil ich seine Familie ja noch nicht kannte, nicht wusste, ob ihm seine Mutter auch ständig einreden würde, es sei nichts Schlimmes. Wobei seine und meine Situation zwei Paar Schuhe waren.
„Das weiß ich selbst nicht aber ich würde den Menschen nehmen. Menschen haben so gesehen, mehr vom Leben als Vampire. Klar leben Vampire, wenn sie aufpassen, ewig, aber die ganze Zeit in einer Gruft oder gar im Sarg zu liegen, ist vielmehr eine Qual. Menschen haben dafür viel mehr Möglichkeiten.“
Ich musste zugeben, dass ich von ihm ziemlich beeindruckt war. Beziehungsweise von dem, was er sagte. Gerade, dass er es nicht provisorisch oder altmodisch erklärte, sondern normal. Wie er seine Sicht der Dinge schilderte und als Vampir, der legendär ein endlos langes Leben hatte, hätte man eigentlich etwas anderes erwartet. Freude darüber, was man alles machen konnte, denn der größte Feind konnte alles sein aber nicht mehr die Zeit. Stattdessen meinte er, dass die Menschen viel mehr Möglichkeiten hätten, wenn man von uralten Vampiren ausging. Aber, wie es sich scheinbar herausstellte, hatte sich die Spezies der Vampire bis heute weiterentwickelt. Und ich saß vor einem.
„Und du hast beides!“, stellte ich freudig fest.
„Ja, ich Glücklicher“, applaudierte er gespielt sich selber.
„Und … wie lange hast du vor noch zu bleiben?“
„Ich weiß nicht. So lange, wie du mich noch hierhaben möchtest.“
Ich wollte ihn schon noch gerne hierbehalten aber ich machte mir große Sorgen um mich selbst. Denn, nicht nur, dass ich die gewonnenen Informationen erst mal verarbeiten musste. Ich hatte auch noch Hausaufgaben zu erledigen und es war wirklich schwer, sich auf diese - ohne einen klaren Kopf - zu konzentrieren. „Ich muss noch Hausaufgaben machen.“
Sofort sprang er auf. „Warum hast du mir das nicht früher gesagt? Dann wäre ich schon eher gegangen.“
Ich zuckte hilflos die Achseln. „Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich das durch unser Gespräch vergessen.“
„Na dann … lasse ich dich mal alleine. Es sei denn, ich soll dir helfen.“
Ich stand auf und schüttelte grinsend den Kopf. „Ne ne, lass mal. Ich kriege das schon alleine hin.“
„Natürlich tust du das“, bestätigte er mich. „Du bist ja schon ein großes Mädchen.“
„Und nebenbei bemerkt, bist du mir heute fast rund um die Uhr gefolgt. Da freue ich mich auch mal, wenn ich mal Ruhe vor dir habe.“ Schockiert sah er mich an. Dann aber breitete sich wieder ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. Er nahm seine dunkle Jacke von der Garderobe und zog sie sich schnell über, bevor er mir zum Abschied noch einmal die Hand drückte. Ich wartete nicht, bis sein Auto verschwunden war, sondern lief sofort in mein Zimmer und versuchte mir meine Verzweiflung über unser Gespräch noch nicht mal von mir selbst anmerken zu lassen. Aber auch, wenn ich mich anfänglich sehr darauf konzentrieren musste, nicht von Biologie abzuweichen, hängte ich mich so in meine Aufgaben rein, dass es mir eine gute halbe Stunde später, als ich endlich fertig war, wieder etwas besser ging. Ich ließ meine Schulsachen so liegen und ging wieder runter, wo ich es mir auf der Couch versuchte, gemütlich zu machen. Ich schlüpfte unter eine Wolldecke und versuchte mich etwas abzulenken, auszublenden, was hier vor etwa einer Stunde noch der Schauplatz eines Gesprächs war, das alles veränderte. Aber ich konnte es nicht. Ungeduldig wippte ich hin und her um mich auf andere Gedanken zu bringen, während ich auf Victoria wartete. Jetzt wusste ich auch, was man unter dem Fluch, warten und nichts tun, verstand. Als ich inzwischen so nervös geworden war, dass ich nicht mehr still sitzen konnte, wenn nicht bald Ablenkung nahte, wanderte mein Blick schnell durch das ganze Haus und landete direkt vor mir auf dem Tisch. Es war ein Magazin für Frauen. Victoria las es immer. Womens life. Ich war mir nicht sonderlich sicher, ob mich der Inhalt wirklich interessierte aber besser war es als nichts. Ich blätterte, blätterte und blätterte. Seite für Seite las ich mir durch, sah mir die Bilder an. Hoffte, dass ich nichts davon behalten würde. Ich las und las immer weiter, bis ich endlich das Brummen des Automotors vor der Tür hörte und tief ein und aus atmete. Was sich Victoria wohl vom Gespräch erhofft hatte? Schritte kamen die Auffahrt hoch. Ich entschied mich noch zwei kurze Sätze zu lesen, damit ich wenigstens wusste, was ich tun würde, wenn ich nicht mehr weiter wüsste. Victoria trat ihre Schuhe auf der Fußmatte vor der Tür ab und der Schlüssel drehte sich im Türschloss. Der erste Satz war fertig. Die Tür öffnete und schloss sich. Victoria stellte ihre Tasche an der Wand ab, schaute mich an und kam langsam auf mich zu. In der Befürchtung, jeder nächste Schritt könnte falsch sein. Der zweite Satz war fertig. Ich schloss das Magazin und sah sie lächelnd an.
„Und wie war der Einkauf?“
Sie zog ihre Jacke aus und legte diese fein säuberlich über die Couch. Dann nahm sie quer gegenüber von mir Platz. „Sehr gut. Kann mich nicht beklagen.“
„Freut mich.“
„Wie war es mit Matt?“, fragte sie zögernd und faltete die Hände zusammen.
„Sehr gut. Er ist sehr nett und hat mir alles bestmöglich erklärt. Ich weiß jetzt, dass er ein Vampir ist aber kein richtiger. Ich habe den ersten Hinweis auf meinen Dad erfahren, dass er auch ein Vampir ist und zu guter Letzt, dass mich Matts Onkel umbringen will, weil ihr beide gegen so ein Gesetz von den Vorfahren von Matts Onkel verstoßen habt, indem ihr mich gezeugt habt. Das ist schon mal sehr viel Info auf einmal aber nichts desto trotz: Gibt es noch irgendetwas, das ich wissen sollte?“, wollte ich sarkastisch wissen.
Victoria schaute betrübt drein. Sie schämte sich dafür, dass sie nicht den Mumm hatte, mir diese Nachricht zu vermitteln. Mittlerweile glaubte ich Matt auch alles, was er gesagt hatte. Spätestens an Victorias Stimmung, merkte man, dass es auch sie selbst betraf. Eine Erkenntnis, die mich innerlich zusammenziehen ließ, denn wann bekam man schon so eine Geschichte zu hören. Eine wahre Geschichte.
„Nein. Das wäre alles, was du wissen solltest“, brachte sie knapp hervor.
„Gut zu wissen.“
Ich hatte keine Lust auf das ewige Schweigen, es würde sowieso nichts nützen. Also stand ich auf und ging in Richtung Treppe. Als ich die erste Stufe und das Geländer berührte, kam sie doch nochmal zu Wort. „Willst du es vielleicht mit mir besprechen oder hast du zu dem Thema noch irgendwelche Fragen an mich? Ich beantworte dir alle!“
Dafür war es jetzt definitiv zu spät. Und das wichtigste, wusste ich ja schon von Matt, jemandem, dem ich heute in der Schule zum ersten Mal begegnet war, und der mit seinem Besuch mein ganzes Leben auf den Kopf stellte. Und von mir Sachen verlangte, die für andere unmöglich waren. Ob das auch für mich galt, wusste ich noch nicht. Ich musste es in unvorstellbar kurzer Zeit entscheiden. Ich winkte ihr ab. „Lass gut sein. Zu einem Thema hätte ich tausend Fragen aber, wenn du mir bis jetzt noch nichts über meinen Dad gesagt hast, wird das schon seinen Grund haben. Was das restliche angeht. Sei mir bitte nicht böse, auch wenn ich Matt erst heute kennengelernt habe, aber ich fühle mich jetzt wohler, wenn ich mit ihm über alles spreche als mit dir.“
Sie nickte verständnisvoll. „Das kann ich verstehen. Hauptsache du nimmst zu ihm eine Bindung auf und kannst ihn zumindest für einen längeren Zeitraum in dein Leben lassen.“ So oder so befand er sich ja schon in meinem Leben. Dieses Gespräch würde ich nie vergessen. Auch wenn ich ihn nie mehr wiedersehen würde. So einen Moment vergaß man nicht, solche Verlassenheit, Übelkeit, Freude und Entsetzten zugleich vergaß man nicht. Aber man würde es sich wünschen.
„Das ist das geringste Problem“, log ich, „Ich würde jetzt aber gerne alleine sein.“
„Ich halte dich davon nicht ab. Soll ich dir dann das Abendessen hochbringen?“
Ich fasste mir an den Bauch. Erst jetzt bemerkte ich, dass er knurrte. Sogar schon den ganzen Tag über. Schließlich hatte ich in der Schule nur Nerven für einen kleinen Obstsalat gehabt, wobei ich schon am Vorabend nichts gegessen hatte, und heute beim Mittagessen war es auch nicht viel mehr. Mein Magen brauchte nach einem Tag fasten wieder Ballaststoffe.
„Gute Idee. Ich glaube, nachher krieg ich sowieso mehr runter als jetzt. Er kommt morgen übrigens nach der Schule zu mir.“
Victoria sah betrübt in meine Richtung. „Gut zu wissen.“
Es fiel mir nicht leicht, aber so konnte es nicht weitergehen. Irgendjemand von uns beiden musste letztendlich nachgeben. Da Victoria sichtlich erstarrt schien, was eigentlich bei mir der Fall hätte sein sollen, blieb mir nichts anderes übrig, als es selbst zu übernehmen.
„Victoria, es ist alles ok. Du musst dir keine Vorwürfe deswegen machen. Matt hat mir, wie gesagt, schon alles erzählt und wenn er es erzählt, hat man für jede Person, egal welche Rolle sie spielt, automatisch Verständnis.“
Mehr als ein Nicken brachte sie nicht mehr zustande. Sie nahm die Einkaufstasche und machte sich auf den Weg in die Küche.
Als ich zu meinem Zimmer kam, hörte ich noch kurz das Knistern der Tüten. Dann fiel die Tür hinter mir zu und ich war heute das zweite Mal so richtig allein in einem Zimmer. Diesen Moment nutzte ich aus und fiel auf die Knie, das Gesicht vergraben in den Händen. Die kurze Zeit der Dunkelheit vor meinen Augen war nicht dunkel. Bilder der Ereignisse von heute tauchten auf. Immer einzeln und immer im Wechsel. So viele Bilder in einer so kurzen Zeit. Das ließ mich verzweifeln und trieb mich in den Wahnsinn. Ich kam mir vor, wie im falschen Film und wollte versuchen zu entfliehen aber das konnte ich nicht. Und anscheinend konnte ich das schon seit fünfzehn Jahren nicht. Ich fühlte mich beengt, wie in einem Gefängnis. Als wäre ich so verwundbar, dass man mich jeden Moment in tausend Stücke reißen konnte. Ich wollte nichts mehr tun. Nichts essen, nichts trinken, nicht weinen, nicht lachen, nicht schlafen und mit niemandem reden, insbesondere nicht mit Victoria. Jetzt fand ich es doch gut, dass mein Magen knurrte und dass ich nicht mehr als einen Obstsalat gegessen hatte. Ich ließ ihn gerne knurren, denn das zeigte mir, dass eher etwas hinein musste, als heraus.
Langsam kam ich wieder auf die Beine und zog die Tür mit aller Kraft auf. Ich bewegte meine Füße keinen Zentimeter weiter und streckte nur meinen Kopf aus der Tür. So munter ich es heute noch schaffte zu klingen, rief ich schnell runter: „Victoria, ich habe es mir anders überlegt. Ich glaube, ich habe für heute schon genug gegessen.“
Ich wartete gar nicht erst bis sie antwortete, sondern ging sofort ins Bad, machte mich fertig und zog mir einigermaßen bequeme Sachen an, bevor ich das Licht ausmachte und stumm ins Bett fiel. Kurz bevor ich einschlief, wurde mir erst richtig klar, wieso in mir so ein Tumult herrschte, obwohl ich in Matts Nähe sogar etwas Verständnis für Tyrece, als Sorge um mich, aufgebracht hatte. Es lag nicht an der Angst vor ihm, es lag an der Angst vor mir selbst. Jeder normale Mensch hätte sicher einen kompletten Nervenzusammenbruch bekommen, Herzrasen oder gleich Selbstmord begangen, um nicht auf einen buchstäblichen Mörder zu warten. Ich dagegen, empfand das komplette Gegenteil. Natürlich machte ich mir Sorgen um mich und über das, was er mir erzählt hatte. Aber andererseits fühlte ich mich zu seinen Geschichten auch hingezogen. Alle die Sachen, die er mir über meinen Dad erzählte, über Vampire, darüber, wie sie Kontakt gehalten haben. Und deshalb vertraute ich ihm auch. Es ergab alles irgendwie einen Sinn und war keine einfache Ausrede.
Trotzdem schlief ich diese Nacht nicht gut. Ich erwachte unendliche Male aus dem Schlaf, zwar nicht schweißgebadet aber mit einem mulmigen Gefühl und konnte erst wieder einschlafen, wenn es verschwand. Ich fragte mich, ob Victoria dasselbe Problem hatte.
Wenn ich je herausfinde, dass nicht, springe ich dir an die Gurgel!, dachte ich schadenfroh.
Nach vielen Unterbrechungen schaffte ich es dann aber doch noch, etwas länger zu schlafen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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