Meike Schäfer

Alvarez-Der Schwur-7.Kapitel-Die Erkenntnis-Seite143-155

Als wir in Windeseile, wie erwartet, an der Schule ankamen und von meinem Brot nichts mehr übrig war, tat Kyran etwas, für das ihm Sam voraussichtlich tausendmal dankbar sein würde.
„Obwohl wir die letzten Tage nicht allzu viel miteinander zu tun hatten, gebe ich deinem Freund eine Chance. Die Chance, dich heute Nachmittag auch mal wieder rumkutschieren zu können. Ich habe mich für heute krankgemeldet. Wir sehen uns dann später.“
Ich nickte verständlich und ließ ihn wegfahren. Hinterher hätte ich ihm fast an den Kragen springen können. Kyran war zwar offiziell kein richtiger Schüler, was ihm aber inoffiziell nicht das Recht gab, sich einfach so krankschreiben zu lassen. Und mich schickte man in die Schule. Das war so ungerecht. Der Ärger blieb mir aber schnell weg, als ich Sam erblickte. Ich freute mich Sam wiederzusehen. Jedoch fiel es mir recht schwer, ihn auf sein missratenes Leibgericht nicht anzusprechen.
In der Pause gab ich Emma einen Umschlag, unter dem Vorwand, es sei für Ralph von Victoria. Denn nur das war die einzige Chance, dass sie das Kuvert nicht öffnete. In seinem Inneren verbarg sich eigentlich aber der Zettel, den ich vorgestern von Matts Tipps übernommen hatte. Zusätzlich ein kleiner Zettel, den ich gestern Abend noch schnell geschrieben hatte. Hierbei ging es darum, Mr. Langer so anschaulich wie möglich zu machen, dass Emma diese Stichpunkte dringendst beachten musste. Und, dass er ihr bitte nicht davon erzählte, denn dann gab es richtig Stress mit ihr.
Ich folgte Sam schnurstracks, als die Schule aus war. Wahrscheinlich bemerkte er es noch nicht einmal. Umso größer die Verwunderung in seinen Augen, als er gerade in sein Auto einsteigen wollte und mich erblickte.
„Hey“, sagte er strahlend, „Was machst du denn hier? Kommt dich deine Mom etwa nicht abholen?“
„Nein“, schüttelte ich den Kopf. „Darum dachte ich … “
„Was dachtest du?“, fragte er spielerisch.
„Ob du mich mitnehmen könntest. Vielleicht? Bitte?“
Normalerweise stellte ich mich nicht so zimperlich an und schon gar nicht bei ihm. Aber in diesem Moment zweifelte ich wirklich daran, dass er mich mitnahm.
„Na steig schon ein“, forderte er mich freundlich auf.
Sofort schlüpfte ich ins Auto und machte mich startklar. Er schob zuerst seine Tasche nach hinten und drehte dann die Heizung ein wenig nach oben. Entspannt saß ich da und wunderte mich, wann es denn endlich losging, als er mir zuerst noch eine Frage stellte.
„Wo soll es denn hingehen?“
„Setz mich einfach bei Matt ab.“
„Wer ist Matt?“
Ich fuhr zusammen. Ich hatte ganz vergessen, dass Sam ihn nicht kennen konnte. Schließlich ging er nicht auf diese Schule und selbst Emma kannte ihn nur flüchtig. Nur vom ersten Tag, als sie mich von ihm weggezehrt hatte und von der Cafeteria. Danach war er nur noch gekommen um mich hinzufahren und abzuholen.
„Er ist ein guter Freund. Ich habe ihn durch Kyran kennengelernt. Seine Eltern und Victoria kennen sich flüchtig von früher.“
Misstrauisch schielte er zu mir. „Wenn du mir sagst wo er wohnt.“
Mein Erstaunen über seine Reaktion, keine Durchlöcherungen und keine Eifersucht, versuchte ich zu verbergen. Vielleicht hatte er andere Probleme, als das er sich um mein Wohlbefinden kümmern wollte, was er immer tat.
„Da wo Kyran wohnt“, antwortete ich.
„Ich dachte immer, dass es Leuten wie Kyran, die neu hierherziehen schwerfällt schnell neue Freunde zu finden. Oder sind sie nur Nachbarn?“
„Sie sind Brüder“, klärte ich ihn auf.
„Also jetzt wo du es sagst“, überlegte er.
„Sehen sie sich denn überhaupt nicht ähnlich?“
Bei mir war es etwas anderes als bei ihm. Ich wusste von Anfang an, dass sie Brüder waren und fand auch, dass sie sich ähnlich sahen. Dann fiel mir wieder kurzfristig ein, dass Sam ihn ja noch nie gesehen hatte. Wie sollte er da ein Urteil über ihre Ähnlichkeit fällen.
„Tut mir leid Sam. Ich hab ganz vergessen, dass du ihn noch nie gesehen hast“, entschuldigte ich mich bei ihm.
Zugleich wurde Sams Gesicht starr und er sah so konzentriert aus, als wennsein Kopf gleich explodieren würde.
„Nein, nein Katrin. Ich habe Matt schon einmal gesehen. Er hat dunkle Haare und fährt einen grauen Wagen, stimmt’s?“
Ich musste schlucken. Was sollte heißen, er hatte ihn schon mal gesehen. Vor allem was hatte er gesehen?
„Ja. Wann hast du ihn gesehen?“, wollte ich wissen.
„Um ehrlich zu sein, sehe ich dich in letzter Zeit ständig bei einem fremden Kerl ins Auto steigen. Ich dachte schon, ich müsste mir größere Sorgen machen aber ich bin froh, dass der Typ jetzt einen Namen hat“, sagte er ruhig, „Und zu deiner Frage, ob sie sich ähneln oder nicht. Kyran hat eindeutig hellere Haare als sein Bruder aber sonst kann ich sie nicht weiter beurteilen. Schließlich sehe ich ihn immer nur von hinten. Frag doch einfach mal Victoria.“
Er zündete den Motor an und bannte sich einen Weg aus den Autos heraus, in die Autoschlange auf der Straße.
„Kennst du den Weg?“
Der genaue Weg viel mir nicht mehr ein aber sie wohnten im gleichen Ort wie sein Bruder. „Sie wohnen in der Nähe von deinem Bruder.“
„Dann weiß ich, wo sie wohnen“, meinte Sam kurz.
„Ok. Und woher?“
„Vor ein paar Tagen habe ich meinen Bruder besucht und mich dann nachts verfahren. Ich bin zwei oder drei Straßen zu weit gefahren. Auf der Straße stand ein Auto, in ihm saß ein Junge. Er hatte ein bestimmtes Haus im Visier und das war mindestens zwei Häuser weiter.“
Sam erinnerte mich von seiner Ausdrucksweise ein bisschen an Matt als er mir von meinem Dad und seiner Geschichte erzählt hatte. Es klang verrückt, es war auch verrückt aber dahinter steckte eine wahre Geschichte und ich hoffte, dass diese auch bei Sam herauskam. „Was hat der Junge mit ihrem Haus zu tun?“
„Überhaupt nichts. Ich sage es mal so, er hatte keinen großen Unterschied zu Kyran oder Matt, vom Aussehen zumindest. Das heißt, bei Matt kann ich nur von den Haaren ausgehen.“
„Und was schließt du daraus?“, bohrte ich weiter.
„Vom Äußeren, könnte er mit ihnen Verwandt sein“, brachte Sam vor. „Aber ich will keine Sachen behaupten, die nicht stimmen oder falschen Alarm auslösen. Also halte ich mich jetzt zurück und schweige für immer.“
Ich kannte Sam jetzt schon so lange und er erzählte mir nichts, von dem er nicht den Hauch von Gefühl hatte, dass da doch was dran war. Er konnte mich mit seiner Beobachtung jetzt nicht hängen lassen. Und wenn es Matts Familie betraf, betraf es auch gleichzeitig mich und gegebenenfalls auch Victoria.
„Bevor du für immer schweigst, würdest du deinen Mund noch einmal aufmachen, um mir zu erklären, wie deine volle Aufmerksamkeit auf den Jungen traf, wobei du doch damit beschäftigt warst den Weg nach Hause zu finden?“
Anders als bei anderen Leuten wusste ich, dass jetzt eine vernünftige reale Erklärung folgte. Fragte sich nur, ob er mir mehr verriet, denn er zögerte etwas, bevor er doch auf meine Frage einging.
„Er saß nicht völlig unauffällig im Auto. Das Auto war von innen beleuchtet, er saß seelenruhig auf seinem Platz und hatte in der Hand ein Buch aufgeschlagen aus welchem er aber nicht las, weil sein Blick die ganze Zeit an dem Häuserblock klebte.“
„Nur weil jemand seine Innenbeleuchtung an hat, bist du von ihm automatisch fasziniert oder was?“
Es tat mir leid, ihn mit meinen Fragen ausquetschen zu müssen. Ich wollte nur Klarheit. „Ich habe vergessen meine Frontscheinwerfer anzumachen und da dort nicht jede Lampe funktioniert und nachts auch nicht der größte Verkehr herrscht, ist mir das Licht eben sofort aufgefallen. Reicht das?“
Das reichte, das reichte völlig. Völlig um zu wissen, dass es anscheinend jemanden gab, von dem mir Matt noch nichts erzählt hatte, oder bewusst verschwiegen. Es fühlte sich komisch an, Sam praktisch auch mit einzubeziehen. Er passte dort nicht rein. In meiner Welt war er zwar einer der Hauptpersonen und die Zeit mit ihm wollte ich für kein Geld der Welt missen, aber in diese Geschichte passte er nicht. Es schmerzte richtig ihn auszuschließen und zu verkraften, dass sich unsere Wege auch einmal trennen mussten, denn das wollte ich nicht. Jetzt musste ich aber versuchen, so viel wie möglich über diesen einen mysteriösen Jungen herauszufinden, bevor ich bald auf Matt treffen würde, der mir sowieso nichts Großes sagen würde.
„Klar. Glaubst du, du erinnerst dich an die Stelle?“, betend blickte ich in seine rechte Gesichtshälfte. Seine Augen zogen sich zusammen. Das taten sie immer, wenn er nachdachte. „Ich kann es versuchen.“
Dankend nickte ich, obwohl ich wusste, dass er mich nicht ansah. Ich tat das eher für mich, um mich zu beruhigen. Somit waren zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Ich wusste, wo sich dieser Typ wahrscheinlich aufgehalten hatte und wo Matt wohnte.
„Fahr einfach mal zu deinem Bruder und dann die ganze Strecke ab“, versuchte ich ihm bei seiner Fahrerei zu helfen. „Ich hab viel Zeit.“
Sam grinste bei dem Wort Strecke. „Was heißt hier Strecke? Das sind höchstens vierhundert Meter.“
Für was hielt er mich eigentlich? Ich kannte mich nicht im Straßenverkehr und nicht mit Autos aus, sowie mit Mathe. Was verlangte er von mir?
„Dann halt die paar Straßen. Du fährst einfach dahin wo du denkst, wo sie wohnen und ich korrigiere dich dann oder bin überrascht, dass du bei Menschen anscheinend auf jedes Detail achtest“, erklärte ich ihm meinen Plan für die nächsten zwanzig Minuten.
Er schüttelte hingegen sofort den Kopf und erzählte mir von seiner Version. „Nein. Wir fahren dahin, wo der Typ geparkt hat und wenn sie dort wohnen lass ich dich da raus und beweise, dass ich ein gutes Auge habe und wenn nicht, dann sagst du mir einfach wo sie wohnen, damit ich dich dort absetzen kann.“
Bis auf die Tatsache, dass ich nicht genau wusste, wo sie wohnten, klang seine Version eindeutig besser als meine.
„Oder so.“
„Stell dir mal vor, sie werden echt beobachtet“, gab Sam zu bedenken.
Ich vergrub den Kopf in den Händen. Bei der Vorstellung wurde mir schlecht.
„Jetzt würde ich mir wünschen, du lägest mit deiner Behauptung, dass der Junge aussieht wie die beiden, daneben“, stöhnte ich ausgelaugt.
„Wieso. Glaubst du mir jetzt etwa?“
Ich ließ meine Hände wieder sinken und sah ihn an. „Ich habe dir noch nie im Leben nicht geglaubt. Nur würde ich es mir für Kyran und Matt nicht wünschen.“
Er seufzte und atmete tief durch. „Das kann ich verstehen. Sei jetzt bitte ehrlich zu mir. Liegt dir was an einem der beiden?“
Ich schloss gequält meine Augen und stieß mir meinen Kopf zweimal hinten am Sitz. Das auch jeder sofort an etwas anderes dachte. Ich war es echt leid. Aber ich musste jetzt auf meine Worte aufpassen, schließlich wusste Sam nichts Genaues von Matt und so sollte es auch so lange wie möglich bleiben.
„Nein. Kyran ist ein guter Freund geworden und ein netter Mitschüler aber Matt kenne ich doch kaum.“
Es war komisch über eine Person zu erzählen, dass man sie nicht kannte, obwohl man guten Kontakt zu ihr hatte.
„Wieso triffst du dich dann mit ihm?“
Das war eine Frage, die ich nur ungern beantworten wollte, denn ich wollte ihn nicht noch mehr anlügen. Aber erstens hatte ich keine Wahl und zweitens wusste ich schon, was ich sagte. Das gleiche, dass ich Emma gestern erzählte.
„Er gibt mir Nachhilfe“, äußerte ich mich.
Er hob die Augenbrauen. „Ich hätte nicht gedacht, dass sich jemand aus Kyrans Familie dafür anbietet, oder generell einer“, sagte er verblüfft.
„Du würdest so einiges nicht denken …“, vermerkte ich.
Interessierend wandte er sich das erste Mal, seit wir fuhren, zu mir. Sein Interesse stieg von Sekunde zu Sekunde, bis er amüsant den Mund verzog.
„Zum Beispiel?“, fragte er genüsslich.
Anstatt mir über meine Antwort Sorgen zu machen, blieb mir die Luft weg und kam in einem vollen Lachen zurück, welches er teilte. Dann wurde das Lachen immer leiser, bis es verstummte. Ich hatte trotz allem immer noch ein Grinsen im Gesicht, welches ich nicht so leicht verbergen konnte. Durch das Gelächter hatten sich meine Wangenknochen verspannt.
„Frag Emma. Sie wird dir schon alles erzählen.“
Er schüttelte nur den Kopf, als hätte er es nicht anders erwartet. „Ihr und eure kleinen Freundschaften. Ich verstehe die Welt der Frauen nicht.“
Das war auch nicht die Welt der Frauen. Das war meine Welt.
„Wie kommst du darauf, ich würde in der Welt der Frauen leben?“
Er stieß mit seiner linken Hand das Lenkrad an. „Du hast recht. Du bist und bleibst ein Mädchen, mein Mädchen.“
Das hoffte ich seit ich ihn kannte. Sein Mädchen zu bleiben. Dennoch durfte ich das Wesentliche nicht vergessen.
„Wenn du früher oder später auch mal zulässt, dass ich mich in eine Frau verwandele, bin ich das gerne.“
„Ich verbiete dir nichts“, versicherte er mir.
Das war der Unterschied zwischen ihm und mir. Wenn er mir oder jemand anderem etwas versicherte, meinte er das ernst. Er spielte nicht. Ich hingegen, versicherte ihm alles Mögliche und es steckte nichts Ehrliches dahinter. Ein gutes Beispiel dafür war diese Autofahrt. „Dann ist ja gut.“
„In welchem Fach gibt Matt dir Nachhilfe?“, wollte Sam wissen.
„Geschichte“, sagte ich ohne zu zögern und versank dabei im Erdboden. Ich traute mich nicht einmal ihn anzuschauen. Geschichte war Sams Fach, nur Sams Fach. Er war Kursbester, Jahrgangsbester und Schulbester in diesem Fach. Aus unerklärlichen Gründen war für ihn alles in Geschichte einfach. Von der Urzeit über Kriege und das Mittelalter bis heute. Das war allein sein Revier. Und jetzt fiel ich ihm mit Matt und Kyran in den Rücken. Man konnte zwar sagen, dass die beiden aus eigener Erfahrung sprachen aber für Sam war Geschichte seine eigene Welt. Er liebte es, in die Vergangenheit zu blicken. Theoretisch hätte ihn dieses eine Wort so sehr aus dem Verstand gebracht, dass er vom Weg abkommen könnte und uns beide umbringen. Was für eine Erleichterung, dass wir uns noch auf der Fahrbahn befanden.
„Da hättest du doch auch zu mir kommen können. Du weißt ich bin ein Ass in Geschichte“, erinnerte er mich.
Ich wusste, dass er ein Ass war und gerade deswegen hatte ich mit einer anderen Reaktion gerechnet.
„Ja, das hätte ich, aber auf diese Weise lernt man neue Leute kennen“, sagte ich zu meiner Entschuldigung.
„Warum nicht Kyran?“
Das war eine gute Frage. Vielleicht, weil das nur eine Ausrede war um zu Matt zu kommen, den er nicht kannte, sondern nur Kyran. Um Matt mit einzubeziehen.
„Er wohnt mit Matt zusammen. Wenn Matt mir nicht weiterhelfen kann, springt Kyran für ihn ein“, erklärte ich ihm.
Er nickte verständlich. „Das versteht man wohl unter Brüderpower.“
Ich dachte sofort an David, seinen Bruder, und verglich beide miteinander. Eines stand auf jeden Fall schon mal fest. Das beide zusammen keine wirklichen Vorzeigebrüder waren, lag definitiv nicht an Sam.
„Jedenfalls unterscheidet sich ihre Brüderpower wesentlich von der zwischen deinem Bruder und dir.“
Es wurde still im Auto. Wir kamen an eine Ampel und blieben stehen. Während die Fußgänger über den Bürgersteig liefen, ließ Sam das Lenkrad los und verrenkte seine Finger so, dass sie knackten. Ich sah ihm tonlos dabei zu.
„Ich weiß, deshalb bin ich ja auch froh gewesen, als er ausgezogen ist. Zwischenzeitlich hat sich die Situation aber wieder gebessert. Jeder von uns hat genügend Freiraum für sich. So stören wir uns nicht gegenseitig und kommen uns nicht in die Quere. Mittlerweile überlege ich aber, ob ich nicht derjenige war, der ihn die ganze Zeit genervt hat und das er nur deshalb so aufbrausend war.“
Er setzte seine Hände wieder ans Steuer und fuhr sofort los, als die Ampel grün zeigte. Wortlos saß ich da. Ungläubig was ich da gerade gehört hatte und besonders, von wem. Hatte er seinen Bruder etwa gerade in Schutz genommen?
„Soweit lässt du es also kommen? Es ist ja super, wenn man die Fehler bei sich sucht, aber bei deinem Bruder würde ich das höchstens in letzter Verzweiflung machen.“
Aufgebracht starrte ich ihn an. Ok. Ich verstand, dass es auch nur fair war, wenn er mich anlog, so wie ich ihn die ganze Zeit über, aber nicht mit seinem Bruder. Nicht mit David! Er fing an, mir seine Sicht der Dinge zu schildern. „Aber es spricht irgendwie alles dafür. Seit David ausgezogen ist, ist er viel entspannter und ruhiger. Ihm fehlt nicht mehr viel auf dem Weg zum Geschäftsmann.“
Als ich vor gut einem halben Jahr erfahren hatte, dass David auszog, war ich außer mir vor Freude. Ich war froh, dass ich ihm nicht mehr begegnete, wenn ich zu Sam mitgekommen war. Das größte positive, das ich von ihm je gehört hatte war, dass er studierte und Geschäftsmann werden wollte. Was man von ihm, so wie ich ihn kennengelernt hatte, nicht gerade erwarten konnte. Wenigstens wagte er mehr und mehr einen Schritt in Richtung Vernunft und Verantwortung. Die Verantwortung, die er für Sam hätte haben sollen.
„Ist doch schön für ihn. Er steht auf eigenen Beinen und baut sich Stück für Stück seine Karriere auf. Was wollte er noch mal werden?“
Gespannt lauschte ich seinen Worten.
„Immobilienmakler“, erinnerte er mich.
Ich tat verblüfft. „Wow. So viel Kreativität hätte ich ihm gar nicht zugetraut, alleine schon, dass er auf den Job kommt“, verkündete ich zynisch, während Sam nur genervt von mir wegsah. Ihm zuliebe ließ ich mir den Ärger aber nicht mehr groß anmerken.
„Aber seien wir doch mal ehrlich. In dieser Gegend gibt es keine Luxusvillen“, meinte ich. Er nickte zustimmend. Wir waren inzwischen im Ort angekommen und fuhren nun Straße für Straße durch.
„Deshalb hat er ja auch hier eine Wohnung gemietet. Die Miete hier ist sehr billig und er will nur zum Übergang hier wohnen.“
Mich durchzog etwas Unangenehmes, als es mir in den Kopf schoss, David könnte wieder bei ihm einziehen. Das durfte nicht wahr sein.
„Und danach zieht er wieder bei euch ein?“, fragte ich und drehte mich nervös in seine Richtung.
„Nein“, gab er mir Entwarnung, „Als ich ihn letztens besucht habe, hat er mir erzählt, dass er, um seine Karriere zu fördern im Sommer, wenn er sein Studium abgeschlossen hat, die Stadt verlässt.“
Diese Erkenntnis teilte ich mit gemischten Gefühlen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was er mir da erzählte.
„Und du bist dir ganz sicher, dass wir hier von David sprechen!“, wollte ich mich vergewissern, aber er bestätigte es nur noch einmal.
„Ganz sicher.“
Verdutzt lehnte ich mich gegen den Sitz und starrte nur auf die Straße vor uns. Wenn das stimmte, war ein Wunder geschehen. Dann durfte man an alles Unnatürliche glauben, was man wollte.
„Er kommt mir vor, wie ein anderer Mensch. Dass man sich in so einer kurzen Zeit so sehr verändern kann und so viele große Entschlüsse fürs Leben treffen kann. Und nicht zu vergessen reden wir hier von deinem Bruder.“
Als ob mein Gerede für ihn nichts Neues wäre, starrte er gleichgültig nach vorn.
„Ich habe dir gesagt, ich habe den Verdacht, dass ich die ganze Zeit Schuld an seinem Benehmen hatte. Vielleicht habe ich ihn bei Arbeiten vom Lernen abgehalten oder sogar um eine Verabredung gebracht, wenn er sich von einem Mädchen mehr erhofft hat.“
„Aber selbst wenn, hätte er es dir doch auch sagen können, dass er jetzt keine Zeit für dich hat und hätte dich nicht so anschreien dürfen.“
Langsam fragte ich mich, ob ich hier die einzige war, die sich für sein Recht einsetzte. Dann schien es aber zu wirken. Er wurde sprachlos und schaute Sekunde für Sekunde immer verbitterter drein.
„Ähm, die Sache ist diese…“, verwundert über seinen zögerlichen Tonfall musterte ich ihn, „… Er hat mir tausendmal gesagt, dass er keine Zeit für mich hat aber ich habe nicht aufgehört ihn zu nerven.“
In mir drin bebte alles. Fassungslos sah ich ihn an. Ich brauchte erst etwas um mich zu sammeln.
„Moment mal. Heißt dass, ich habe dich seit Jahren in Schutz vor ihm genommen, habe schlecht über ihn gesprochen und habe ihn für ein Monster gehalten und es war gar nichts dran!“
Ängstlich blickte er mich an. Wie ich über dieses unerwartete Geständnis reagierte, bewegte in ihm wohl keine Freude.
„Also, es war etwas dran, aber ich war der Grund dafür und nicht er.“
Ich wollte es zwar verhindern aber mir blieb nichts anderes übrig. Wutendbrand setzte ich mich, soweit es möglich war, in seine Richtung und versuchte ihn mit meinen Blicken zu betäuben.
„Ist dir klar wie oft ich ihn mit elf Jahren an Karneval angeschrien habe, er solle dein Piratenschwert rausrücken?“
Dieser Satz weckte Erinnerungen. Er als unausstehlicher großer Bruder, der Sam einfach so sein Schwert wegnimmt. Vielleicht hörte sich das kindisch an, war es auch, aber bis heute war dieser Moment purer Ernst für mich gewesen.
Zu meinem Entsetzen schien ihn diese Erinnerung aber zu belustigen.
„Ja, da war ein Moment gewesen, in dem er Zeit für mich hatte, und aufgrund, dass ich Frauenbesuch hatte, wollte er mich so richtig dumm dastehen lassen. Schließlich bin ich wie ein Irrer eine halbe Stunde hinter ihm her durchs Haus gelaufen, um mein Schwert wiederzukriegen. Es hätte auch sicher länger gedauert aber du bist ihm ja zuvorgekommen.“
Während er erzählte, fing er an zu lachen. So sehr hatte er fasst noch nie gelacht.
„Sam, das ist nicht lustig!“, protestierte ich.
„Doch ist es!“
Voller Entsetzten erinnerte ich mich an die schlimmste Sache, die ich je einem Menschen zugefügt hatte.
„Ich habe ihn ins Bein gebissen!“
Strahlend sah er mich an. „Das ist es ja gerade. Als du weg warst meinte er zu mir, ich sollte dich mal zähmen. Aber du hast erreicht was du wolltest, er hat das Schwert sofort fallen gelassen. Mach dir keine Sorgen, er ist nicht nachtragend.“
Ich atmete tief durch. „Das wäre ja noch schöner.“
Plötzlich wurde das Auto immer langsamer, bis wir vor einem alten weißen Mehrfamilienhaus standen, welches, so gut wie jedes andere in der Umgebung, nach einem neuen Putz verlangte. Die Haustür war leicht angelehnt. Voller Ekel musterte ich das, was vor uns lag. Ich fragte mich allen Ernstes, was das sollte und wo wir waren. Matts Haus konnte es mit Sicherheit nicht sein. Sam klopfte an seine Fensterscheibe und wies mit seinem Finger auf den Eingang.
„Wenn du willst kannst du dich jetzt bei ihm entschuldigen.“
Also wohnte David hier? Da hatte er sich ja schön eingenistet. Unverzüglich wandte ich meinen Blick von dem verkommenen Haus ab.
„Ne lass mal. Ich mache das später“, trotzte ich.
Er konnte von mir doch nicht verlangen, dass ich, gerade wo ich die Wahrheit über David erfahren hatte, in der Lage war, ihm einen Besuch abzustatten und mich bei ihm zu entschuldigen. Bestürzt wartete ich darauf, dass der Motor wieder anspringen würde. Dann gab Sam zum Glück nach und fuhr wieder los. Doch die nächste Konfrontation ließ nicht lange auf sich warten.
„Ich will dich jetzt nicht fragen, was du als später bezeichnest aber für mich klingt das nicht nach, in ein paar Wochen.“
„Du hast doch gesagt, er ist nicht nachtragend.“
„Man kann aber immer auf Nummer sicher gehen und außerdem hast du doch gesagt, du hast genügend Zeit.“
Ich erkannte Sam nicht mehr. Seit sein kleines Geheimnis gelüftet war, stellte er meine bisherige Vorstellung, von der Welt zwischen ihm und seinem Bruder, völlig auf den Kopf. Ich fand es ja gut, dass sich David so sehr um seine Karriere bemühte und auch, dass er Sam damals wie heute ein guter Bruder war. Aber ihn von jetzt auf gleich wie einen Heiligen zu sehen, ging absolut zu weit.
„Aber nicht für ihn“, sagte ich prompt.
Er bog in eine Straße rein und wurde wieder langsamer, bis wir wieder standen. Ich fragte mich, was das sollte.
„Dann hoffe ich für diesen Platz“, verkündete er.
„Wieso halten wir?“
Er nahm seine Hände vom Lenkrad und ließ sie auf seinen Schoß fallen.
„Wir sind da. Genau hier saß der Junge und musterte die Häuser.“
Sofort sah ich mich um. Rechts neben mir war anstelle von Straßenpflaster Gras. Jetzt erst fielen mir die Bäume auf, die sich in einer Reihe durch die restliche Straße schlängelten. Als ich auf die andere Straßenseite rüber blickte, sah ich Charlene vor einem Einfamilienhaus stehen.
„Dort ist es“, sagte ich automatisch und zeigte mit meinem Finger auf das Haus.
„Was?“, fragte er.
„Dort wohnen sie. Kyran und Matt. Da steht Charlene.“
Ich wies auf sie. Er zündete wieder den Motor an und überquerte langsam die Straße. „Meinst du die Frau auf dem Bürgersteig?“, wollte er sich vergewissern.
„Ja, sie steht vor ihrem Haus.“
Sam verzog das Gesicht. „Etwa noch ein Stalker?“
„Charlene ist ihre Mom!“, fuhr ich ihn an.
Am liebsten hätte ich ihm dafür einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf versetzt aber vor Charlene wollte ich keinen falschen Eindruck erwecken. Er verteidigte seinen Bruder, ich Charlene.
„Oh, du wirst schon erwartet“, stellte er fest. „Dann würde ich vorschlagen, setze ich dich mal bei ihnen ab.“
„Tu das.“
Er hielt zentimetergenau vor ihr. Charlene strahlte mich durch die Scheibe an. Ich war froh endlich da zu sein. Das Haus und die Leute, die drinnen lebten, von diesen ging keine Gefahr aus. Eigentlich konnte man sagen, ich würde immer weitergereicht werden aber das machte mir nichts aus. Nicht so lange ich von den Menschen umgeben war, die mir wichtig waren und mit denen ich mich gut verstand.
„Danke fürs fahren.“
„Immer wieder gerne“, erwiderte er und kurbelte die Fensterscheibe herunter.
Ich gab ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange, nahm meine Tasche und stieg aus dem Auto. Charlene empfing mich mit offenen Armen.
„Hallo Charlene“, lächelte ich sie an.
„Hallo Katrin, schön dass du so schnell kommen konntest. Und du bist?“
Sie blickte zu Sam. „Ich bin Sam Coleman und bin mit Katrin im selben Kurs.“
Freundlich streckte er ihr die Hand aus, Charlene nahm sie ebenso gerne entgegen.
„Freut mich dich kennenzulernen Sam. Kyran hat deinen Namen schon des Öfteren erwähnt.“
„Ich hoffe nur in guten Zusammenhängen.“ Sam sah sie skeptisch an.
„In sehr guten“, bestätigte sie ihn.
„Hätte ich auch nicht anders erwartet.“
Sam und sein Charme. Eine der Sachen, weswegen ich ihn auf eine familiäre Weise liebte. „Seit wann?“, fragte ich ironisch und verschränkte die Arme.
Er und Charlene grinsten mich an. „Ist sie nicht ein nettes Mädchen“, sagte Sam.
Charlene nickte in meine Richtung. „Das Netteste, was ich außer meiner Familie kenne. Ich habe asiatisch gekocht, möchtest du was mitessen Sam?“
Traurig darüber, ihr Angebot abzulehnen, schüttelte er betrübt den Kopf. „Tut mir leid, aber meine Mom macht heute mein Lieblingsessen und sie kann es einfach am besten.“ „Tja, da kann man nichts machen“, meinte sie, und sie hatte recht.
Da konnte man wirklich nichts machen.
„Deine Mom kann überhaupt kein Sushi machen“, erinnerte ich ihn.
Sam hob die Hand zu mir um mich zu unterbrechen. „Aber das Ergebnis der Versuche schmeckt mir auch. Das ist sogar besser als normales Sushi.“
Ich rollte die Augen und ging einen Schritt zurück. Das er erst neulich den ganzen Tag im Bett verbracht hatte, nur weil seine Mom kein japanisch für Fortgeschrittene beherrschte, schien ihn nicht zu interessieren.
„Hauptsache der Mann ist bedient!“, sagte ich barsch.
„Ich würde mich an deiner Stelle mal schnell bedienen, denn sonst ist nichts mehr da“, erwiderte er.
„Keine Sorge, ich mache sowieso immer zu viel“, versicherte Charlene.
„Na dann, guten Appetit.“
„Danke, dass du sie gefahren hast.“
Er winkte ab. „Das mache ich nicht zum ersten Mal und bestimmt nicht zum letzten. Ihr fehlen zur Selbstständigkeit noch ein paar Monate und ein Auto. Fahren kann sie ja schon.“ Für diese Worte, hätte ich ihm eine reinhauen können. Der erste Schultag nach den Ferien. Wie konnte man das so schnell vergessen. Mit einer Handdrehung sprang der Motor an. Als Sam abfuhr lag ihm dieses eine Lächeln im Gesicht. Einige fanden es unwiderstehlich, andere Nerv tötend. Ich ärgerte mich darüber aber auf eine positive Art. Kaum brummte der Motor auf, wandte sich Charlene kurz zu mir.
„Geh schon mal rein. Du findest Shaynia in der Küche.“
Sofort ging ich auf die offene Haustür zu, mit dem letzten Blick nach hinten winkte sie Sam hinterher.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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