Meike Schäfer

Alvarez-Der Schwur-10.Kapitel-Geborgen-Seite 202-223

So komisch, dass ich, als ich zu Victoria ins Wohnzimmer stieß, anfing zu lachen. Sie legte sofort ihr Buch auf den Tisch und schob sich ein Stück Haselnussschokolade in den Mund, welche in einer kleinen Verpackung auf dem Tisch lagen und von der schon mindestens die Hälfte weg war.
„Na? Bist du von Shaynias Künsten so begeistert, dass du es fast selbst nicht glauben kannst?“
„Genau“, meinte ich ironisch, „Aber sie kann wirklich toll zeichnen!“
„Wo sind denn ihre, oder besser gesagt, deine Meisterwerke?“, fragte sie.
„Liegen oben. Ich zeig sie dir morgen.“
Ich setzte mich auf die andere Couch und sah der Schokolade entgegen.
„Schokolade hilft doch gegen Sorgen, oder?“
„Ja.“
Ich nahm mir vier Stück und kaute genüsslich auf ihnen herum.
„Hast du etwa Sorgen“, hakte sie nach.
„Naja“, meinte ich, als ich fertig gekaut hatte. „Matt kann manchmal schon anders sein, als erwartet.“
„Tja, für ihn ist es auch eine Menge Arbeit. Es ist sicher nicht leicht, jemandem rund um die Uhr im Kopf zu schwirren und es allen recht zu machen.“
Verdutzt sah ich sie an. Wie konnte sie nur? Gut, ich hatte ihr nicht die ganze Geschichte von heute erzählt aber warum nahm sie ihn in Schutz? Kannte sie etwa Shaynias Bekanntschaft mit der Folter noch nicht?
„Victoria! Ich muss ihm mein Leben anvertrauen können!“
„Das weiß ich ja und deshalb bin ich auch ganz stolz auf dich“, rechtfertigte sie sich. „Einige Menschen leben neunzig Jahre und haben davon siebzig belanglos und locker durch gelebt. Du bist gerade mal fünfzehn und erfährst eine irritierende Sache nach der anderen, dazu kommt, dass du im Moment kein Privatleben mehr hast, obwohl du nicht einmal berühmt bist. Ich bin froh, dass du bis jetzt noch in die Schule gehen konntest. Das ist zurzeit die einzige normale Tätigkeit, die du machst.“
Hatte ich gerade richtig gehört? Ich konnte froh sein, dass ich bis jetzt noch in die Schule gehen konnte? Konnte ich es in Zukunft wohl nicht mehr, oder was?
„Was meinst du mit, dass ich bis jetzt noch in die Schule gehen kann?“
„Das ist nicht ernst gemeint“, wich sie meiner Frage aus und nahm sich ein Stück Schokolade.
„Das denke ich aber schon.“
Nervös nahm sie sich ein weiteres Stück, bevor sie das vorherige überhaupt runtergeschluckt hatte und stopfte es sich in den Mund.
„Es ist noch zu früh um darüber zu reden“, grunzte sie.
Langsam begriff ich, dass sie mir all die Jahre einen Gefallen gemacht hatte, indem sie, anstatt die kleinste Andeutung, lieber alles verschwiegen hatte, was mit meinem Dad zu tun hatte. Denn es war noch viel unerträglicher, Andeutungen zu machen und ihren Hintergrund nicht zu erklären. Warum erzählte sie mir dann überhaupt davon, wenn sie mit mir nicht darüber sprach? In dem Fall, musste ich, zu meinem Übel, Matt sogar loben, dass er mir zumindest alles, bis aufs kleinste Detail erklärte und mich nicht im Dunkeln tappen ließ. Zwar nicht bei allem aber ich wollte glauben, dass das mit Shaynia vorhin kein alltäglicher Vorfall war. Und ich tat es schließlich auch, denn sie log mich nicht an.
„Weißt du was komisch ist? Sobald Matt anfängt mir irgendwelche Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen, fängt er immer mit, besser jetzt als nachher, wenn es schon zu spät sein kann, an oder, Victoria sollte es dir besser erzählen aber bevor es zu spät ist sage ich es dir lieber. Alles was ich bisher weiß habe ich von ihm. Nicht nur über deine Welt, die du mir eigentlich zeigen solltest aber seien wir mal ehrlich. Du hast mir noch nie etwas über unsere Hintergründe verraten. Vielleicht hättest du ohne die Cabots noch nicht einmal gewusst, dass Tyrece in der Nähe ist oder überhaupt existiert. Aber der absolute Höhepunkt ist, was eine gute Mutter eigentlich ausmacht, du hast mir noch kein einziges Wort über meinen Dad gesagt! Das einzige was ich von ihm weiß ist seine Vergangenheit und rate mal wer mir die erzählt hat?“
Ich spürte eine Träne an meiner Wange herunter kullern. Meine Augen waren feucht, das hatte ich vorher gar nicht bemerkt. Ich wollte mir schnell noch ein weiteres Stück Schokolade holen aber ich ließ es lieber. Nachher vertrug ich es nicht, auf das, was mir bevorstand.
„Ich nehme an Matt“, sagte Victoria kleinlaut.
In ihrer Stimme lagen Angst, Angst und Panik vor Misserfolg. Davor, dass sie an dem Punkt wieder an mir gescheitert war. Ich kannte sie sehr gut, besser als sie dachte. Sie bereute jetzt sicher, dass sie mir überhaupt etwas gesagt hatte.
„Genau und nicht du!“
Ich hasste es, zu weinen. Vor allem die Kopfschmerzen, die man in den meisten Fällen danach bekam. Aber dieses Mal hasste ich die Verursacher noch mehr. Sie, Matt und mich, aber vor allen Dingen Matt. Ich hasste ihn dafür, dass er Shaynia so angeschrien hatte, mich dafür, dass ich ihm nicht böse sein konnte, obwohl es mein sehnlichster Wunsch war und Victoria dafür, dass sie mir nicht sagte, was an ihrer Andeutung dran war. Das gab mir für heute den Rest. Wutendbrand rannte ich, das Gesicht überflutet von Tränen, die Treppe hoch, flehend, dass sie mir nicht folgte. Heute wollte ich mit ihr gar nichts mehr zu tun haben.
Kurz nachdem ich den Arm zu meiner Zimmertür streckte, hörte ich das eben noch ersehnte Klicken des Schlosses. Schritt für Schritt überquerte ich den Flur und blieb kurz vor der Treppe stehen. Gerade aus dem Blickwinkel, wo ich erkennen konnte, wer an der Tür stand. Den ganzen Körper sah man nur schlecht, trotz der Türbeleuchtung aber die Umrisse sagten mir schon alles. Es war Charlene Cabot. Sie ging auf Victoria mit offenen Armen zu, währenddessen hörte man von ihr ein Piepsen. Als ich genauer hinschaute, war auch ihr Gesicht voller Tränen, aber das ließ mich völlig kalt. Von innen wie von außen zeigte ich keinerlei Emotionen. Erst als hinter Charlene noch ein Körper sichtbar wurde.
Der hatte mir gerade noch gefehlt!
Zuerst musterte Matt Victoria und Charlene, dann traf sein Blick auf meinen. Er wirkte nicht fröhlich, was in dieser Lage niemand gewesen wäre, aber auch nicht sauer oder verärgert. Sofort drehte ich mich um und stürmte zurück in mein Zimmer. Ich hörte ihn noch meinen Namen rufen. Dann schloss ich die Tür. Ich wollte allein sein aber auch das er hinter mir her rannte und versuchte an mich heranzukommen, obwohl ich immer noch versuchte, sauer auf ihn zu sein. Aber es wollte einfach nicht klappen, also entschloss ich mich, es aufzugeben, gerade in dieser Situation. Die Türklinke zog sich nach unten und wieder rauf. Nach wenigen Tritten schrie er nochmal, dann war kurz Stille. Wie gebannt musterte ich den dunklen Fleck zwischen den hellen unter der Tür. Er bewegte sich nicht. Erst als die Tür mit zwei weiteren Tritten auffiel, vergrößerte er sich und kam auf mich zu. Ich klammerte meine Arme an seinen Rücken, den Kopf vergrub ich in seinem Pullover. Ich wollte nur, dass er noch blieb und dass er von sich aus blieb. Er legte sein Kinn vorsichtig auf meinem Kopf ab, umfasste mit einer Hand meinen Rücken und fuhr mir mit der anderen ruhig durch die Haare. Seine Anwesenheit und sein ständiges Mitgefühl taten mir gut. Ich weiß nicht was ich gemacht hätte, wenn er nicht auf die letzte Sekunde erschienen wäre.
„Beruhig dich! Es ist nur deine Mom, keiner mit dem du jetzt einen Streit aufbauen solltest.“
„Ich scheiß im Moment auf deine Sprüche! Du weißt nicht was sie mir angetan hat.“
Ich riss mich von ihm los und trat einen Schritt zurück um einen gewissen Abstand von ihm zu haben. Er wich jedoch nicht ebenfalls zurück, sondern folgte mir mit seinem Blick. Er wollte mich nicht fallen lassen. Mich nicht aufgeben. Aber ich war so betroffen, als das ich es ihm anerkennen konnte.
„Aber ich weiß, egal wie schlimm es jetzt auch immer für dich ist, das was Tyrece dir antun will ist tausendmal schlimmer.“
Ich mochte Matt sehr und brauchte ihn, zu meinem Ärger, jetzt mehr denn je, aber für sein Gerede hatte ich keine Nerven mehr. Nicht heute! So schwer es mir auch fiel ihn gerade jetzt loszulassen, mir blieb keine andere Wahl. Doch es half nichts. Als ich ihm noch mehr versuchen wollte zu entweichen, hielt er meine Arme umklammert. Nach weiteren Versuchen, mich von ihm zu lösen, hing er immer noch an mir, bis er meine Hände los lies und stattdessen meinen Kopf umklammerte.
„Katrin, sei doch vernünftig! Deine Mom hat dir dein Leben geschenkt und Tyrece will es dir wegnehmen. Es mag komisch klingen aber nach langer Lebenserfahrung kann ich dir sagen, es bekommt nicht jeder die Chance zu leben. Klar, dein Leben unterscheidet sich von dem Leben anderer aber du lebst!“
Mit der Kraft, die mir von heute noch geblieben war, versuchte ich erneut seine Hände von mir zu lösen, dieses Mal mit Erfolg. Dabei ließ er freiwillig los und plante auch keinen erneuten Kontakt.
„Besser kein Leben als dieses zu haben!“
Ich ging auf mein Bett zu und wurde von ihm praktisch eingeladen, mich hinzusetzen. Meine Zuflucht nahm ich sofort in die Hand. Das Foto auf meinem Nachttisch, das Emma, Sam und mich zeigte. Todd Campbell hatte es zu Beginn des neuen Schuljahres geschossen. Kaum hatte ich das Bild in der Hand, ging ich wieder auf Matt zu, um es ihm erneut zu präsentieren. Dazu hielt ich es ihm vors Gesicht bis er es mit einer Hand entgegennahm. Wie immer verriet seine Mimik nichts, nur seine Worte brachten Licht ins Dunkle.
„Das ist sehr schön. Wann wurde das gemacht?“
„Am Schuljahresbeginn“, sagte ich.
„Was hast du gedacht, als das Foto gemacht wurde?“, erkundigte er sich.
Ich rieb mir die Stirn. „Ich weiß nicht. Meine Freunde sind die Besten?“
Plötzlich drehte er den Rahmen um und fing an die Klammern, die das Foto befestigten, zu lösen. Er nahm das Holz und das Bild heraus und trennte es voneinander, so dass er die Rückseite des Fotos vor Augen hatte. Dort stand ein Satz von Sam geschrieben. Die Schrift war etwas krakelig geschrieben, die drei Unterschriften darunter dafür etwas vorzeigbarer. Matt las vor. Auf  ein neues Schuljahr. Darauf, dass es das aufregendste und spannendste seit eh und je wird.“
Als danach nichts mehr kam und er das Bild nur weiterbetrachtete brachte ich ihn selbst dazu mich aufzuklären.
„Und was ist daran so besonders?“
„Du wolltest es aufregend und spannend haben, das hast du jetzt. Es geht dabei nur nicht um die Schule aber privat ist es doch immer besser.“
Er puzzelte das Bild und den Rahmen wieder richtig zusammen und drückte es mir in die Hand.
„Der Spruch sollte aber auf uns drei bezogen sein. Das hier geht nur mich was an“, rechtfertigte ich mich und brachte das Bild an seinen Platz zurück, auf den Nachttisch.
„Emma weiß zumindest schon, dass deine Vorfahren Zauberer waren. Das einzige, das sie schockieren könnte wäre, wenn sie erfährt, das du in Lebensgefahr bist aber Mädchen wie sie regen sich normalerweise nach zehn Minuten wieder ab.“
Während ich mich zu ihm richtete musste ich stocken. „Zehn Minuten! Bis dahin kann das Haus schon zerstört sein.“
Gleichgültig fing er meinen Blick auf. „Das ist nicht mein Problem!“
„Aber meins oder wie?“
„Es war deine Entscheidung so lange ein Geheimnis daraus zu machen aber du kannst beruhigt sein. Sam wird es schon eher verkraften als Emma.“
Sollte das etwa ein schlechter Scherz sein? Lieber tat ich alles andere in der Welt, als Sam von allem zu erzählen. Die Chancen standen sehr hoch, dass ich danach keinen besten Freund und keinen Halbbruder mehr hatte. Würde ich ihm das erzählen, würde ich Hochverrat begehen.
„Wieso sollte ich ihm davon erzählen?“
„Der Spruch sollte doch auf euch drei bezogen sein. Obwohl Chris nicht auf dem Foto zu sehen ist - aus welchem Grund auch immer - würde ich ihm nichts davon erzählen. Du weißt ja, er und sein Horror.“
Als ob ich mich vor ihm für Chris rechtfertigen musste. Er und ich waren noch nicht einmal richtige Freunde. Unsere einzige richtige Gemeinsamkeit waren, das wir in einem Kurs waren und unsere Freundschaft zu Sam. Wir waren schon befreundet aber nur nebenbei.
„Zuerst mal war Chris nicht auf dem Foto, weil er keine Lust auf ein neues Schuljahr hatte -wie eigentlich immer- , sich seinen Frust durch Horror und Thriller runter geguckt hat und erst gegen Nachmittag aufgewacht ist und das nur, weil Sam nach der Schule zu ihm gefahren ist und ihn wortwörtlich aus dem Bett geschmissen hat.“
Ich legte eine Pause ein. Für einen erneuten Wortwechsel mit ihm reichte meine Energie nicht mehr.
„Und was kommt als nächstes?“
Als nächstes würde ich ihn aus meinem Zimmer schmeißen, mich in mein Bett legen und einfach nur gedankenlos einschlafen. Am nächsten Morgen wie gewöhnlich in die Schule gehen und nachmittags mit meinen Freunden in Kells etwas unternehmen oder für die Schule lernen. Vielleicht auch im Haushalt helfen. Und das eine ganze Woche lang, ohne wenn und aber. Eben die Sachen, die ein normaler Mensch als Alltag bezeichnete und um die ich jeden einzelnen beneidete.
„Emma und Sam sind wie Victoria gesagt hat, das einzige Normale mit dem ich mich abgebe und ich will, dass sie auch vom Benehmen normal bleiben. Sie sind meine Freunde, normale Freunde und ich will nicht das sie sich verändern.“
Er wagte einen Schritt auf mich. „Das habe ich auch nicht von dir verlangt. Übrigens. Du hast eben Victoria recht gegeben.“
„Ich weiß“, gestand ich mir ein.
„Dann ist sie also doch keine schlimme Mom“, versuchte Matt mir einzureden.
Je näher er kam, auch wenn es nur Zentimeter betraf, wurde mir klar, dass es mir nicht viel brachte, mir selbst was vorzumachen.
„Sie ist die beste, die man sich in meiner Lage vorstellen kann.“
Auch wenn sie ihre Macken hatte, für die ich sie des Öfteren hasste aber sonst wäre sie nicht Victoria. Sie existierte ohne ihre Fehler nicht. Auch wenn sie von diesen zu viele machte.
Matt nahm sanft mein Kinn in die Hand, so dass ich gezwungen war den Kopf auf Dauer hochzuhalten.
„Auch wenn es dir schwerfällt mir zuzuhören, nimm noch einen Tipp von mir an. Vergiss den Streit von heute und rede am besten nie wieder darüber. Was jetzt zählt ist deine Familie und Freunde. Du musst dich, so wie du dich hoffentlich auf mich verlässt, auf  jeden einzelnen von ihnen verlassen können und das beruht auf Gegenseitigkeit. Jede Person aus deiner Familie und Schule kann dir Schutz bieten.“
„Wieso jeder?“
„Weil Tyrece so diskret wie möglich vorgeht. Er würde sich nie trauen dich anzurühren wenn du in Begleitung bist. Es soll keine Zeugen geben und keine vermissten Personen.“ Plötzlich wollte ich von alledem nichts mehr wissen. Ich brauchte wieder einen klaren Kopf. Mir gingen diese Diskussionen, die letztendlich zu nicht führten und diese Rumhetzerei tierisch auf die Nerven. Victoria, Schule, Victoria oder Matt, Victoria, Victoria, Schule, Matt oder Victoria … Dieses Konzept ging schon fast zwei Wochen so und mir schwirrte der Kopf davon. Ich wollte das alles nicht mehr und ich brauchte eine Auszeit. Fragte sich nur, ob sie mir von Matt gewährt werden würde.
Ich löste seine Hände erneut von mir und wischte mir die Tränen schnell weg. Ich glaube in dieser Angelegenheit war er am schwersten von allen zu überzeugen.
„Matt, kann ich vielleicht bei euch übernachten, bitte?“ Meine Stimme bebte.
Ich hoffte nur, dass er einwilligte.
Er fuhr sich durchs Haar und schnappte nach Luft. Dann ging er einige Schritte wild herum und runzelte die Stirn, bis er sich mir wieder zuwandte. Mein Herz pochte bis zum Hals. Entweder brachte er dafür überhaupt kein Verständnis auf oder gab nach.
„Und was ist morgen? Du hast Schule.“
Ich atmete beruhigt auf. Die Regelung mit der Schule war mein geringstes Problem.
„Einer von euch könnte mich doch fahren und wieder abholen.“
„Abholen auch noch? Wie lange hast du denn vor, bei uns zu bleiben?“, heuchelte er.
„Ihr habt mich doch eigentlich immer abgeholt.“
Er hob die Augenbrauen. „Wie recht du hast.“
Meine Augen spiegelten das Wort bitte dar, und ich hoffte, dass es bei ihm ankam. Wenn ich nur einmal in meinem Leben die Möglichkeit hätte, dass mir jemand etwas erlauben würde, dann würde ich es jetzt einlösen. Auch wenn es ziemlich leichtsinnig war, aber ich konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, noch eine weitere Stunde mit Victoria unter einem Dach zu verbringen.
Nach einer guten Ewigkeit des Grübelns hatte er sich entschieden.
„Pack eine Tasche mit Schlafsachen und nimm deine Schulsachen mit. Wir warten im Auto auf dich.“
Verblüfft starrte ich ihn an. Ich hatte jetzt mit einer kleinen Diskussion gehofft und mir geistig schon alle Pro-Argumente notiert. Dass er allerdings sofort eine Entscheidung fiel und das ohne die Zustimmung von seiner Mom, die sich auch noch im Haus aufhalten musste, überraschte mich sehr.
„Ist das dein Ernst? Und was ist mit deiner Mom? Sollte sie nicht auch zustimmen?“
„Ich bin der, der auf dich aufpasst. Schon vergessen?“, entgegnete er mit einem kühlen Lächeln.
Dann trat er aus dem Zimmer und machte sich mit den Worten: „Beeil dich!“ die Treppe hinunter.
Ich zögerte keine einzelne Sekunde um seinen Worten nachzugehen. Aus dem Schrank nahm ich schnell Klamotten für in die Schule und steckte sie in einen grauen Beutel, den ich unten in einer Ecke des Schranks fand. Er diente wahrscheinlich irgendwann mal für ein Zelt. Ich nahm mir alle Schulbücher, die ich für den nächsten Tag brauchte und tat sie in meine Tasche. Dann stellte ich den Beutel und die Tasche vor das Badezimmer und stopfte die nötigsten Utensilien in meine Kosmetiktasche. Die Kosmetiktasche quetschte ich noch mit in den Beutel und hechtete mit ihm und der Tasche nach unten, zog mir schnell Schuhe an und schnappte mir die Lederjacke, bevor ich das Haus verließ und zu Matts Auto rannte. Erst als die Haustür hinter mir zuschlug bemerkte ich, dass ich in meiner Hetzerei Victoria gar nicht begegnet war. Ich wusste nicht, ob sie am Esstisch oder auf der Couch rumlungerte, ich an ihr vorbeigerannt war oder sie sich schon hingelegt hatte. Aber ich wollte versuchen, zumindest heute nicht mehr an sie zu denken. Vielleicht schlief ich dann ja auch einigermaßen gut und musste nicht mitten in der Nacht aufwachen und mir die Frage stellen, wo ich war, wenn alles fremd sein würde.
Charlene stand am offenen Kofferraum, um mein, wenn auch kleines Gepäck entgegenzunehmen. Sie nahm vorne auf dem Beifahrersitz Platz und ich setzte mich nach hinten. Matt fuhr sofort los, als alle Türen geschlossen waren und beschleunigte den Wagen, als wir die Straße verließen. Charlene meinte, sie müsste sich rechtfertigen, warum nicht sie am Steuer saß, sondern ihr ältester Sohn.
„Normal mag ich es ja nicht im Auto zu sitzen, wenn meine Kinder am Steuer sind, besonders nicht bei den Jungs, aber ich finde zu solch einer späten Stunde ist das wohl notwendig. Gerade wenn man bedenkt, dass du schon längst im Bett sein solltest und morgen Schule hast. Ich würde mich nämlich nie trauen so schnell zu fahren“, erklärte sie, worauf ich von Matt aus dem Rückspiegel nur ein schiefes Grinsen vernahm.
Wir waren recht schnell bei ihnen. Sofort als wir stillstanden, stieg er aus und machte sich an mein Gepäck. Charlene wünschte mir noch schnell gute Nacht und beantwortete mir meine fragliche Miene nach meinem Nachtquartier mit den Worten: „Einfach Matthew nach.“
Da nur sie und Mr. Cabot ihn Matthew nannten und ich ihn eigentlich nur als Matt kannte, zuckte ich immer leicht zusammen, wenn sie den Anhang mit aussprach. Aber es störte mich nicht weiter. Schließlich wurde mir auf den letzten Metern noch leicht bange, wo ich die Nacht verbringen würde. Ich hatte keine besonders hohen Ansprüche, und gerade, weil es so kurzfristig war. Wir gingen den berühmten Korridor lang und ich rechnete schon mit dem schlimmsten. Sollte ich etwa mit einem der drei das Bett teilen? Nein … das durfte eigentlich vollkommen ausgeschlossen sein. Oder etwa doch nicht? Schließlich gingen wir an Shaynias und Kyrans Zimmer vorbei ohne zu halten. Als er zwischen zwei Türen hielt, demnach seiner und rechts einer mir noch fremden, war klar, wo ich die Nacht verbringen würde.
„Du bekommst Keiras Zimmer. Das ist echter Luxus.“
Er öffnete die Tür, machte das Licht an und schickte mich vor, wie er es auch beim Kennenlernen von Mr. Cabot tat. Die Wände waren alle in einem zarten Lavendel gestrichen, die Decke und der Teppich, der sich über den ganzen Boden ausbreitete, in cremefarben. Von der Mitte der Decke hing eine Art Kronleuchter, dessen Steine wie Kristalle funkelten, sodass man nicht erkennen konnte, wovon das Licht kam. Ich nahm nicht alles wahr, nur das wesentliche. Zwei Fenster auf der linken Seite, zwischen denen ein riesiger Spiegel hang, neben mir an der Wand ein dunkler Schrank, der das mit Abstand dunkelste in diesem Raum war. Rechts ein kleines weißes Regal mit Büchern und daneben ein riesiges Bett, dass schon von weitem zum schlafen einlud.
„Wow“, brachte ich nur heraus.
„Ja“, bestätigte er mich und legte meine Sachen auf dem Regal ab. „Obwohl sie ziemlich erwachsen ist, taucht in ihr trotzdem noch manchmal das kleine Mädchen auf.“
Da hatte er aber unrecht. Das Zimmer ähnelte keinem kleinen Mädchen. Dazu fehlten die pinken Wände und die Puppen. Normalerweise hätte das auch mein Zimmer sein können, hätte es doch nicht diesen Tick altmodisches. Bevor ich ihn vom Gegenteil überzeugen konnte, hatte er schon eilig das Zimmer verlassen.
„Mach dich jetzt endlich fertig. Es ist spät! Das Bad ist direkt rechts.“
Dann verschwand er, aber nicht in sein Zimmer, sondern die Treppe herunter. Für einen Moment vergaß ich, dass er ja nicht mehr in die Schule ging und dass er sich das erlauben konnte … Ganz im Gegensatz zu mir.
Sofort machte ich mich bettfertig und putzte mir noch schnell die Zähne. Dann machte ich die Tür zu und kuschelte mich in ihr gemütlich flauschiges Bett. Mehrere Decken, ob dick oder dünn, aus unterschiedlichen Stoffen umgaben mich, sowie jede Menge Kissen. Auch wenn ich es nie im Leben für möglich hielt, dass man es wirklich wörtlich nehmen konnte, schlief ich wie als würde ich auf einer Wolke schweben. Es war zwar keine gewöhnliche, strahlendweiße Wolke. Ich wusste nicht wie sie aussah aber ich wusste, ich fühlte, dass sie anders war.
Dennoch schlief ich in dieser Nacht so gut, obwohl ich spät ins Bett gegangen war, dass ich, als mich Shaynia aufweckte, ohne mit der Wimper zu zucken aufstand und mich für die Schule fertig machte. Charlene respektierte, dass ich keinen großen Hunger hatte, gab mir dennoch heiße Schokolade zu trinken und stellte mir ein kleines Lunchpaket zusammen, falls es in der Cafeteria nichts mehr gab, was nicht passieren würde, aber ich fand ihre Geste sehr nett. Kyran fuhr mich zur Schule und holte mich auch wieder ab. Auf die Frage, wie es denn gelaufen sei, hatte ich keine Antwort, die einen normalen Menschen zufriedenstellte und manche sogar schockierte.
„Ich weiß nicht. Ich habe darauf eigentlich nicht geachtet.“
Das stimmte. Ich war mit meinen Gedanken weit weg gewesen, hatte sogar Emma ignoriert, obwohl sie meine Aufmerksamkeit am nötigsten brauchte. Zu meinem Glück fuhr er mich nicht nach Hause, sondern direkt zu ihnen. Den Nachmittag verbrachte ich nur mit Hausaufgaben. Diesmal kniete ich mich sogar richtig rein und am Schluss bemerkte ich, dass ich so viel Zeit noch nie in Hausaufgaben gesteckt hatte. Gegen Abend lud mich Matt zu einem kleinen Spaziergang ein um mit mir die jetzige Lage zu besprechen. Ihm war es sehr wichtig, dass ich mich mit Victoria wieder versöhnte und ich versuchte ihm klar zu machen, dass ich, auch wenn es jetzt sehr komisch klang, Zeit für mich brauchte. Damit waren keine Monate oder Wochen gemeint. Vielleicht ein paar Tage. Vorerst das Wochenende. Nach einem kurzen Gespräch überredete ich ihn zumindest den Rest der Woche bei ihnen zu bleiben. Als Mr. Cabot von der Arbeit kam, brachte er noch eine größere Tasche, extra für mich mit. Er erzählte, dass er auf dem Rückweg bei ihr vorbeigekommen sei und sie ihm Sachen für mich für die folgenden zwei Tage mitgegeben hatte. An dem Abend ging ich sehr früh ins Bett. Ich war nicht müde aber mein Gefühl sagte mir, dass das Wochenende sicher nicht so werden würde, wie ich es gewohnt war … Und diese Vermutung traf auch ein, allerdings im positiven Sinn.
Nach dem Aufstehen machte ich mich schnell fertig, duschte mich kurz und zog mir Hose und Pullover an.
Als ich herunterkam wirkte alles wie ausgestorben. Ich fragte mich nur, wo alle waren. Plötzlich hörte ich Geknister aus dem Esszimmer und erblickte, als ich im Türrahmen stand, Charlene Cabot, neben ihr auf dem Tisch ein altes verschmutztes Laken und darauf ein dutzend dünner Äste. Alle in ungefähr der gleichen Länge, vielleicht etwas mehr als ein Meter. Sie trug abgetragene Handschuhe, extra für die Gartenarbeit, und eine gepolsterte Winterjacke.
Als ich näher trat und sie mich bemerkte, lächelte sie. „Guten Morgen. Ich hätte nicht damit gerechnet, dich so früh hier anzutreffen. Victoria sagte mir, du schläfst gerne etwas länger.“
Ich grinste. „Deshalb bin ich gestern auch so früh eingeschlafen. Wo sind die anderen?“ „Lucan und Shaynia sind außer Haus, Matt treibt sich, soweit ich weiß, in Lucans Arbeitszimmer herum und Kyran schläft noch.“
Sie fragte mich, ob ich ihr behilflich sein wolle, das Haus ein wenig zu verschönern und ich willigte sofort ein. Sie nahm etwa vier Äste in die Hand und bog sie so, dass sie einen Kreis ergaben. Mit einem kleinen Draht, der auch auf dem Tisch lag, legte sie die beiden Enden übereinander und befestigte sie, während ich alles festhielt. Dann zog ich mich wettermäßig an, und wir sammelten draußen buntes Herbstlaub, Blätter, die noch nicht zu ausgetrocknet waren und teilweise wunderschöne Farben besaßen. Nach knapp einer Stunde hatten wir einen ganzen Sack voll. Wir streuten die Blätter auf den Tisch und verteilten sie gleichmäßig, um einen klareren Überblick zu haben. Dann suchten wir die heraus, die noch einigermaßen unbeschädigt waren und legten sie auf einen eigenen Platz. Wir setzten uns, und ich bekam von ihr eine längere Kordel, mit der ich immer fünf Blätter übereinanderlegte und sie an den Ästen befestigte. Es war eine sehr aufwändige Arbeit aber das Ergebnis konnte kein Geld der Welt ersetzten. Charlene hatte ihren eigenen Herbstkranz gemacht und befestigte am Schluss an beiden noch ein Stück Schnur, sodass man sie aufhängen konnte. Da die Haustür aus Glas war, hing sie ihren Kranz in die Küche und lehnte meinen daneben an die Wand. Aus den restlichen Blättern bastelte sie Behälter für Teelichter und wollte zum Schluss noch einige Blätter als Wanddekoration verwenden, die sie aber zurücklegte, da sie meinte, niemand bekäme es besser hin als Shaynia.
Als sie aufräumte, bekam ich den Auftrag, Kyran zu wecken. Ich stellte es mir sehr spaßig vor, einen Jungen aus dem Schlaf zu reißen, obwohl auf der anderen Seite ja auch die Wut war, dass man aus dem Schlaf gerissen wurde. Ich sprach aus einiger Erfahrung, aber so lange hatte ich selbst noch nie geschlafen.
Auf dem Weg kam mir plötzlich Matt entgegen, die Tür zum Arbeitszimmer stand offen. „Morgen“, begrüßte er mich.
„Morgen“, gab ich gut gelaunt zurück.
„Wohin gehst du?“, fragte er verwundert und sah mir nach.
„Ich habe den Auftrag bekommen, deinen Bruder aufzuwecken.“
Überrascht hob er die Augenbrauen, dann schmunzelte er. „Na dann mal viel Erfolg. Normalerweise rastet er immer aus, wenn ihn jemand von uns weckt aber wer weiß … vielleicht macht er bei dir ja eine Ausnahme.“
Ich entgegnete seinen Worten mit einem Lächeln, was nicht mal ironisch war. Zwar standen die Chancen sehr groß, dass er einen Aufstand machte aber schlimmer als bei David Coleman, Sams Bruder, konnte es sicher nicht werden.
Ich huschte die Treppe hoch und klopfte, ohne zu zögern, gegen seine Tür. Als kein Laut kam, klopfte ich nochmal.
Zuerst kam ein leises Knurren, dann rief er gequält: „Was?!“
Ich musste kichern, denn ich konnte mir exakt vorstellen, was sich hinter dieser Tür abspielte. „Ähh, deine Mom hat gesagt, ich soll dich wecken.“
„Das ist dir auch gelungen!“, rief er verärgert.
„Gut“, entgegnete ich.
Ich wollte gerade wieder runtergehen, als ich bemerkte, dass Shaynias Zimmertür, gegenüber von mir, offen stand. Darauf hatte ich auf dem Weg zu ihm wohl nicht geachtet. Ich wollte sie wieder schließen aber dann, als ich die Klinke bereits umgriffen hatte, überwältigte mich die Neugierde und ich trat zögernd in ihr Reich.
Ihr Zimmer war ein absoluter Traum, für Mädchen und Frauen, wenn auch elegant und etwas leer gehalten. Die Wände waren cremefarben, wie der Boden in Keiras Zimmer und ihre Decke wurde von dunklen Ranken überquert, die sich ungehindert über das ganze Zimmer schlängelten. Sicher ein weiteres Meisterwerk von ihr. Links stand ein großer Schrank, der fast die ganze Wand einnahm. Ich musste aufpassen, dass die Tür nicht gegen ihn stieß. Die Wand vor mir war leer und auch die Fläche davor, bis auf ein breites Regal auf dem zwei Bilder von der Familie standen und eines von ihr und Mr. Cabot.
Was würde ich nur für so ein Bild mit meinem Dad tun, dachte ich.
Ich dachte augenblicklich an das Bild, das sie von mir gezeichnet hatte und bemerkte die Staffelei und das Malset rechts neben mir. Es war eingeklappt und wurde von einem Tuch bedeckt. Als wolle sie das Werkzeug für ihre große Leidenschaft einfach unsichtbar machen. Ich verstand es nicht. Ich hatte doch gemerkt, wie viel ihr das Malen bedeutet, als sie mich gezeichnet hatte. Warum versteckte sie es dann? Um nicht in Versuchung zu kommen? Oder lag es doch an dem Streit mit Matt? Obwohl ich überzeugt war, dass da noch mehr dahinterstecken musste, versuchte ich mich irgendwie davon abzulenken. Wahrscheinlich weil ich mir dachte, dass ich mich ansonsten in Sachen einmischte, die mich nichts angingen. Ich versuchte also ihre Utensilien zu ignorieren und sah mich um, was es noch alles gab. Eigentlich gab es nur noch eines, was für mich aber das Highlight am ganzen Zimmer war. Links und rechts waren etwas größere Fenster angebracht, die den Blick sofort auf ihr Himmelbett richteten. Es war auch cremefarben, aber die Vorhänge, sowie die meisten der Kissen hatten einen zarten violetten Stich, als würden sie grelle Farben nicht vertragen. Und, was mich noch anzog, war, dass das cremefarbene teils auch das violette, mit weinroten Stichen herausragte. Es sah so unnatürlich aus, so unrealistisch. Aber es passte definitiv zu ihr … und zu ihrer Haarfarbe.
Gerade als ich wieder umkehren wollte, weil ich es erstens doch unhöflich fand, einfach in ein fremdes Zimmer zu gehen, und zweitens dachte ich hätte schon alles gesehen, traf sie mich sofort ins Auge. Wenn etwas in diesem Raum so schön war, dass man daran zweifelte, dass es normal war, dann sie. Links neben ihrem Bett, auf einer Art Nachttisch, ruhte in einer mindestens dreißig Zentimeter hohen, dünnen gläsernen Vase, eine Rose. Sofort sah ich vor meinen Augen die Rose aufblitzen, die sie gezeichnet hatte. Es war fast die gleiche, nur war sie an sich nicht besonders schön. Sie hatte über ihren ganzen Stiel spitze Dornen, eigentlich Stacheln, und ihre Blätter waren fast zerfallen und blau-schwarz mit einem Hauch violett. Trotz der restlichen Zimmereinrichtung glaubte ich jedoch nicht, dass sie diese Farbe extra nur trug, um sich dem Raum anzupassen. Ich ging einmal ums Bett herum, um sie mir näher anzusehen, als mich fast der Schlag traf.
Kaum war ich weniger als zwei Meter von ihr entfernt, fing sie an sich zu verändern. Ich weiß nicht, wie man es sonst nennen soll aber sie veränderte sich, nahm eine andere Form an. Nach und nach zogen sich die Dornen zurück, verloren an Spitze, bis sie im inneren des Stiels verschwanden. Das Blau-Schwarze zog sich an den Blättern zurück und ein Hauch von Rosa bildete sich über der Knospe und breitete sich auf alle Blätter aus bis es sich in ein helles Rot verwandelte. Dann passierte nichts mehr.
Dieser Vorgang dauerte vielleicht zwei Minuten. Die schlimmsten Minuten meines Lebens. Nicht, dass ich es schlimm fand, aber die Ungewissheit fraß mich auf. Was gerade dort vor meinen Augen passiert war, war mir fremd und ich konnte auf alles gefasst sein. Aber das einzige, was sie in mir auslöste, war ein Strahlen. Ich hob meine Mundwinkel und ging einen Schritt vor, um mich ihr zu nähern.
„Du hast ein echt großes Problem mit Shaynia, wenn sie merkt, dass du in ihrem Zimmer warst. Es sei denn, sie hat dich in ihr Herz geschlossen.“
Sofort drehte ich mich zur Tür und blieb wie versteinert stehen.
Die Arme ineinander verschränkt, ein graues schlabbriges T-Shirt und eine passende schwarze Hose tragend, lehnte Kyran gemütlich im Türrahmen. Seine Haare waren stark gewuschelt vom schlafen. Ohne ein Wort zu sagen, ging ich an ihm vorbei und verließ ihr Zimmer. Hinter mir hörte ich, wie Kyran die Tür zumachte und mir hinterherkam.
„Die Tür stand offen“, erklärte ich ihm, als er neben mir die Treppe runterging.
Er lachte. „Das tut sie so gut wie nie.“
Ich grinste kurz, aber nicht, weil ich seine Worte komisch fand oder die Situation. Ich wollte, dass er mir glaubte. Jedoch musste ich meine fröhliche Miene nicht mehr lange vorspielen, denn auf dem Weg ins Esszimmer fiel mir auf, dass die Tür zum Büro immer noch offen stand. Ich nutzte meine Chance um Matt etwas zu fragen. Und dieses Mal redete ich nicht erst um den heißen Brei herum. Ich wollte wissen, was es mit dieser Rose auf sich hatte. Ich wusste nicht, warum ich das Gefühl hatte, dass er mir diese Frage, neben Shaynia selbst, am besten beantworten konnte. Aber ich konnte mir vorstellen, dass sie zu ihm den besten Draht hatte, als zu ihren anderen beiden Geschwistern. Das ließ sich am Streit erkennen, denn wieso sollte er mit ihr einen Streit anfangen, wenn er sie nicht gut genug kannte? Wieso sollte er ihr denn das Malen verbieten wollen und warum dichtete sie ihre Utensilien dann ab, wenn nicht wegen ihm? Etwa, um nicht mehr an ihre Kindheit erinnert zu werden? Dann hätte sie vorgestern wohl kaum irgendetwas gemalt.
„Kann ich kurz mit dir reden“, forderte ich ihn auf, als ich eintrat und ihn gegen das Regal lehnend, in ein Buch vertieft, erblickte.
Er schaute zu mir auf und wies auf die Tür. „Sicher.“
Es war wohl eine gute Idee die Tür zuzumachen, denn es lag auch in meinem Interesse, dass nicht jeder von unserem Gespräch erfuhr.
„Was gibt’s?“
„Ich war in Shaynias Zimmer.“
Ihm stockte fast der Atem. „Du warst was?“
„Was habt ihr denn alle mit ihrem Zimmer? Ihr tut ja fast schon so, als wäre es ein Verbrechen, es zu betreten“, meinte ich hysterisch.
Er klappte das Buch zu und stellte es zurück an seinen Platz.
Seine Stimme wurde ruhiger. „Sie hat ihren eigenen Kopf und der ist mit Sachen voll, die wir alle nicht verstehen. Sie ist deshalb häufig deprimiert, weil sie denkt, dass wir sie nicht ernst nehmen und darum hat sie es auch nicht so gerne, wenn man ihr Zimmer betritt.“
Ich wäre ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen. Wie redete er plötzlich über sie, seine eigene Schwester? Er behandelte sie wie eine Irre! Seit zwei Tagen, behandelte er sie fast ohne Respekt und ich betete, dass er das nur vor mir tat. Ich überlegte stark. Es hatte alles mit dem Streit angefangen, dass er sich ärgerte, dass sie wieder anfing zu malen. Und dass er sich ärgerte, dass sie mich mit reinzog. Dazu noch die Aussage, dass ihr Kopf mit Sachen voll war, die wir alle nicht verstanden. Meinte er damit die Geschichte, die sie mir vorgestern über sich erzählt hatte? Anscheinend wusste er noch nicht, dass ich bereits eingeweiht war aber das verriet ich ihm besser auch nicht. Wenn er sie schon so anschrie, wie würde er dann reagieren, wenn er wusste, dass ich es wusste? Aber sie mir anstelle der Wahrheit noch als eine Irre zu verkaufen, das war er nicht. Zumindest hatte ich ihn so nicht kennengelernt. „Aber mir ist das sowieso egal. Ich kenne ihr Zimmer in und auswendig“, sagte er gelassen, fast schon gelangweilt. „Die Zyconnes müssen dich ja echt fasziniert haben, nicht wahr?“
Überfordert sah ich ihn an. Zyconnes? Was sollte das sein? Zwar war ich nach wie vor sauer auf ihn wegen Shaynia aber als allererstes wollte ich wissen, was ich genau in ihrem Zimmer gesehen hatte. Denn ich hasste Ungewissheit und so konnte ich ihr nicht vor Augen treten. Im Moment war ich nicht in der Lage, sie anzulügen.
„Was sind Zyconnes?“
„Zyconnes sind Tiere, wie bei euch Glühwürmchen, nur das sie unterschiedlich groß sind und manche Geräusche als Verständigung geben. Auf Fremde reagieren sie höchst scheu und empfindlich, aber sie können nicht angreifen oder töten. Zyconnes essen und trinken überhaupt nichts und es gibt von ihnen nur noch sehr wenige, weil sie durch das Licht einen sehr kostbaren Saft produzieren, von denen sich die meisten ihre Kleider verfeinern lassen würden. Bei ihnen ist es so wie bei einem Luftballon. Wirft man einen schweren Gegenstand auf sie oder ritzt sie mit einer scharfen Klinge an, platzen sie. Das ist auch einer der Gründe warum Shaynia sie in ihrem Zimmer aufbewahrt. Für das Blut das verdünnt mit Wasser in unsere Adern gelangt, hat Tyrece einige Zyconnes verwendet, den Teil, den seine Freundin damals dazu beigetragen hat.  Das ist Shaynias Art zu zeigen, dass der Verlust von ihnen ihr Leid tut und das sie die restlichen schützen will.“
Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich bei ihr jegliche Art von Glühwürmchen bemerkt hatte.
„Und als was benutzt sie sie?“
„Als Lampe“, sagte er, verwundert darüber, dass ich auch noch fragen musste.
Dabei fiel mir auf, dass ich auch überhaupt keine Lampe gesehen hatte, oder nur nicht bemerkt? Sicher wegen dem riesigen Kunstwerk, was sich über ihre Decke verteilte.
„Sie benutzt die Zyconnes als Lampe?“
„Ja und das ist sehr praktisch.“
„Warum?“
„Weil man damit so gesehen etwas für die Umwelt tut. Im Wohnzimmer und der Küche haben wir auch Zyconnes. Nur im Bad, Flur und unseren restlichen Zimmern verwenden wir normale Lampen. Wir wollten das ganze Haus mit ihnen versehen, aber die jetzigen Zyconnes waren die einzigen die wir finden konnten.“
Ich lächelte ironisch in mich hinein, da mich das keinen Schritt weiterbrachte und ich die Bedienungsanleitung für Wesen namens Zyconnes nicht brauchte. Das hieß, brauchen schon, vielleicht irgendwann aber nicht jetzt. Es war zwar schön und gut, dass er es mir sagte aber was nützten mir die Informationen über ein Wesen, wegen dem ich gar nicht gekommen war? Es ging mir einzig und allein nur um die Rose.
„Matt, es geht mir nicht um diese Zyconnes. Es geht mir mehr um eine Pflanze …“, ich wartete auf seine Reaktion aber er sah mich gar nicht an. Er sah nur auf den Boden. „ … Besser gesagt eine Rose … Sie stand neben ihrem Bett.“
Jetzt schaute er auf, aber immer noch nicht zu mir. Er widmete sich einem Säbel, der neben ihm vom Regal hinunter hing. Er war etwa einen Meter lang und hatte schon ein paar Jahrhunderte hinter sich. Ein Museum hätte alles getan, um ihn zu besitzen, wie fast alles in diesem Raum. Seine Fingerspitzen glitten sanft über den Schaft, sein Blick dafür war eher abwegig, als müsse er sich irgendwie ablenken.
„Oh, das ist ihr Heiligtum, oder besser gesagt, unseres. Wir nennen sie créature de la vérité. Aufgrund das Shaynia eine Künstlerin im „Sein und Schein“ ist und wir nie abschätzen können, welche Emotionen oder Gefühle sie in dem Moment hat, hat meine Mom Victoria gebeten, diese mitzubringen. Sie nimmt die Farbe je nach Stimmung an, blüht auf oder verwelkt je nach Wohlbefinden und sprüht Hass mit Dornen und Glück mit einer glatten Stängeloberfläche aus. Wie sah sie bei dir aus?“
Nun schaute er zu mir hoch und schnipste den Schaft zum Abschluss so heftig an, dass es leicht klirrte.
„Zuerst fast verdorben und violett und blau, danach haben sich die Dornen irgendwie aufgelöst und die Rose bekam ein mattes Rot.“
Ich kam mir sehr komisch vor, während ich es ihm so gut wie möglich versuchte zu erklären. Denn ich wusste nicht, wie ich es am besten traf. Ich konnte es einfach nicht genau beschreiben.
Aber Matt wusste anscheinend was ich meinte und war fast positiv überrascht.
„Positive Ansichten. Anscheinend mag dich deine Welt, obwohl du sie so lange verstoßen hast.“
„Ich habe Angst gehabt“, fuhr ich ihn an.
Das wusste er doch. Davon hatten doch praktisch die ersten Gespräche gehandelt. Obwohl … eigentlich hatte er mir fast immer nur von seinen Vorfahren erzählt. Naja, mir sollte es recht sein. Ich ließ ohnehin immer erst andere reden, bevor ich drankam. Schließlich merkte man ja, dass die Geschichte seines Stammbaums viel spannender war, als meine wenigen langweiligen fünfzehn Jahre.
„Naja. Lass uns jetzt bitte nicht wieder damit anfangen. Das bringt niemanden weiter“, meinte er ausweichend.
Da hast du recht.
Ich wollte aber nicht, dass er recht hatte. Zwischen recht haben und etwas wissen gab es nämlich einen großen Unterschied. Ja, er hatte mit allem recht, was Shaynia anging. Hätte sie mir nicht ihre Geschichte erzählt, hätte ich ihm sehr wahrscheinlich sogar geglaubt. Denn von außen, sah es wirklich so aus, wie er es schilderte. Vom alleinigen hinschauen hatte er recht, was sie betraf. Aber er wusste was mit ihr los war, wie wahrscheinlich der ganze Rest der Familie auch, vielleicht sogar Victoria, aber er sagte mir es nicht. Für mich spielte es eigentlich keine Rolle, ob er es mir sagte oder nicht, denn ich wusste es ja schon. Was mich erstaunte war, dass er mich anlog. Überhaupt im Stande war, mich anzulügen. Denn er hielt sie garantiert nicht für eine Irre. Das hatte mir Shaynia sogar gesagt: „Für Matthew war es, als wäre ich nie weggewesen. Er hat mir das Gefühl der Sicherheit gegeben.“ Er liebte seine Schwester. Da war ich mir ganz sicher. Aber warum log er mich dann an? Die einzige Erklärung dafür war, dass ich für ihn noch zu jung war, um es zu erfahren. Verständlich. Diese Erfahrung war nicht schön, noch nicht einmal grauenvoll. Aber das passierte andauernd auf der Welt. Mindestens alle drei Tage kamen neue Berichte von Unfällen und Toten in den Nachrichten. Das, was Shaynia passiert war, war ganz sicher kein Unfall aber was änderte das schon groß? Der Todesfall von George und die Kriege und Mittel von Theodore, seinen Bruder auszulöschen, waren auch nicht gerade harmlos.
Aber was sollte ich machen? Ich konnte ihn ja nicht zwingen, sich zu bekennen, ohne dass er herausfand, dass ich es wusste. Besser war es, ich ging seinen Gesprächen etwas aus dem Weg. Ich durfte sie nicht mehr so arg vertiefen. Leider war das in den meisten Fällen so gut wie unmöglich.
„Na dann …“, fing ich den Satz an, kam aber nicht weiter.
„Wie wäre es mit Mittagessen“, schlug er vor.
„Klingt gut“, willigte ich ein.
„Mein Dad und Shaynia müssten auch wieder da sein.“
Als wir ins Esszimmer kamen, war der Tisch schon gedeckt und Charlene Cabot rührte mit einem Holzlöffel in einem großen Kochtopf herum, der in der Mitte des Tischs stand. Der Topf, die tiefen Teller auf dem Tisch und der Geruch verrieten allesamt, dass es Suppe gab. Alle saßen bereits auf ihrem Platz. Ich entschied mich, den zu nehmen, den ich auch letzten Mal hatte. Charlene schenkte mir sofort einen großen Löffel ein, als ich mich setzte. Ich hatte so eine Suppe noch nie zuvor gegessen und auch der Geruch war mir neu - obwohl ich ihn irgendwoher kannte. Es ähnelte ein bisschen einer Tomatensuppe, nur dass diese orange war und ein paar Kerne darauf herumschwammen.
„Das ist Kürbissuppe“, erklärte sie mir.
Links und rechts standen jeweils zwei geflochtene Körbe, in denen Brotscheiben lagen. Ich nahm mir eine Scheibe und tunkte die Kruste etwas in die Suppe. Ich hatte schon oft Kürbisse ausgenommen und wollte schon immer mal wissen, wie die Suppe schmeckte. Zu meiner Verwunderung, schmeckte sie mir richtig gut. So gut, dass ich mir noch einen zweiten Teller auffüllte, als ich leergegessen hatte.
Ich setzte meine Worte sofort in die Tat um, indem ich den restlichen Tag nicht mehr das Gespräch mit ihm suchte und das tat er auch nicht. Kyran dafür, animierte mich, doch mal Victoria anzurufen aber ich lehnte den Vorschlag ab. Ich würde sie sowieso spätestens Montagnachmittag sehen und war froh, dass ich noch einen Tag bei ihnen verbringen konnte, ohne Schule, ohne sie, ohne Stress.
Nach dem Abendessen schnappte ich mir irgendein Buch aus dem Wohnzimmerschrank und setzte mich auf die Couch, während ich es durchstöberte. Ich las einfach drauf los, obwohl ich überhaupt nichts verstand, was größtenteils an der Schrift lag. Wie es sich herausstellte, hatte es aber auch was Gutes, dass ich die Seiten praktisch nur überflog. Denn so bekam ich mit, dass sich Matt und Shaynia leise im Flur unterhielten. Ich bekam nicht mit, worum es ging aber ich war mir sicher, dass es etwas mit unserem Gespräch heute zu tun hatte. Und ich war sehr froh, dass nicht wieder die Fetzen flogen. Nach einer halben Ewigkeit erschien sie im Türrahmen und bat mich mit ihr mitzukommen.
Ich legte das Buch auf dem Tisch ab und folgte ihr.
Auf dem Weg nach oben erklärte sie mir ihr Anliegen. „Matt hat mir gesagt, dass er dich über die Zyconnes informiert hat.“
„Ja“, bestätigte ich.
„Ich wollte sie dir mal zeigen, wenn du nichts dagegen hast.“
„Gerne.“
Zum ersten Mal an diesem Tag war ich nicht gerade sauer auf ihn sondern eher positiv überrascht. Positiv überrascht darüber, dass er mich nicht verraten hatte. Dass er ihr nicht gesagt hatte, dass ich in ihrem Zimmer war. Ob er ihr auch über die Rose Bescheid gesagt hatte? Sicher nicht. Schließlich war Shaynia anscheinend die einzige, für die sie großartig bestimmt war, die etwas mit ihr anfangen konnte. Komischerweise fielen sie mir sofort auf, als wir ihr Zimmer betraten. Fasziniert starrte ich auf das kugelige weiße Wesen, Zyconnes. Wenn man sie für gewöhnliche Lampen hielt, dachte man sich nichts dabei aber wenn man erfuhr, dass es Lebewesen waren, sah man sie aus einer ganz anderen Perspektive. Man achtete auf jedes kleine Detail, hoffte auf eine Bewegung oder eine Änderung der Position. Ich wollte sie anfassen aber ich traute mich nicht. Der Gedanke, zu fest zu drücken und sie zu töten, schreckte mich ab.
„Willst du sie auch mal halten?“
„Und wenn ich zu fest zudrücke?“
„Keine Sorge“, gab Shaynia Entwarnung. „Zyconnes bekommen eine belastbare Oberfläche, wenn sie sich wohlfühlen und merken, dass sie außer Gefahr sind.“
Langsam und behutsam übergab sie sie mir. Ihre Oberfläche fühlte sich weich und kribbelig an und warm. Wieso gab es in unserem Haus keine derartigen Wesen? Nach gefühlten zwanzig Sekunden, spürte ich auf meiner Hand etwas Rundes. Als Shaynia merkte, dass ich mich nicht richtig konzentrierte, hielt sie ihre Hand gestreckt zur Zyconne. Sofort hob sie sich von mir ab und schwebte, wie ein Luftballon in Zeitlupe, auf ihre Hand. Diese streckte sie zur Decke, bis die Zyconne dort haften blieb.
„Echt faszinierend nicht wahr.“
Ich konnte meinen Blick nicht von der Kugel auf meiner Hand schweifen lassen. Sie war übersät von Mikrometer kleinen Kristallen. Aus diesem Grund nahm ich Shaynias Begeisterung nur vernebelt war.
„Klar.“
Sie drehte sich zu mir und folgte meinem Blick auf die Hand.
„Was ist das?“
„Ich nenne sie einfach nur Kristallperlen. Ich habe davon einen ganzen Beutel. Dafür werden sie getötet. Die Kristalle sind ein Vermögen wert und werden abgekratzt. Darunter befindet sich eine dünne Schicht, die mit Muscheln zu vergleichen ist. Die wird vorsichtig aufgeschlagen und in ihr befindet sich der Saft, für den sie hauptsächlich getötet werden. Warte mal.“
Sie nahm sich die Perle mit dem Daumen und Zeigefinger und bettete sie sacht in eine kleine schwarze Schatulle, welche sie aus dem Regal nahm.
„So, hier drin kannst du sie aufbewahren.“
Ich nahm die Schatulle an mich und umringte sie mit beiden Händen, als ob ihr jeden Moment etwas geschehen könnte.
„Danke.“
Als ich nach oben blickte und das erste Mal die ganze Decke mit den Zyconnes sah, fiel mir noch etwas Bestimmtes auf. Die Zyconnes, die den Durchmesser eines Kopfes, bis hin zu einer Faust hatten, ruhten allesamt in der Mitte. Wenn man aber genauer hinsah, breiteten sich auf den Ranken darum über die ganze Decke hin auch noch kleinere weiße Punkte aus. Sie waren alle sehr klein aber hatten trotzdem unterschiedliche Größen. Über einen Apfel bis hin zu einer kleinen Perle. Durch das Gestrüpp machte es einen unbeschreiblich schönen Eindruck. Wenn ich bei Victoria einen Wunsch frei hätte, egal was es war, würde ich mein Zimmer rausreißen lassen und dieses nehmen. Ich fragte mich, wie es wohl bei Nacht aussah.
Viel zu schnell verließen wir das Zimmer auch schon wieder und ich machte mich fertig zum schlafen. Meine Gedanken waren etwas benebelt. Erst kurz bevor ich einschlief, als ich mein Umfeld schon gar nicht mehr richtig wahrnahm, tauchten sie wieder auf.
Was hat dieses Haus nur an sich.
Den kompletten Sonntag verbrachte ich hauptsächlich damit, Shaynia dabei zuzuschauen, wie sie aus den gegebenen Blättern ein kleines Kunstwerk an die Küchenwand zauberte. Sie benutzte allerdings nicht Charlenes zurückgelegte Blätter, sondern suchte draußen nochmal extra welche.
Als ich den Grund dafür erfragte, gab sie nur zu verstehen: „Ich habe so eine Idee, aber dafür brauche ich die Farbe der Blätter. Dafür dürfen sie nicht ausgetrocknet sein, sondern am besten ganz frisch.“
Ich wusste nicht ganz, was sie damit meinte und wie sie es anstellen wollte aber, als sie es mir zeigte, war ich ganz baff. Sie schaffte es irgendwie, die Farbe aus den Blättern zu saugen und verwendete sie gleich zum Malen. Dadurch, dass sie sich von anderen künstlichen Farben unterschieden, wirkte es am Schluss wie eine Illusion. Oben links war eine Art Blätterhaufen abgebildet, dessen Blätter Stück für Stück in alle Richtungen verstreuten, wie eine Sonne, die ihre Strahlen auf die Landschaft verteilte. Ich wusste nicht woran es lag, aber auf den ersten Blick konnte man meinen, dass es echte Blätter waren und nicht nur aufgemalt. Shaynia meinte war bei Tagesende, dass es noch nicht fertig war, da sie nochmal grob drüber malen musste, aber ich fand es ohnehin schon einzigartig und fragte mich, wie es hier wohl zu Weihnachten aussehen würde.
Nach dem Abendessen fuhr Kyran nochmal schnell zu Victoria, um die Bücher, die ich für morgen in der Schule brauchte, zu holen und nahm bei der Gelegenheit gleich schon mal den Blätterkranz mit. Bevor ich schlafen ging, legte ich mir die Sachen, die ich morgen anzog schon raus und packte meine Tasche. Obwohl ich kein bisschen müde war, als ich ins Bett ging, schlief ich sehr schnell ein, in schönen Gedanken an den Rückblick der letzten drei Tage. Ich bezeichnete es nicht als kleinen Urlaub aber schon irgendwie als kleine Auszeit. Ich hatte in diesen Tagen keinerlei Verpflichtungen gehabt und konnte Energie tanken für die nächste Woche. All das lag wohl an der Gastfreundschaft, die sie für mich hatten.
Obwohl mich Mr. und Mrs. Cabot nicht wie ihre leibliche Tochter behandelten, bekam ich das Gefühl, zu ihnen zu gehören und zu meinen Geschwistern. Praktisch eine weitere zweite Familie, neben Sams und Emmas. Ich rechnete fest damit, dass ich morgen wieder zu meiner richtigen Familie gebracht wurde. Victoria. Wenn ich überlegte, dann war ich noch nie mehr als drei Tage von ihr getrennt gewesen. Ich hatte zwar schon einige Tage ohne sie verbracht, aber ich hatte sie dann immer angerufen oder sie mich. Aber ich hatte absolut nichts dagegen, sie jetzt wiederzusehen. Ganz im Gegenteil. Um ehrlich zu sein, freute ich mich, sie wiederzusehen, denn er ganze Ärger, die ganze Wut, die ich Donnerstag auf sie verspürt hatte, war nicht mehr. Ich war zwar schon noch stinkig aber es hatte sich über die Tage gelegt.
Dann war die Idee mit der Auszeit doch nicht so verkehrt. Eher gerade richtig.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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