Meike Schäfer

Alvarez-Der Schwur-6.Kapitel-Allerlei Ereignisse-Seite121-142

Als ich die Stufen zum Eingang hinaufging, war ihr Blick nicht mehr auf den Schulhof oder die Autos, die dort standen, gerichtet. Stattdessen klebte er in der Eingangshalle und folgte allen Schülern, die an ihr vorbeikamen. Wahrscheinlich hatte sie die Hoffnung schon aufgegeben, dass ich doch noch kommen würde.
„Morgen Emma“, piepste ich hinter ihr.
Unverzüglich drehte sich ihr Kopf zu mir, dann ihr ganzer Körper. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte mich verärgert an. Das Funkeln in den Augen von Egon hatte mir viel besser gefallen.
„Jetzt bin ich aber gespannt, was deine Ausrede ist. Der Bus hatte schon mal keine Verspätung, weil Todd Campbell hier vor knapp zehn Minuten rein gedüst ist.“
Hatte sie in den letzten Tagen auch nur eine Kleinigkeit mitbekommen? Anscheinend nicht, denn ich benutzte seitdem Matt bei uns war, den Bus nicht mehr. Worüber ich auch sehr froh war, denn stundenlang an einer Haltestelle in der Kälte zu stehen und sich dann nach einem noch freien Sitzplatz umzuschauen, machte einen auf die Dauer fertig. Ich wurde immer von Kyran oder Matt abgeholt und hingefahren. Manchmal sogar von Sam. Als eine Gruppe von Jungen aus den oberen Klassen mehrere Knallfrösche auf dem Schulhof platzen ließ, zuckte ich erschrocken zusammen und drehte mich zu ihnen um. Als einer der Jungen meinen Blick auffing riss ich meinen Kopf so schnell ich konnte wieder zu ihr und betrat rasch die Halle, um sicherzugehen, dass er mir nicht folgte. Emmas Tasche zog ich blitzartig mit, so dass sie auch mitgezogen wurde.
„Ich habe mich bloß mit ein paar Freunden von Chris unterhalten“, log ich und nahm die Jungen, die sicher immer noch draußen standen, als Inspiration.
„Suchst du jetzt schon wieder nach neuen Typen! Hat dir der Junge vor dem Matheraum nicht gereicht?“, fauchte sie mich an und riss mir ihre Tasche aus der Hand, die ich immer noch festhielt, während wir durch den großen Raum gingen.
Ich verdrehte die Augen. Nicht, dass ihr unter diesen Umständen noch die Erinnerung an Matt hochkam.
„Und du hast heute Morgen dein Frühstück vergessen“, stellte ich fest.
„Wie kommst du darauf und lenk nicht von Thema ab!“, fuhr sie mich an.
Eigentlich war es egal, was ich ihr jetzt sagte. Wenn sie einmal so richtig verärgert war, half gar nichts mehr. Es gab nur ein Rezept, was ihr half, nicht so hysterisch zu werden. Als sie vor etwa drei Jahren eine Woche in den Ferien bei mir übernachtet hatte. Und dieses Rezept, hatte sie, so wie es jetzt aussah, nicht genommen.
„Weil du morgens immer Proteine brauchst, sonst reagierst du leicht über und das ist dein persönlicher Hilferuf. Ich lenk nicht vom Thema ab.“
Emma wandte den Blick von mir ab. Innerlich musste ich stark grinsen, denn Emmas Natur ist es, sich nie geschlagen zu geben und wenn möglich, keine Misserfolge zu ernten. Sie hasste es, wenn sie falsch lag. Ich stellte mir diese kurze Phase bei ihr, wie ein kleiner Kampf vor. Sie kämpfte mit sich selbst, dass sie ja das Richtige antwortete.
„Vergiss es einfach. In deinem Leben passieren sowieso lauter seltsame Sachen, da ist der Grund, weshalb du dich verspätest, sicher noch normal.“
„Übernatürlich normal“, ergänzte ich sie.
Während wir durch die Halle liefen, fiel mir plötzlich auf, dass jemand fehlte und es wunderte mich, dass mir das nicht früher aufgefallen war.
„Hast du Sam gesehen?“
Erstaunt über meine Unwissenheit sah sie mich an. „Hat er dir nicht Bescheid gesagt?“ „Worüber?“
„Er meinte gestern noch, dass seine Mom Sushi zubereitet und auch wenn er es nicht zugeben will, denke ich, dass ihm das Sushi nicht so gut getan hat. Kurz gesagt, er liegt im Bett und muss sich alle zehn Minuten übergeben.“
„Lecker!“
„Du hast es wenigstens so erfahren! Als er es mir erzählt hat, habe ich gefrühstückt.“
„Sage ich doch, lecker.“
Ich fing an, mir diese Szene lebhaft vorzustellen. Und ich spielte mit dem Gedanken, dass Sam es vielleicht mit Absicht getan hatte. Gleichgültig ob er wirklich krank war oder nicht. Bei Emma konnte man es mit einem ersten Aprilscherz vergleichen.
„Kommst du nachher mit in die Stadt?“
„Ich muss noch einiges für die Schule lernen.“
„Das beantwortet nicht meine Frage“, stellte sie richtig fest.
Und das war auch meine Absicht gewesen.
„Schule ist jetzt wichtiger als …“, versuchte ich den Satz einzuleiten aber es war zu spät. Emmas enttäuschter Blick durchbohrte mich bis in mein tiefstes Unterbewusstsein. Egal was ich jetzt sagen würde, sie gewann am Schluss doch immer, also versuchte ich es gar nicht erst.
„Als was? Unsere Freundschaft? Wolltest du das sagen?“
„Nein. Ich habe momentan nur einige Probleme in Geschichte und Religion.“
Sie winkte schon früher ab als erwartet. „Du musst nicht die Schule für deine belegte Zeit verantwortlich machen. Du bist seit Tagen nicht da und hast keine Zeit, noch nicht einmal für Sam oder mich. Wenn es an der Zauberin in dir steckt, sag es doch einfach! Du kannst mir immer alles anvertrauen und habe ich dich je enttäuscht oder irgendwas weitergesagt, was ich nicht sollte?“
„Emma es liegt nicht an dir, Sam, der Schule oder was weiß ich nicht alles. Ja, es hat damit zu tun, dass ich eine Zauberin bin, aber zu meiner Verteidigung habe ich gelernt und akzeptiere was ich bin.“
Mit den letzten Worten erstarrte sie und blieb mit offenem Mund vor mir stehen. Freude und gleichzeitig auch Schock bedeckten ihr Gesicht.
„Willst du mich verarschen?“
„Nein, ich habe dir gesagt, dass mein Benehmen etwas mit der Zauberei zu tun hat.“
Da ich keine Lust auf derartige Diskussionen vor dem Unterricht hatte, legte ich wieder einen Schritt zu und ging den Flur weiter entlang, um unser Gespräch etwas zu verkürzen. Denn Gehen half in jedem Fall, wenn man mit ihr zu tun hatte. Ohne mich zurückzuziehen folgte sie mir. Die Augen auf mich anstatt auf den Korridor gerichtet.
„Aber verrate mir bitte, wie du es schaffen kannst, dich innerhalb von knapp einer Woche von etwas zu überzeugen, dass du aus Angst davor all die Jahre nicht wahrnehmen wolltest.“
Die Erklärung war eigentlich relativ einfach, aber alles in einem nicht für ihre Welt geschaffen. Es war besser, wenn sie von Matt und Kyrans Absichten nichts erfuhr.
„Ich habe einen guten Lehrer.“
Urplötzlich besserte sich ihre Laune. Ich wollte nicht wissen wieso.
„Könnte es nicht auch sein, dass dich dein Lehrer verzaubert und du deshalb glaubst, du nimmst Veränderungen in dir war?“
„Was meinst du damit?“, fragte ich zögernd, obwohl ich wusste, worauf sie hinauswollte. Sie schmunzelte. „Innerliche Veränderungen, wie das Gefühl verliebt zu sein, zum Beispiel.“
Bevor sich auch nur die Chance ergab, dass sie einen weiteren Ton hervorbrachte, stoppte ich sie, indem ich meine ausgestreckten Hände vor der Brust kreuzte.
„Nein, nein, nein. Emma du verwechselst da etwas.“
„Ach tue ich das“, sagte sie strahlend.
Wenn ich mich jetzt nicht gewaltig beherrschte, musste ich auch noch grinsen.
„Zauberei und das Gefühl der Veränderung, das sind zwei Welten.“
„Hat dir das auch dein Lehrer beigebracht?“
Ich schüttelte den Kopf und nutzte mein überfälliges Grinsen um meinen nächsten Satz mit Humor rüberzubringen.
„Nein, das ist von mir.“
Mit einem knappen Nicken verging das vorfreudige Strahlen auf ihrem Gesicht im Nuh. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Bis sie nach einer kurzen Pause mit neuer Energie weiterfuhr, dieses Mal aber etwas ruhiger.
„Wer ist denn dein Lehrer, kenne ich ihn?“
Ich nickte ehrlich. „Ja, du hast ihn schon mindestens einmal gesehen.“
Insgeheim betete ich, dass sie sich nicht mehr an Matt erinnern würde. Aber dass sie ihn schon damals, zehn Minuten später, in der Cafeteria nicht wiedererkannte, gab mir Hoffnung.
„Wer ist es?“, fragte sie halb ruhig, halb angespannt.
Ich genoss diesen Moment. Nicht, weil sie mich im Innern förmlich anflehte sie einzuweihen, genau wie es damals war, als ich ihr erzählte, dass ich offenbar eine Zauberin war. Sie war hundertmal liebenswerter und tausendmal leichter zu ertragen, wenn sie ruhig war und zuerst überlegte, bevor sie handelte. Was sie nur manchmal tat. Sie wollte es wohl wirklich wissen.
„Wenn ich dir das sage, gehe ich damit auch das Risiko ein, dass du so laut aufschreien wirst, dass sich jeder in diesem Gebäude, egal ob auf den Fluren oder in den Räumen mit geschlossenen Türen, von dir angesprochen fühlt.“
Sie biss sich auf die Unterlippe und schaute zum Boden.
„So schlimm wird es nicht kommen“, versicherte sie mir mit direktem Blickkontakt.
Unsicher sah ich sie an. „Würdest du dir mal dein Leben lang selbst zuhören …“
„Ich verspreche es dir, auf unsere Freundschaft.“
Jetzt war sie verzweifelt, und das war nicht gespielt.
„Aber bleib ruhig, egal was auch passiert.“
„Nun sag schon“, flehte sie mich förmlich an.
„Wir haben Mathe geschrieben und Mr. Bates hat dich zu sich gerufen.“
Sie dachte kurz nach, dann nickte sie. „Und weiter?“
„Als du rausgekommen bist, habe ich mich mit einem Jungen unterhalten. Mehr sage ich nicht.“
Sie hielt sich beide Hände vor den Mund um nicht sofort los zu quietschen. Als sie die Hände langsam wieder runternahm blieb ein angespanntes Grinsen zurück.
„Mehr brauchst du auch nicht sagen! Ich kann nicht glauben, dass die Regeln meiner Mom geholfen haben. Wie lange hat er gebraucht, um sich bei dir zu melden?“
Ich verdrehte die Augen und brachte dabei unbeabsichtigt ein kurzes Keuchen hervor. Das kam wohl von der Vorstellung, wie Matt bei unserem Gespräch bei mir zu Hause wohl darauf reagiert hätte. Aber so etwas wollte ich ihm nicht zumuten.
„Die Regeln deiner Mom wurden nicht angewandt.“
„Hätte mich auch gewundert wenn. Wodurch ist er dein Privatlehrer geworden? Moment mal. Wie kommt es, dass du einem Fremden deine tiefsten Geheimnisse anvertraust! Selbst ich musste dich Wochen darum betteln, bis du es mir gesagt hast.“
„Das mit ihm ist eine völlig andere Situation, und er ist noch nie fremd gewesen. Nicht für den restlichen Teil meiner Familie. Matt ist sehr nett und ein super Lehrer.“
Ich wollte ihr noch mehr von ihm erzählen aber mehr normales gab es nicht. Nichts, was sie nicht beunruhigen könnte. Und es war nicht meine Absicht, dass sie hier mitten im Schulgebäude einen Kollaps bekam.
„Matt heißt er also“, begann sie die gewonnenen Informationen zu verarbeiten.
Im Prinzip störte mich das wenig, nur die Art, wie sie es ausdrückte, gefiel mir nicht und ließ mich traurig davon ausgehen, dass die ruhige Emma bald wieder Geschichte sein würde. Jetzt hatte sie ja schließlich das, was sie wollte.
„Emma hör auf!“
„Was? Das war eine ganz normale Feststellung.“
„Sicher.“
„Wie hat er darauf reagiert, als du ihm gesagt hast, dass du eine Zauberin bist?“
Zu meiner Verblüffung, wurde sie von jetzt auf gleich wieder ruhiger.
„Ganz normal.“
„Normal! Kein normaler Mensch der Welt würde darauf ganz normal reagieren. Mag sein, dass man es cool findet aber doch nicht nur normal!“
„Habe ich gesagt, dass er ein normaler Mensch ist“, kam es wie aus mir herausgeschossen. Dieser eine Moment gehörte zu wenigen, die ich gedanklich verfluchte, sie wären nie geschehen gewesen. Das kam davon, wenn man ohne nachzudenken handelte. Zumindest bei mir. Mir war klar, dass ich Emma mit diesem Satz hunderte Türen öffnete und damit zugleich hunderte Fragen. Ich wollte nicht wissen, wie sie mich gerade wohl anstarrte. Das Amüsierte in ihrer Stimme war kaum zu überhören.
„Das wird ja immer schöner. Ist er auch ein Zauberer?“
Von nun an musste ich mir haargenau überlegen, was ich sagte. Ich durfte und wollte nicht noch mehr verraten.
„Er verbindet damit sehr viel aus seinem Leben aber ein Zauberer ist er nicht direkt.“
Sie brauchte nicht lange zum nachgrübeln.
„Dann ein verwunschener Ritter, nein, nein ein Zombie!“
Erleichtert über ihre unerwarteten Worte, musste ich lachen. Ich bemühte mich, es nicht zu laut zu tun. Ich wollte nicht den Effekt erreichen, dass ich sie gleich auslachen würde. „Lass deiner Fantasie ruhig freien Lauf Emma.“
Sie räusperte sich, als sie mich hörte. „Du hast recht. Für einen Zombie sieht er viel zu gut aus.“
„Er ist so wie jeder andere Junge auch“, sagte ich. Was eigentlich ja auch stimmte. „Nein!“, ermahnte sie mich, „Du hast gesagt er wäre kein normaler Mensch und dazu kommt noch nett, was ein weiteres Gegenargument für den Zombie ist aber manche Kreaturen, hab ich gelesen, haben auch ihre gute Seite.“
„Das ist dann wohl ein Argument für den Zombie.“
„Also weißt du, dass er ein Zombie ist“, stellte sie mich zur Rede.
„Ich weiß, dass du keine Ahnung von ihm hast und ich dir die Sachen, die ich weiß, nicht sagen werde. Zumindest noch nicht jetzt.“
Sie winkte mit gesenktem Kopf ab. Enttäuscht, aber verständnisvoll. „Kein Problem, ich habe Zeit.“
„Ja“, bestätigte ich sie mit einem Grinsen. „Fünf Stunden, wenn es hochkommt.“
Sie schnipste augenblicklich mit den Fingern. „Apropos hochkommen. Sam sollte mit mir in die Stadt fahren, weil er mit Autos schon seine Erfahrungen hat, aber da es ihm jetzt sehr oft hochkommt …“, brach Emma den Satz kurz ab um sich mir in den Weg zu stellen und mich dazu zu bringen, ihr zuzuhören. Bevor sie ihn mit einem letzten Atemzug vollendete. „Flehe ich dich an mitzukommen.“
„Was willst du überhaupt mit Autos?“
Sie strahlte. „In vier Monaten fange ich mit der Fahrschule an, und, damit ich danach nicht mit den alten Autos meiner Eltern fahren muss, soll ich heute zu einem Autohaus gehen und mir ein Fahrzeug aussuchen, welches ich dann hoffentlich als Belohnung für meinen Führerschein bekommen werde. Keine Angst, ich komme nicht mit einem Cabrio an. Mein Dad hat mir da ein Limit gesetzt.“
Wie sie vor mir stand und mit den Händen posierte … Wie eine Geschäftsführung die ihren Mitarbeitern einen genauen Vortrag über die Standpunkte des Betriebs präsentierte. Ich nickte verstehend.
„Das freut mich, aber ich kenne mich mit Autos selbst nicht aus.“
„Dafür stehst du in einem halben Jahr nicht ahnungslos wie ich da.“
Ahnungslos, sie sagte es. Ich sah ein, dass sie sich schon auf ein eigenes Auto freute und praktisch frei zu sein, aber es ging nicht. Es ging nicht, weil sie Emma war. Würde ich wissen, dass später einmal die ruhige Emma hinter dem Lenkrad sitzen würde, wäre es für mich überhaupt kein Problem gewesen. Aber es war klar, dass in diesem Fall die lebensfreudige, unberechenbare Emma am Steuer saß, und wenn ich dann auch noch mitging, um sie beim Kauf ihres Autos zu unterstützten, wäre das nur Hilfe zum Selbstmord. Ich wusste, dass ich ihren Termin nicht verhindern konnte, aber ich wusste auch, dass ich sie sicherlich nicht begleiten würde. Koste es, was es wolle.
„Emma, so gerne ich mitkommen würde, ich habe keine Zeit.“
Ich ging an ihr vorbei, wieder den Flur entlang. Sie eilte hinter mir her.
„Dann kontaktiere ich mal diesen Matt und frage, ob du auch mal eine Auszeit bekommst“, meinte sie mehr verärgert, als ironisch.
Ich seufzte. „Matt hat nichts mit der Schule zu tun, und seine Aufgabe auch nicht, aber das müsstest du als erstes wissen.“
„Dann rufe ich deine Mom an.“
Gespannt auf meine Reaktion späte sie zu mir. Genervt entgegnete ich ihren Blicken. Sie zuckte nur die Achseln, scheinbar zufrieden mit meinem Gesichtsausdruck.
„Du lässt mir keine andere Wahl.“
„Die Lehrer, wenn wir zu spät kommen, auch nicht.“
„Kein Grund zur Panik. Mrs. Cellony ist krank. Die Vertretung, Mrs. Furth-Borange, kommt ständig zu spät, weil ihre Uhr falsch geht und sie meint, die anderen Uhren würden falsch gehen, aufgrund dessen, dass sie angeblich eine Funkuhr hat. Würde es nach ihr gehen, würde die Schule immer fünfunddreißig Minuten später beginnen. Als ich dir am Anfang des Schuljahres gesagt habe, du sollst bei der Wahl der beliebtesten Lehrer als weibliche Person Mrs. Furth-Borange eintragen, habe ich das nicht ohne Grund gemacht. Mrs. Furth-Borange hat gewonnen und darf laut Regeln, zumindest dieses Schuljahr lang, nicht gefeuert werden.“
Die Rede von Emma war fast noch besser als die vorherige.
„Glaubst du ich kenne die ganze Schulordnung auswendig?“
Sie rollte die Augen und schaute mich genervt an, wie ich sie eben. Verständlich. Welcher Schüler konnte schon von sich behaupten, dass er noch nicht mal die Schulordnung seiner eigenen Schule kannte? Aber das fand ich zugegeben eher noch lustig. Im Vergleich dazu gab es etwas, was mir eher Angst einjagte. Ich hatte noch nie etwas von einem Lehrer, geschweige denn Mensch, namens Furth-Borange gehört. Ich kannte noch nicht mal die eigenen Lehrer. Was war nur los mit mir?
„Also für dich zum mitschreiben. Die Regel besagt, dass die Meinungen der Schüler die ganze Schule betreffen ...“, das wusste ich, „… und solange wir wollen, dass Mrs. Furth-Borange an der Schule bleibt, wird sie es auch. Das heißt, nur noch dieses Schuljahr. Als Gegenleistung müssen einige zwar immer durch die ganze Schule kehren und den Putzfrauen die Arbeit abnehmen, aber es lohnt sich. Von mir aus könnten wir sie in allen Fächern haben.“
Ich bekam von meinem mangelnden Wissen vor mir selbst Angst.
„Wie kommt es, dass ich von alledem nichts weiß?“
Schockiert sah ich zu Emma. Sie machte sich aber in der Hinsicht keine so großen Sorgen um mich wie immer.
„Vielleicht bist du zu intensiv mit deiner eigenen Welt beschäftigt. Was man dir nicht übel nehmen kann.“
Diese Erklärung klang plausibel. Obwohl ich nie und nimmer so tief in mein Privatleben verwickelt sein konnte. Oder etwa doch?
„Gehen wir in die Cafeteria?“, schlug Emma mir vor.
Das letztliche schien sie völlig an sich vorbeischleifen zu lassen.
„Ist die überhaupt schon auf?“
„Ab Schulbeginn ist sie immer auf.“
Noch etwas, das ich nicht wusste. Was war bloß los mit mir.
„Ich bin noch nie in der ersten Stunde dahingegangen.“
„Irgendwann ist immer das erste Mal. Außerdem ist es die einzige Tageszeit, zu der man das Wort Totenstille wörtlich nehmen kann.“
„Perfekt“, erwiderte ich nur lautlos. Als wir die Cafeteria betraten, war es wirklich still. Emma und ich setzten uns an unseren gewohnten Tisch. Sie nahm aus ihrer Tasche einen Katalog mit gebrauchten und relativ neuen Autos, den ich mir anschauen sollte. Egal welches Auto ich musterte, ich sah es jetzt schon vor mir stehen, inmitten eines Tatorts, dessen Opfer sie selbst war. Ich kreuzte ein paar Kleinwagen an. Im Prinzip war der Wagen vom Äußeren egal. Er durfte nur über keine hohe PS-Zahl verfügen. Sonst war mir alles egal. Wenn ich mit ihr schon nicht mitfuhr, dann wollte ich sie zumindest so gut es ging beraten. Und sie schien von meinen Vorschlägen gar nicht so abgeneigt. Was mich umso mehr freute.
Nach einer halben Stunde machten wir uns auf den Weg zu unserem Kunstraum um nicht zu spät zu sein. Dort wurden wir aber schon zwei Klassenräume weiter von Todd Campbell und Tom Collyer abgewimmelt, Mrs. Furth-Borange sei überhaupt nicht da. Also gingen wir gleich zum Chemieraum und warteten dort noch zehn Minuten, bis Mr. Flynn kam. Der Rest des Schultages verlief wieder zu geregelten Zeiten. Als die Schule aus war, brannte ich nur darauf zu ihm oder zu mir zu fahren. Obwohl es mir gut ging, war ich am Ende mit den Nerven fertig und müde. Hundemüde. Trotz, dass Emma Matt jetzt etwas besser kannte wollte ich nicht, dass sie mitbekam, dass ich zu ihm ins Auto stieg. Also machte ich mir die gesamte letzte Stunde Gedanken darüber, wie ich sie nur abwimmeln konnte.
Doch alle Sorgen schienen umsonst, als Chris schnell einen Blick in ihr Automagazin warf und sie auf seine Weise beraten wollte. Ich verließ die beiden und machte mich auf den Weg zum Parkplatz. Auf dem Weg dorthin bereute ich es jedoch, dass ich Emma mit ihm alleingelassen hatte. Nicht, dass ich Chris nicht vertraute. Er hatte nur seinen eigenen Geschmack, besonders wenn es um Action ging und war beim Autokauf sicher nicht die beste Beratung für Emma. Aber er konnte sie gut leiden und wenn Emma eine ruhige Seite besaß, dann er auch. Und ich hoffte, dass er diese Seite in dem Fall zur Geltung brachte. Auch wenn ich sie nie zuvor an ihm gesehen hatte, aber so waren Jungen eben. Matt war allerdings vom Benehmen her und von seinen Entscheidungen erwachsener als Chris es je sein wird, und deshalb freute ich mich auch ihn zu sehen.
Während ich an den Autos vorbeiging wurde es windig und kalt. Die Blätter der Bäume, die im Schulpark standen, fielen herab und landeten alle auf dem Parkplatz. Da hatte Mr. Qualls, der Hausmeister nachher alle Hände voll zu tun. Der Gegenwind wurde immer stärker und ich zog meine Jacke zu um die Wärme darunter besser zu speichern. Hoffnungsvoll schaute ich mich um nach seinem Auto. Ich drehte mich zweimal um die eigene Achse, während ich ihn vergeblich suchte. Erst einige Autos weiter, als ich auf die Straße sah, sah ich ihn am Bürgersteig im Auto sitzen. Ein wahrer Stein rutschte mir vom Herzen und ich ging schneller auf das Auto zu. Bei genauerem Betrachten sah ich, wie er einige Knöpfe neben dem Lenkrad bediente. Ich hoffte, dass es die Heizung war. Er bemerkte nicht, dass ich auf ihn zukam, denn erst, als ich die Autotür öffnete, wandte er sich zu mir. Es sah sogar ein bisschen so aus, als ob ich ihn erschreckt hatte. Ich setzte mich neben ihn und verstaute meine Tasche im Fußraum, als ein lauter Befehl von links kam.
„Mach sofort die Tür zu!“
Ohne Matt zu widersprechen oder auch nur einen Moment zu zögern, schlug ich prompt die Tür zu und schaute ihn dann erst an, um mich zu vergewissern, was sein Problem war. „Danke“, sagte er nur, wenn auch sichtlich erleichtert.
„Ist alles in Ordnung?“
„Es ist nichts in Ordnung. Aber wenn du von jetzt sprichst, geht’s wieder.“
„Und warum hast du mich angeschrien, ich soll die Tür zumachen?“, erkundigte ich mich. Er schüttelte den Kopf. „Ich habe dich nicht angeschrien. Ich wollte nur, dass du die Tür schließt, damit es hier drinnen nicht noch kälter wird.“
Das Auto war sowieso kalt, wenn auch deutlich wärmer als draußen. Da spielten die paar Sekunden doch keine ernsthafte Rolle. Außerdem, verstand ich nicht, wieso er sich beschwerte. Er machte nicht den Anschein, als würde ihm die Kälte etwas ausmachen. „Frierst du überhaupt?“
Er seufzte. „Es geht hier nicht um mich, sondern um dich. Es liegt in meiner Verantwortung dich heil nach Hause zu bringen und nicht unterkühlt.“
Wir erstarrten eine Weile und blickten uns an, bis seine Augen kurz in alle Richtungen meines Gesichts gerichtet schienen und seine Augenbrauen kurz aufzuckten. Dieser Ausdruck war mir bekannt. Er wollte mich auf etwas vorbereiten. Dass er gleich etwas an oder mit mir machte auf das ich nicht vorbereitet war, denn ich wusste nicht, was es war. Schließlich hob er seine rechte Hand und fuhr damit sanft über meine linke Wange. Er verharrte dort einen Moment und zog sie wieder zurück.
Als seine Finger mein Gesicht berührten zuckte ich kurz zusammen. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Ich war es von männlichen Personen schon gewöhnt, wenn mir mal jemand tröstend oder freundschaftlich übers Gesicht fuhr, aber außer Sam und einigen Bekannten, die mir zusätzlich immer sagten, wie groß und schön ich geworden wäre, hatte so etwas noch nie jemand gemacht. Sich nicht sofort wieder gelöst. In diesem Moment überkam mich das erste Mal das Bedürfnis und die Sehnsucht nach einem Vater. Gerade, wo ich mir vorstellte, dass das eine typische Berührung eines Vaters war.
Umso mehr verunsicherte es mich, dass sie ausgerechnet von Matt kam. Aber die Gedanken an meinen Dad hielten nur an, bis er seine Hand wieder wegzog.
Dann sah er an mir herunter und musterte meine Jacke.
„Deine Haut ist kalt. Was mich bei dieser dünnen Jacke nicht wundert. Ich hätte euch gestern Abend doch nochmal anrufen sollen und euch von den kühlen Temperaturen für heute in Kenntnis setzen sollen.“
Ich dachte an gestern Abend und das Wort Obst kam in mir hoch. Wenn ich auch nur weiter daran dachte, musste ich es Sam gleichtun und zwar genau hier im Auto. Ich schluckte die Erinnerung runter und sah in betrübt an. Er schaltete den Motor an und wir fuhren los. „Glaub mir, ich will einfach nur vergessen, was gestern bei uns vorgefallen ist.“
„Wieso?“, besorgt wandte er seinen Blick nicht von mir. „Habt ihr euch etwa gestritten?“ „Nein! Aber ich will nicht mehr drüber reden.“
„Ok“, entgegnete er, mehr oder weniger verständnisvoll und hob dabei die Brauen, während er auf die Straße sah. „Dann glaube ich dir mal.“
Kurzes Schweigen trat ein, bis er wieder zu Wort kam. „Aber ich glaube nicht, dass du morgen wieder mit diesem dünnen Fetzen in die Schule gehst.“
Sofort wollte ich ihm widersprechen und meine Jacke verteidigen. „Aber ich trage sie immer seit ich sie habe und sie ist gar nicht so dünn.“
Energisch suchte er meinen Blick. „Aber sie hält dich nicht warm. Und außerdem glaube ich nicht, dass dich Victoria im vergangenen Winter immer mit dieser Jacke rausgeschickt hat.“
Ich errötete innerlich etwas und schmunzelte. „Also eigentlich habe ich sie erst zu meinem Geburtstag bekommen. Von Emma.“
„Und wann hast du Geburtstag?“
„Im März“, wisperte ich.
Er runzelte die Stirn. „Und was hast du letzten Winter angezogen?“
So sehr ich mich auch versuchte zu erinnern, auch wenn es noch nicht mal ein Jahr her war, ich hatte diese Jacke schon so gut wie vergessen. Also blieb mir nichts übrig, als mit den Achseln zu zucken. Er zuckte die Brauen und presste die Lippen zusammen. Er war wohl nicht sonderlich begeistert, über mein mangelndes Wissen. Aber so oder so, es war besser, wenn ich etwas sagte. Auch wenn ich mich nur an Bruchstücke erinnerte.
„Es war eine ganz normale Jacke mit Futter innen drin. Ich weiß nicht wo Victoria sie hingetan hat. Aber sie ist mir ohnehin viel zu klein geworden.“
„Na dann.“
Die nächsten Augenblicke herrschte wieder Schweigen, bis wir in meine Straße einbogen und ich von seinen Lippen eine Zuckung vernahm. Dann fing er an zu grinsen, sodass man seine Zähne sehen konnte. Als ich ihn so musterte, musste ich selbst anfangen zu grinsen, obwohl ich seinen Grund nicht kannte.
„Was ist los? Wieso grinst du?“
Er schaltete den Gang runter, als er auf unser Grundstück fuhr. Doch noch bevor er hielt, bekam ich meine Antwort.
„Ich habe mir gerade die Klamotten meiner beiden Schwestern vorgestellt und wette, dass dir eine ihrer Jacken sicher gefallen würde.“
Er schaltete den Motor aus, stieg aus dem Auto und klingelte an der Tür. Ich räusperte mich als ich neben ihn trat und meinen Haustürschüssel aus meiner Tasche zog um die Tür aufzuschließen.
„Victoria ist nicht da. Sie arbeitet den ganzen Tag bis heute Abend.“
„Oh.“
Sofort als er die Tür hinter uns schloss ging ich ins Wohnzimmer, legte die Tasche auf den Tisch, legte meine Jacke schnell auf die Couch und griff nach der braunen Decke, die halbwegs von der Couch hing, um mich mit ihr zu wärmen. Belustigt trat Matt neben mich, legte meine Jacke über meine Tasche auf den Tisch und machte es sich neben mir gemütlich.
„Keine Hausaufgaben?“, erkundigte er sich.
Ich schüttelte den Kopf, während ich meine warm gewordenen Hände von der Decke löste und sie wieder auf die Couch fallen ließ. „Die Kälte macht sich sogar bei den Lehrern bemerkbar.“
Er grinste allwissend. „Soll ich mal bei mir zu Hause anrufen?“
„Wieso?“, fragte ich verwundert.
„Um meine Schwester zu fragen ob sie noch eine Jacke zu verschenken hat.“
Ich biss mir auf die Lippe. Ich lehnte gerne Sachen ab, gerade wenn es um Kleidung ging, gerade wenn ich sie nicht selbst ausgesucht hatte. Es war sicher besser sie von Shaynia und Keira anzunehmen, als von Victoria, das hieß, wenn sie ungefähr im selben Alter waren, als er und Kyran. Aber vielleicht lagen ihre letzten Einkäufe schon ein paar Jahre zurück, wenn man bedachte, dass sie über die vielen Jahre sicher einige Kleider gesammelt hatten und ihr Schrank geradezu explosionsartig aussah. Was aber noch lange nicht bedeuten musste, dass sie sich dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts anpassten.
„Wie alt sind denn nochmal Shaynia und Keira?“
Verwundert über die Frage weitete er seine Augen. „Shaynia ist neunzehn und Keira sechzehn. Aber Keira ist für ihr junges Alter sehr erwachsen und sehr entschlossen. Warum fragst du?“
Ich gab es auf. Aus bisheriger Erfahrung brachte es sowieso nicht viel, ihm von vornherein nicht die Karten offen auf den Tisch zu legen. Auch wenn er es vielleicht nicht verstand, weil er ein Mann war.
„Es geht einfach darum, dass ich es bevorzuge, dass mir die Sachen auch gefallen, die ich anziehen muss. Da ich erst fünfzehn bin wäre es also schön, wenn sich der Stil der Kleider auch auf mein Alter fokussiert.“
Ich wusste, dass Shaynia sich nicht altmodisch kleidete. Aber was würde mit Keira sein? „Mach dir da mal keine Sorgen“, versicherte er mir, „Keira ist zwar im Moment auswärts tätig, aber sie hat für jeden Geschmack etwas. Da wird auch eine Jacke dabei sein, die dir gefällt und die vor allem warm hält.“
Er zeigte fragend auf ein Telefon, das auf dem Küchentisch lag und wartete auf meine Zustimmung einen Anruf zu betätigen. Als ich ihm mit einem Nicken die Erlaubnis erteilte, griff er es sich sofort und ging damit in die Küche, um ungestört zu sein. Alles, was ich von dem Telefonat mitbekam war, dass er offenbar mit Shaynia sprach und dass Kyran eine Jacke vorbeibringen sollte.
Nach etwa einer halben Stunde, hörte ich, wie ein Auto vor unserem Haus vorfuhr. Offenbar parkte es aber nur auf dem Bürgersteig. Kurz darauf fiel eine Tür zu. Matt schaute aus dem Küchenfenster und schritt schnell zur Tür, welche er öffnete und seinem Bruder entgegen ging. Nach einem kurzen Gemurmel hörte ich das Auto wieder wegfahren und stand von der Couch auf, als Matt wieder im Türrahmen erschien. Eine große dunkelgrüne schwarze Papiertüte an der Hand hängend. Es wunderte mich, dass sie nicht sehr zerknittert war, nur ein paar Beulen. Unsicher sah ich von ihm auf sie und dann wieder zu ihm. Sein Grinsen kam wieder und er stellte die Tüte auf den Esstisch. Dann ging er einen Schritt zurück und präsentierte, beide Arme auf sie gerichtet, die Tüte. Zögernd ging ich auf den Tisch zu aber hielt eine Armlänge vor ihr den Atem an. Matt musterte mich ausdruckslos, bis er nicht mehr anders konnte und seine Lippen wieder hochzog.
„Du kannst ruhig reinschauen. Es ist nicht so schlimm. Außerdem, glaubst du meine Schwestern haben keinen Geschmack?“
Ich musste innerlich grinsen. Oh doch. Seine Schwestern hatten sehr wohl Geschmack. Auch wenn ich Keira noch nicht kannte, wusste ich das. Ich war mir inzwischen sogar ziemlich sicher, dass sie den gleichen Geschmack hatten wie ich, nur dass sie ihren schon unendlich weiterentwickelt hatten. Also kam ich noch einen großen Schritt vor und nahm die Jacke behutsam heraus. Mir stockte fast der Atem und ich fing an pausenlos zu grinsen. Diese Jacke war, trotz der Farbe, die ich abgrundtief hasste, ganz im Gegensatz zu Victoria, einfach nur perfekt und schien wie für mich geschaffen. Sie war sicher nicht gerade heute gekauft worden aber auch nicht uralt. Es war eine Lederjacke, dunkelgrün, mit einer dunklen Fütterung plus gefütterter Kapuze, wenn auch etwas zerknittert an manchen Stellen. Sie strahlte etwas jugendlich Liebliches aus und doch war sie auch erwachsen.
Matt schmunzelte, als er meine Miene sah.
„Warum habe ich gedacht, dass sie dir gefällt. Probier sie doch mal an.“
Ich marschierte vor den langen Spiegel, mit goldenem Rahmen mit aufblitzenden schmalen silbernen Rissen, der neben der Garderobe stand. Zuerst hielt ich das Leder nur vor mich, dann, als Matt hinter mir im Spiegel auftauchte um mir zu helfen sie anzuziehen, zog ich sie an. Sie war das erste Kleidungsstück, in das ich mich auf den ersten Blick verliebt hatte. Nach einer überglücklichen Bewunderung von meinem Spiegelbild, kam mir der Gedanke, dass diese Jacke ja eigentlich Eigentum seiner Schwester Keira war. Vielleicht wusste sie überhaupt noch nichts davon, dass Shaynia und Kyran sie ausgewählt hatten und wollte sie zurück, sobald sie wiederkam. Unwillkürlich drehte ich mich um zu Matt, wobei ich fast mein Gleichgewicht verlor, als ich ihn vor mir stehen sah, und nicht wie im Spiegel, hinter mir. Er hielt mich sofort an meinen Schultern fest und zog mich wieder zu sich. „Glaubst du, Keira hätte was dagegen, wenn ich ihre Jacke trage?“
Er schüttelte beruhigend den Kopf. „Keira hat tausende von anderen Jacken bei sich und wenn diese hier ihr so wichtig gewesen wäre, hätte sie sie mitgenommen. Und ich glaube auch nicht, dass Shaynia einfach eine von ihren Lieblingsstücken ausgesucht hätte.“
Beruhigt nickte ich, zog die Jacke behutsam wieder aus und hängte sie vorsichtig an einen der Karabiner. Als ich sie mit den anderen Jacken und Mänteln verglich, die dort noch hingen, stach sie nicht aus der Masse hervor. Das hieß, schon, aber sie wirkte nicht fremd und auch nicht nagelneu. Man sah ihr an, dass sie schon benutzt worden war, aus welchem Grund sonst hätte sie Keira denn auch kaufen sollen, aber sie war noch nicht so oft getragen worden, dass man sagen konnte, sie sei abgetragen. Diese Mischung aus klassisch und modern gefiel mir, sogar richtig gut. Die Gedanken an meine frühere Lieblingsjacke waren wie verschluckt. Ich drehte mich wieder zu Matt und atmete tief durch.
„Kannst du deiner Schwester bitte sagen, dass ich ihr für diese Jacke auf Lebenszeit etwas schuldig bin, wenn du das nächste Mal etwas von ihr hörst?“
Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich vergnügt an. Ihn schien es zu freuen und vielleicht ein bisschen zu ammüsieren, dass mir die Lederjacke so sehr gefiel.
Er schmunzelte. „Das kann ich gerne machen, wenn sie sich bald mal wieder bei uns meldet. Oder du machst es persönlich.“
Auf diesen Vorschlag wollte ich von Anfang an schon eingehen aber das Problem war, ich wusste nicht wo sie war und auch nicht, wann oder ob sie überhaupt zurückkam.
„Dafür wäre es nicht schlecht zu wissen, wann ich sie kennenlerne.“
Er runzelte die Stirn. „Das weiß ich noch nicht so genau, denn sie hat uns noch nicht gesagt, wie lange sie wegbleibt. Aber wenn dir diese Jacke wirklich so schnell ans Herz gewachsen ist, dann wirst du dich im schlimmsten Fall auch noch in zehn Jahren an deine Danksagung erinnern. Und glaub mir, dass wirst du, ich spreche aus Erfahrung.“
„Mit Sicherheit“, versprach ich ihm.
Den Rest des Tages verbrachten wir damit über Emma zu diskutieren. Er musste ein Experte im Straßenverkehr sein. Und er gab mir auch einige wichtige Tipps, die man berücksichtigen sollte, wenn man sofort am ersten Tag aufs Gaspedal treten wollte. Ich machte mir ein paar Notizen, von denen er sagte, dass ich sie nicht nur Emma, sondern auch ihren Eltern zeigen sollte. Ihr Dad Ralph, würde sie sich sehr zu Herzen nehmen, dem war ich mir absolut sicher. Von meiner neuesten Bekanntschaft Egon Levoy, wollte ich ihm aber jedoch nichts erzählen. Ich wusste auch nicht warum, aber ich hatte kein gutes Gefühl dabei, ihn in unser Gespräch einzuweihen. Ich hatte keine Angst vor Egon, ich hatte eher Angst davor, dass Matt bei ihm kein gutes Gefühl verspürte und mir vorschlagen würde, dass ich den Kontakt mit ihm vermied. Aber es bestand kein Grund darin, sich Sorgen wegen ihm zu machen, denn die Chance, dass Egon wieder, wie heute Morgen, einfach so vor unserer Schule stand, war gering. Zumindest aus meiner Sicht. Aber das Thema Schule war sowieso schnell erledigt, als es allmählich draußen dämmerte und Matt sich im Haus umschaute.
„Was isst du eigentlich zum Abendessen?“
Fragend sah ich mich auch um, in der Hoffnung, irgendwo könnte man etwas Essbares erkennen, was einem Abendessen würdig wäre. Dummerweise fand ich nichts.
„Keine Ahnung.“
Er nickte nur knapp, mit den Gedanken ganz woanders und als ich seinen Augen folgte, wusste ich auch, wo sie waren. In der Küche. Er durchsuchte zuerst alle Regale, die über dem Herd befestigt waren. Als er dort nicht fündig wurde, öffnete er eine weiße Tür, die sich ganz rechts in der Küche befand. Wir nannten es das Räumchen. Die Verniedlichung bestand darin, dass der Raum gerade mal einen Meter breit und einen Meter lang war. Rechts, links und an der Kopfseite waren Regale aus Holz befestigt, auf denen wir die Lebensmittel lagerten, die nicht in den Kühlschrank gehörten. Auf den untersten Regalen befanden sich Spülmittel und lauter Sachen zum Saubermachen. Auf dem Boden standen große und kleine Wasserflaschen. Er drehte sich kurz zu mir.
„Magst du Spaghetti?“
Sofort nickte ich und mir lief jetzt schon das Wasser im Mund zusammen. Ich liebte Nudeln über alles. Er schnappte sich eine Packung Nudeln und machte das Räumchen wieder zu. Dann legte er die Packung auf die Küchenablage, öffnete den Kühlschrank und zog aus dem Tiefkühlfach eine Portion Hackfleisch heraus. Ich wollte ihm beim Kochen zwar behilflich sein aber er wollte nur wissen, wo die Kochtöpfe waren. Während er kochte, sah ich ihm interessiert zu. Es war mir allerdings auch etwas peinlich, dass er offenbar kochen konnte und ich konnte gerade mal den Backofen und den Toaster bedienen. Aber es war sehr amüsant einem Mann beim Kochen zuzusehen. Es gab nicht viele Männer, die kochen konnten. Zumindest kannte ich nicht allzu viele. Dafür wimmelte es im Fernsehen geradezu von ihnen. Bevor er dagegen sprechen konnte, nahm ich aus einem der Regale zwei Teller heraus, plus Besteck aus den Schubladen unter der Küchenablage. Ich stellte sie neben dem Herd ab und setzte mich wieder auf meinen Platz. Zumindest hatte ich etwas getan. Denn ich wäre mir nicht gut dabei vorgekommen die ganze Zeit einfach faul dazusitzen und ihm nur zuzuschauen. Als er fertig war gab er eine Riesenportion Spaghetti auf jeden Teller und krönte sie mit einem großen Löffel gebratenem Hackfleisch. Er nahm einen Teller, wie es Kellner immer machten, auf seine linke Hand und balancierte den zweiten Teller auf seinem Arm. In der anderen Hand hielt er das Besteck. Er setzte sich gegenüber von mir hin und reiche mir mein Essen. Ich musste zuerst nach Luft schnappen, als ich vor mir auf den Tisch sah. Wie sollte ich eine so große Portion jemals verschlingen können?
„Guten Appetit“, wünschte er mir.
„Gleichfalls“, wünschte ich ihm flüchtig zurück, ohne den Blick von dem riesigen Berg Spaghetti zu wenden. Aber dann überkam mich doch der Hunger und ich gabelte eine große Portion Nudeln auf und ließ sie mir genüsslich auf der Zunge zergehen. Aber dieser Moment währte nicht lange, denn spätestens als ich das Essen runtergeschluckt hatte, wurde mir erst bewusst, wie viel Hunger ich überhaupt hatte. Und plötzlich kam mir der Teller nicht mehr überfüllt vor. Nach spätestens zwei Minuten war er schon leer aber mein Hunger, erstaunlicherweise, immer noch nicht gestillt. Dann schaute ich plötzlich auf und sah Matt vor mir sitzen. Er war immer noch am essen. Nicht mal die Hälfte hatte er geschafft. Obwohl er nur auf sein Essen achtete, war mir die Situation unglaublich peinlich. Er aß seelenruhig gegenüber von mir seine Spaghetti und ich stellte mich so an, als wäre ich halb am verhungern und schlang alles einfach so in mich hinein. Wahrscheinlich hatte ich noch nicht einmal gekaut. Und er saß daneben und musste es mit ansehen. Vielleicht hatte er deshalb erst so wenig verdrückt, weil er wegen mir keinen Appetit mehr hatte. Plötzlich schaute er hoch, mich an, und von seinem auf meinen Teller. Matt legte sein Besteck beiseite und schob mir seinen Teller vor.
„Iss“, forderte er mich leise auf.
Verunsichert blickte ich den Berg Spaghetti und dann ihn an.
„Tut mir leid, dass du das gerade mit ansehen musstest. Ich hatte einfach nur Hunger. Tut mir leid wenn ich dir den Appetit verdorben habe. Das wollte ich nicht.“
Er schob den Teller mit seinen Fingerknöcheln noch ein bisschen näher zu mir heran, die Augen nicht von meinen gelöst.
„Du hast mir nicht den Appetit verdorben. Ich habe nie viel Hunger. Und du bist immer noch nicht satt. Das sehe ich in deinen Augen. Also bitte, iss.“
Ohne weiter zu zögern schob ich meinen leeren Teller zur Seite und zog seinen an mich. Jetzt war mein Hunger nicht mehr so groß, also konnte ich wieder einigermaßen normal essen.
„Immer noch hungrig?“, fragte er mich, als ich fertig war.
„Nein“, versicherte ich ihm lächelnd.
Ich war wirklich richtig satt aber gleichzeitig auch so vollgefressen, dass ich dachte, ich würde platzen. Matt räumte das Geschirr in die Küche und kam zu mir.
„Ich gehe jetzt mal. Victoria wird sicher bald kommen.“
Ich nickte, stand auf und begleitete ihn zur Tür. Als er sie aufmachte und wir beide raustraten, war es ungewöhnlich hell, und das lag nicht an der Straßenlaterne unserer Nachbarn. Es war Vollmond. Er leuchtete direkt auf mein Haus, direkt auf uns. Innerlich spielte ich belustigt mit dem Gedanken, dass es ja eventuell am Vollmond liegen konnte, dass ich so viel Hunger hatte. Diesen Gedanken verwarf ich aber schnell wieder. Durch das grelle Licht konnte ich sehen, obwohl ich Matts Gesicht nur zum Teil sah, weil er dem Vollmond zugewandt war, wie seine Mundwinkel zuckten und sich daraus ein Grinsen ergab, als er sich zu mir wandte.
„Dann wollen mir mal hoffen, dass du keine bösen Träume bekommst. Du weißt ja, was der Vollmond so alles anrichten kann.“
Ich fing an zu lachen. „Diese Sagen über überirdische Kräfte fand ich mit neun noch spannend. Aber mit der Zeit weiß ich, dass sie nicht der Realität entsprechen. Was ich äußerst schade finde. Außerdem hatte ich mit Vollmond noch nie meine Probleme. Abgesehen davon ist mein Fenster auf der anderen Hausseite.“
„Na dann“, flüsterte er.
Plötzlich fasste er sich rechts an seinen Mund und wies auf meine linke Gesichtshälfte. „Was ist los“, wollte ich wissen.
„Du hast da … etwas Sauce kleben.“
Mein Herz blieb stehen und ich lief rot an. Ich hoffte nur, dass man es durch das Mondlicht, welches direkt auf mein Gesicht schien, nicht allzu stark sah. Sofort versuchte ich den Speiserest abzurubbeln, was nicht gerade einfach war, wenn man nicht wusste, wo was war. Angespannt sah ich ihn an und ließ meine Hand ein Stück sinken.
Er lächelte erneut und nickte. „Perfekt.“
In dem Moment konnte ich nichts anderes als sein Lächeln zu erwidern. Matt nahm meine Hand in seine und ließ sie mit ausgestrecktem Arm voneinander entgleiten, als er sich von mir entfernte und langsam rückwärts auf sein Auto zuging. Den Blick nicht von mir gewandt.
„Ich rede morgen nochmal mit deiner Mom. Wenn nichts dagegen spricht, sehen wir uns dann morgen nach der Schule.“
„Ok.“
Ich wartete noch bis er vom Grundstück gefahren war, bis ich reinging. Als ich die Haustür hinter mir schloss, fuhr ich mir zuerst mal durch die Haare und machte mich, mit einem erschreckenden Blick auf die Uhr, sofort auf den Weg ins Bad. Als ich wenig später in meinem Bett lag, meinte ich noch zu hören, wie Victoria erschöpft das Haus betrat, aber danach war ich komplett weg und hatte zum Glück auch keinen Albtraum.
Ich ignorierte meinen Wecker am nächsten Morgen. Mir war hundeelend und ich konnte mich noch nicht mal bewegen, ohne dass das Konsequenzen haben würde. Es war wie, als hätte man mich gefesselt und ich verfluchte dieses Gefühl. Das letzte Mal solche Bauchschmerzen ertragen, musste ich im Sommer. Und das letzte Mal, dass ich einen Brechreiz verspürt hatte, lag schon knapp zwei Jahre zurück. Und ich war nicht sehr stolz darauf, dass er wieder zurückkehrte. Aber sonst fehlte mir nichts Ernstes. Hoffte ich zumindest. Es dauerte zu meinem Glück nicht sehr lange, bis sich Victoria über meine so späte Abwesenheit wunderte und es an meiner Tür klopfte. Ich hätte ihr gerne die Erlaubnis erteilt, mein Zimmer zu betreten aber das Sprechen viel mir nicht gerade einfach. Nach wenigen Augenblicken kam sie aber von selbst rein. Sie schaute sich zuerst im Zimmer um, verwundert, dass sie mich nicht fand. Als sie mich dann aber unerwartet im Bett vorfand, wurde ihre Miene besorgniserregend.
„Katrin was ist denn mit dir los?“
In ihrer Stimme lag die übernatürliche Besorgnis einer Mutter, als sie sich neben mich auf den Bettrand setzte. Ohne jeglichen Grund fiel mir das Sprechen wieder einfacher.
„Ich habe Bauchschmerzen.“
„Dann ist dir dein Kochversuch wohl doch misslungen.“
„Was meinst du?“
„Na, ich habe gestern Abend noch schnell das Geschirr weggeräumt. Hat Matt mit dir gegessen?“
Ich verpasste mir gedanklich einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf. Matt hatte die Teller ja nur in der Küche abgestellt. Jetzt ging es mir noch schlechter, denn ich bekam Schuldgefühle, dass Victoria gestern Abend, völlig erschöpft von der langen Arbeit, mir noch hinterher räumen musste. Und gleich musste sie mir wahrscheinlich wieder hinterher räumen, weil ich in diesem Zustand Emma keinen Gefallen machte, sie davon zu überzeugen, dass es mir gut ging.
„Nein, nein. Er hat gestern für uns beide gekocht. Und es hat wirklich gut geschmeckt.“ Wir beide fingen an zu grinsen. Sie stellte sich diese Szene jetzt sicher vor. Matt bekochte mich. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sehr sie das amüsierte.
„Die Spaghetti waren aber besser als das Obst“, ergänzte ich, in Gedanken an den Obstsalat, bei dessen Vorstellung mir noch mehr schlecht wurde. Jedoch verstummte nicht nur mein Grinsen sondern auch ihres. Hätte ich die Sache mit dem Obst doch nicht nochmal ausgraben sollen?
„Hast du irgendeine Vorstellung, wieso du sonst Bauchschmerzen haben könntest?“
Ich schüttelte stumm den Kopf. Insgeheim vermutete, nein, wusste ich, dass es an meiner Fressattacke lag, beziehungsweise, nur liegen konnte, aber das wollte ich ihr nicht sagen. Sonst gab sie sich im schlimmsten Fall noch die Schuld an meinem leeren Magen und im Moment hatte sie noch genügend andere Probleme. Normalerweise konnten sich Leute in meinem Alter nicht in die Rolle ihrer Eltern reinversetzten und hatten kein Verständnis für deren Probleme. Bei mir war es etwas anderes. Ich hatte zwar nicht so viele wie Victoria aber durchaus mehr, als die meisten. Sie strich mir mit ihrer Hand sanft über die Stirn, runter an meine Wange.
„Dann werde ich mal in der Schule anrufen und dich für heute krankschreiben.“
Ich nickte. „Und ich sage Matt, dass er nicht so lange bleiben muss, wie üblich. Ich habe heute ja frei.“
Wie bitte? Dass er nicht so lange bleiben musste, wie üblich? War es für ihn etwa eine Qual, sich jeden Tag mit mir abzugeben? Ich dachte, er hätte sich freiwillig für diesen Job zur Verfügung gestellt. Und wenn, dann überspielte er es ganz gut. Und warum sollte er überhaupt heute kommen? Dass hieß, nicht, dass ich es nicht wollte, aber in meinem Zustand, auch wenn ich nicht im Sterben lag, wollte ich eigentlich nicht, dass er mich sah. „Kannst du Matt nicht für heute entlassen?“
Ich wusste, dass diese Bitte komisch klang und unerwartet kam und so verdutzt sah mich Victoria auch an.
„Warum?“
„Victoria“, als ich ihren Namen aussprach, stöhnte sie leise und wandte ihr Gesicht ab. „Du darfst mich jetzt bitte nicht falsch verstehen, ich vertraue Matt und seiner Familie. Voll und ganz, aber ich kenne ihn noch nicht allzu lang, und er hat mich noch nie krank gesehen. Ich finde es einfach zu privat und würde mich nicht wohl dabei fühlen, wenn er neben meinem Bett auf einem Stuhl hockt und mich die ganze Zeit anstarrt.“
Ich hoffte, sie würde das verstehen. Es war keine Ausrede, sondern wirklich die Wahrheit. Das schien sie zum Glück anzuerkennen und nickte. „Ok, dafür habe ich Verständnis. Ich sage ihm dann bescheid.“
„Danke.“
„Soll ich dir einen Tee machen?“
„Ja bitte.“
Sofort machte sich Victoria an die Arbeit und ließ mich ein wenig in Ruhe.
Der Rest des Tages verlief eigentlich sehr schnell. Ich tat alles daran, mich wieder besser zu fühlen und nahm Tabletten widerwillig entgegen. Die meiste Zeit verbrachte ich eigentlich mit schlafen. Sobald ich wach war, trank ich ununterbrochen Tee und Wasser und aß Gebäck, das meinen Bauch schonte. Victoria ließ sich die Hausaufgaben von Emma geben und wünschte mir beste Besserungsgrüße von Matt und Kyran. Kyran bekam ich sogar für fünf Minuten ans Telefon. Wenn ich mich nicht irrte, war er die einzige Medizin, die von allen am besten half. Gegen Abend kam ich auf die Beine und überredete Victoria dazu, uns Hähnchenschenkel zuzubereiten. Während sie im Ofen vor sich hin brodelten, schnappten wir beide nochmal in einem halbstündigen Spaziergang Luft.
Früher machten wir solche Spaziergänge regelmäßig. Besonders schön war es, als ich noch acht war. Wenn wir immer Emma und ihre Mutter mitnahmen.
Danach war ich wieder richtig auf den Beinen und genoss die knusprigen Schenkel so sehr wie die Spaghetti. Hielt mich diesmal aber mit der Anzahl etwas zurück. Meine Gehorsamkeit gegenüber der Medizin und dem Schlaf machte sich am nächsten Morgen bezahlt. Wie frisch geboren schlüpfte ich aus dem Bett, als mein Wecker klingelte und machte mich fertig für die Schule. Victoria kam mir auf dem Weg nach unten entgegen, da sie dachte, es würde mir immer noch schlecht gehen. Da ich aber Geräusche aus dem Wohnzimmer wahrnahm, war mir klar, dass sie nur mit dem Gedanken spielte. Ich ging an ihr vorbei, neugierig, wer uns zu so früher Stunde beehrte, obwohl ich es mir denken konnte. Es gab ja nur eine fünfzig-fünfzig Chance. Ich strahlte, als ich um die Ecke kam und ihn am Arm der Couch lehnend fand.
Kyran strahlte zurück und kam auf mich zu. „Na? Wieder fit?“
Ich bestätigte ihn mit einem Nicken. „Ich hasse es krank zu sein.“
„Ich auch“, gab er zu. „Darum bin ich auch immer gesund.“
Ich freute mich so ihn zu sehen, dass ich ganz die Zeit vergaß. Sein Blick fing die Garderobe ein. „Na los. Sonst kommen wir noch zu spät.“
Ich zog mir schnell Schuhe an und griff sofort nach der dunkelgrünen Lederjacke, nachdem ich sie gesichtet hatte. Ich hatte sie gestern ganz vergessen. Gerade, als Kyran die Tür aufmachte und ich raustreten wollte, kam mein Name eilig von hinten. Ich drehte mich um. „Katrin, auch wenn du gestern Bauchschmerzen hattest. Auf leeren Magen lasse ich dich nicht in die Schule fahren.“
Victoria kam mir aus der Küche mit einem Käsebrot entgegen, das sie zugeklappt hatte und drückte es mir in die Hand, mit einem prüfenden Blick zu Kyran.
„Keine Sorge Victoria“, versicherte er ihr, „Ich werde aufpassen, dass sie es runter hat, bis wir an der Schule sind.“
Zufrieden klopfte sie ihm auf die Schulter und verabschiedete mich mit den Worten: „Dann einen schönen Schultag. Du gehst heute Nachmittag mit zu Kyran. Ich muss arbeiten. Wir sehen uns dann abends.“
Ich biss auf dem Weg zum Auto in mein Brot und ging nochmal den heutigen Tagesplan im Kopf durch. Eigentlich nichts Besonderes. Ich hatte nichts zu meckern (obwohl das keine Rolle spielte). Allerdings betrübte es mich, dass dieser Tag wieder so schnell an mir vorbeiziehen würde. So, wie jeder Tag, den ich in Begleitung eines Familienmitglieds der Cabots verbrachte. Kyran ist aber noch schlimmer. Wenn ich mit ihm zusammen war, verging eine Stunde gefühlsmäßig in fünf Minuten. Deshalb freute ich mich auch immer, in der Schule mit ihm Zeit zu verbringen und dankte Gott, dass wir auch dieselben Kurse hatten. Auch Sam und Chris verbrachten langsam richtig gern Zeit mit ihm, obwohl er für Sam am Anfang ein richtiger Dorn im Auge war. Wahrscheinlich, weil ich mich mit ihm auf Anhieb so gut verstand. Aber Sam kannte ja die Hintergründe nicht.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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