Udo Barsuhn

Gestrandet

 
Die Nacht war tiefschwarz und auch der Mond versteckte sich hinter einer dichten Decke aus Wolken. Nur der flackernde Schein des Lagerfeuers erhellte die Umgebung und zauberte bizarre Schatten auf den sandigen Boden.
Vince war sich nicht sicher, ob die Gänsehaut auf seinen Armen von der Kälte oder der unheimlichen Dunkelheit rührte. Er entschied sich für den ersten Gedanken und verdrängte die in ihm aufkommende Angst.
Fünf Tage! Ich bin bereits fünf Tage auf dieser gottverlassenen Insel, schoß es ihm durch den Kopf. Ein aufkommender Sturm hatte seine Jacht vor fünf Nächten zum Kentern gebracht und ihn an den Strand dieser Pazifikinsel gespült. Er hatte nichts von der Existenz dieses kleinen Eilands auch nur geahnt. Vermutlich ist sie nicht einmal auf irgendeiner Karte eingezeichnet, sinnierte er. Ein Gedanke, der Panik in ihn auslöste.
Irgendwie schaffte es Vince doch noch seine negativen Gedanken zu vertreiben und legte sich auf sein provisorisch mit Blättern ausgelegtes Bettlager. Wenige Minuten später schlief er ein.
 
                                                                                              *
 
Die Gespenster der Nacht waren verflogen und die Sonne schickte ihre ersten Strahlen zur Begrüßung des neuen Tages. Nur wenige Wolken zogen am Himmel vorbei und versprachen einen klaren, regenfreien Tag.
Vince schreckte unsanft auf als ein kleiner, vorlauter Affe sich seinem Bettlager näherte und ihm eine seiner Kokosnüsse stahl, die er erst gestern unter Mühen geerntet hatte. "Wünsche einen gesegneten Apetitt!", rief er den kleinen Dieb noch hinterher und musste lachen. Die trüben Gedanken der vergangenen Nacht waren erst einmal verschwunden.
Er richtete sich auf und überlegte kurz, was er zum Frühstück essen könnte. Mal sehen! Wir haben Kokosnüsse und etwas Trinkwasser. Schätze, Rührei mit Schinken wird es heute nicht geben. Mit einen scharfkantigen Stein öffnete er geschickt eine der Kokosnüsse und trank erst einmal die wässrige Milch, bevor er sich an den Rest zu schaffen machte.
So gestärkt sah er gleich ein wenig zuversichtlicher in die Zukunft. Ich sitze erst sechs Tage auf dieser Insel fest. Kein Grund sich jetzt schon aufzugeben.
Es war jetzt an der Zeit die Insel weiter zu erforschen. Heute würde er sich den südlichen Teil vornehmen und nach alles Ausschau halten, was er noch verwenden konnte. Ein Kamm wäre nicht verkehrt. Falls ich Damenbesuch bekomme. Er lachte. Für seinen Geschmack etwas zu schrill. Reiß dich zusammen, Vince!, ermahnte er sich.
 
Er ging immer nur den Strand entlang. Die Inselmitte war zu dicht bewachsen. Der reinste Dschungel, wie er fand. Und er hatte nicht einmal eine Machete oder ähnliches, um sich einen Pfad durch das Dickicht zu schlagen. Außerdem hatte er eine seltsame Angst vor das, was da drinnen auf ihn lauern könnte. Nicht nur einmal, seit er hier gestrandet ist, hörte er aus der Ferne merkwürdige Geräusche. Sie schienen direkt aus dem Herzen der Insel zu kommen. Diese Insel lebt und ich höre ihren Herzschlag. Bei diesem Gedanken bekam er wieder eine Gänsehaut und diesmal konnte er sich nichts vormachen. Angst überkam ihn.
 
                                                                                              *
 
Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihn, daß er bereits zwei Stunden unterwegs war. Diese Insel ist größer als ich angenommen habe. Vince erinnerte sich an die Erkundungstouren der vergangenen Tage. Er hatte sie immer kurz gehalten, weil das Sammeln von Feuerholz und das Anschaffen eines Ess- und Trinkwasservorrats für ihn zunächst oberste Priorität besaß. Erst die Grundlagen zum Überleben schaffen und sich erst dann mit seiner Situation auseinandersetzen. Vince glaubte sich zu erinnern, dies in einem Buch gelesen zu haben. Nur fiel ihn der Titel nicht mehr ein. Es war bestimmt in Robinson Crusoe. Nein, das ist Blödsinn. ICH bin doch Robinson. Und wieder hörte er sein merkwürdiges Lachen, daß ihn von Mal zu Mal immer mehr beunruhigte.
 
Fast wäre Vince über etwas gestolpert, das direkt vor seinen Füßen halb im Sand vergraben lag. Es schien von der Sonne schon ziemlich ausgebleicht und hatte eine leicht kugelige Form. Er kniete sich hin und fing an das seltsame Objekt mit seinen bloßen Händen freizuschaufeln.
Vince erschrak, als er erkannte was er da ausgegraben hatte. Ein menschlicher Totenschädel starrte ihn aus leeren Augenhöhlen an.
Unzählige Gedanken kreisten plötzlich in seinen Kopf: Wer war er? Wie lange liegt er hier schon? Wie ist er gestorben? Bin ich vielleicht doch nicht allein? Und bin ich in Gefahr?
Schwindelgefühle überkamen ihn und er wußte nicht so recht, was er nun machen sollte. Einfach weitergehen und die Suche nach nützlichen Dingen fortsetzen oder doch lieber ins Lager zurückkehren. Vince entschied sich für die Rückkehr. Erst einmal die neue Lage genau analysieren und dann überlegen, was zu tun ist. Er war vielleicht auch nur ein Gestrandeter, der eines natürlichen Todes starb. Dieser Gedanke betrübte ihn, weil es seine eigene Situation plötzlich weniger hoffnungsvoll erschienen ließ. Aber sein Bauchgefühl sagte ihm, daß dieser Mensch keines natürlichen Todes gestorben war. Er war auf dieser Insel nicht mehr länger sicher. Aber war er es denn überhaupt einmal?
 
                                                                                              *
 
Vince lief über ein Meer aus Knochen. Menschlichen Knochen, wie er entsetzt feststellen mußte. Einige knackten und brachen unter seinem Gewicht und scharfkantige Splitter schnitten in seine Sohlen. Aber er spürte keine Schmerzen. Wie in Trance folgte er einem Geräusch, das aus der Mitte der Insel zu entspringen schien. Ein rhythmisches Geräusch. Wie das Pochen eines gigantischen Herzens.
Es ruft mich. Ich kehre bald heim. Vince empfand keine Angst. Nur Freude.
Er durchschritt mühelos das Dickicht, das ihn sonst immer undurchdringlich schien. So als wäre er körperlos. Kein Ast zerbrach. Kein Strauch wurde zur Seite gedrückt. Schon bald hatte er den Dschungel hinter sich gelassen und erblickte IHN nun endlich. Den Herrscher der Insel.
 
Der Inselherrscher baumelte an einem Strang, der an ein hölzernes Gerüst befestigt war. Einen Galgen. Seine Haut war merkwürdig bleich, als ob sie mit Kreidestaub bedeckt wäre. Aus einem der Mundwinkel lief ein feiner Blutstrom. Aber das Furchtbarste war die Tatsache, daß sein Brustkorb geöffnet war und so sein Herz offen legte. Es schlug tatsächlich noch. Mit kräftigen Schlägen und ein Pochen, das sich über der gesamten Insel ausbreitete.
„Ich habe dich erwartet, mein Freund. Nur in Träumen kannst du mich erreichen.“, begann der Gehängte zu erzählen. Ich träume dies alles also nur, erkannte Vince.
„Einst war ich ein Mensch wie du, aber meine Grausamkeit verfolgt mich über meinen Tod hinaus. Man hängte mich auf und legte mein Herz frei, damit es von den Tieren gefressen würde. Doch kein Tier näherte sich mir. Selbst nach meinen Tod schienen sie meine dunkle, böse Aura zu spüren. Ich bin allein. Vergessen und verlassen von allen Menschen und Tieren. Aber nun bist du hier. Genauso allein. Verschmelze dich mit dieser Insel und du wirst niemals mehr allein sein. Geh` hinaus in den Ozean und laß´ dich von seinen Wassern verschlingen. Dann bist du frei.“. Der Inselherrscher hatte keine weiteren Worte mehr zu sagen und verstummte. Vince bemerkte Tränen in seinen Augen. Nicht mehr allein! Ich bin nicht mehr allein.
 
                                                                                              *
 
Vince erwachte in mondheller Nacht. Der Traum hatte ihm den Weg gezeigt und nun brauchte er ihn nur noch zu gehen.
Während er langsam zum Strand hinunterging, entledigte er sich all seiner Kleider. Für einen kurzen Moment noch hielt er am Ufer inne. Es ist soweit! Ich kehre heim. Dann ging er ins Wasser. Immer weiter rein, bis ihn das Meer schließlich vollkommen verschluckte. Er spürte noch, wie das salzige Wasser seine Lungen füllte. Ein brennender Schmerz, dann nur noch Frieden. Er war nach Hause zurückgekehrt.
 
Zur gleichen Zeit kämpften Ärzte in einem Krankenhaus vergeblich um das Leben eines bekannten Gangsters der New Yorker Unterwelt.
Man hatte ihn erst vor zwei Wochen ein neues Herz transplantiert. Sein Körper aber weigerte sich das neue Organ zu akzeptieren. Auch die Medikamente, die eine Abstoßung verhindern sollten, halfen nicht. Vor einer Woche fiel er dann ins Koma aus dem er nicht mehr erwachen sollte.
Die Ärzte entfernten alle Injektionsnadeln und schalteten die Monitore aus. Der berüchtigte Unterweltboss, Vince Montero, war tot.
 
                                                                                              ENDE

(c) Udo Barsuhn, 2015

 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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