Stefanie Lohmann

1993, in einer Nacht im April

23.55 Uhr: Nach längerem Halt in Köln ist der Zug endlich wieder losgefahren. Das sanfte Ruckeln des Wagens und das gleichmäßige, langsam schneller werdende, Klopfen der Schwellen lassen meine Lider schwer werden und meinen müden Körper tief in das rote Polster des Sitzes sinken. Mein Kopf kippt auf die Scheibe des Gangfensters zu, wo er sanft auf dem rauen Stoff des Vorhangs zu liegen kommt. Aus den Kopfhörern meines Walkmans jault melancholisch Bob Dylans Mundharmonika. „Blood on the tracks“, der Soundtrack zu meiner vierwöchigen Rucksackreise durch Südeuropa - der ersten Reise, zu der ich ganz alleine aufgebrochen bin. Und deren letzte Tage ich nur mühsam mit Hilfe eines in einer portugiesischen Apotheke rezeptfrei erworbenen Antibiotikums durchgestanden habe. Nach einer Zugfahrt quer durch die iberische Halbinsel und einem verspäteten Flug von Barcelona nach Düsseldorf werde ich in wenigen Stunden endlich erschöpft in mein Bett in Heidelberg sinken. Ein wenig schlafen kann ich zum Glück schon hier im Zug.

0.05 Uhr: Gerade weben sich die ersten Traumfäden in mein Bewusstsein ein, als sich die Tür zu meinem Abteil öffnet.
„Hier noch jemand zugestiegen?“
Meine beiden Mitreisenden fühlen sich nicht angesprochen. Die Frau undefinierbaren Alters, die sie sich auf ihrem Fensterplatz in embryonaler Haltung eingerollt und ihr Gesicht unter einer Kapuze verborgen hat, setzt unbeirrt ihr leises Schnarchen fort. Mir schräg gegenüber öffnet ein schlaksiger junger Mann mit kurzen schwarzen Haaren seine Augen nur zu zwei Dritteln. Schaut den Schaffner einige Sekunden lang mit leerem Blick an und döst weiter. Anscheinend bin ich die einzige, die sich noch ausweisen muss. Einige hektisch aufgerissene Reißverschlüsse und durchwühlte Rucksacktaschen später kann ich meinen zerknitterten Fahrschein präsentieren.

Der Schaffner will gerade sein Knipsgerät zum Einsatz bringen, da stutzt er:
„Sie wollen nach Heidelberg?“
„Ja klar, steht doch so auf meiner Fahrtkarte, oder?“
„Hmm, Ihr Ticket fährt vielleicht nach Heidelberg, dieser Zug aber nicht. Der fährt nach Wien“.
„Was? Aber auf der Anzeige im Bahnhof stand doch, dass er über Heidelberg fährt! Nach Wien, über Heidelberg und München!“
„So ganz stimmt das leider nicht. Der Zug ist in Köln geteilt worden und ein Teil des Zuges ist Richtung Heidelberg und München gefahren. Sie sitzen aber im Kurswagen nach Wien, und der hält ganz sicher nicht in Heidelberg. Das stand aber bestimmt auf der Anzeigetafel. Und an jedem einzelnen Wagen hängt auch noch mal ein Schild.
Ich seufze: „Ja, das kann schon sein. Es war ziemlich hektisch vorhin, ich war spät dran und hab den Zug in Düsseldorf grad noch so erwischt.“

Anstatt der Hysterie, die mich sonst in solchen Situationen erfasst, macht sich ein angenehm träger Fatalismus breit, vermutlich eine Folge des Schlafentzug oder des zu hoch dosierten Antibiotikums. „ Dann steige ich eben an der nächsten Station aus und sehe zu, dass ich einen Zug in die richtige Richtung erwische. Notfalls fahre ich zurück nach Köln und schaue von dort aus weiter“.
„Also der nächste Halt dieses Zuges ist Würzburg, da sind wir um 3.30 Uhr.“
„Was? Wenn man schnell ankommen will, halten die Züge an jedem Kuhdorf, und jetzt kommt die nächste Station erst in mehr als drei Stunden?“
„Ist halt ein Nachtexpress“. Für einen kurzen Moment zucken die Mundwinkel des rundlichen Schaffners nach oben, dann wird er sich wieder des Ernstes der Lage bewusst. Als er sich mir gegenüber hingesetzt hat und in seinem dicken Kursbuch blättert, bemerke ich, dass der junge Mann mit den schwarzen Haaren aus seiner Lethargie erwacht ist und unsere Diskussion mit abenteuerlustig blitzenden Augen verfolgt. Kurze Zeit später ist er schon in die Rolle des engagierten Umsteigeberaters geschlüpft. Wie ein eingespieltes Team beugen wir uns zu dritt über das Kursbuch und diskutieren über Wartezeiten in Würzburg, Anschlusszüge in Aschaffenburg und Nahverkehrszüge nach Neckarsulm. Wir einigen uns schließlich auf einen Umweg über Frankfurt und der nette Schaffner kritzelt noch etwas auf mein Ticket, das mir zusätzliche Kosten auf meiner bevorstehenden Odyssee ersparen soll.

0.30 Uhr: Nachdem sich der Schaffner verabschiedet hat, muss ich daran denken, wie ich als alleinreisendes Kind die roten Sitze in eine große Liegefläche für meine 20 Stofftiere verwandelt habe. So zaubere ich auch jetzt für meinem Mitreisenden und mich ein rot gepolstertes Doppelbett. Die Frau am Fenster befindet sich noch immer im Tiefschlaf und muss daher sitzen bleiben.

0.40 Uhr: Das Licht ist gelöscht, geschlafen wird nicht. Der Mann auf der Nachbarliege zeigt sich beeindruckt von meinen Reisen mit den Stofftieren, ich mich fasziniert von seiner Kindheit, die er pendelnd zwischen dem Vater in Marokko und der Mutter in Frankreich verbracht hat. Auch ich bin ja eine Zeit lang zwischen zwei Haushalten gependelt - die allerdings nur 500 Meter voneinander entfernt waren. Er lacht. Liegt lässig da, seinen Kopf auf die linke Hand gestützt, die rechte spielt entspannt mit den Gurten seines Rucksacks. Weitere Parallelen werden entdeckt,  Erfahrungen geteilt, Erkenntnisse bestaunt. Themen schwirren zwischen uns her wie Glühwürmchen am Ende eines heißen Sommertages: die Zerrissenheit zwischen den Kulturen, die Abenteuerlust und die Einsamkeit auf Reisen. Enttäuschungen der Vergangenheit und Hoffnungen für die Zukunft.

2.10 Uhr: Die Vernunft sagt mir, dass ich vor dem Halt in Würzburg noch mal schlafen muss. „Gute Nacht“, wünsche ich dem Mann, den ich vor zwei Stunden noch nicht kannte und der jetzt schon so viel über mir weiß. „Weck mich, bevor Du aussteigst“, sagt er und schaut mich an.

2.15 Uhr: Im Zug ist es ruhig, aber ich bin es nicht. Plötzlich ist er da: der Drang, die Hand mit den schmalen Fingern zu berühren, die zehn Zentimeter von meiner entfernt auf dem Polster liegt. Aber das geht natürlich nicht. Männern gegenüber bin ich vorsichtig und zurückhaltend. Das ist gut so und soll auch so bleiben. Diesen Menschen neben mir kenne ich erst seit zwei Stunden und er ist auch gar nicht mein Typ. Das hätte ich bestimmt bemerkt, als das Licht noch an war, doch da ist mir nur sein seltsam gemustertes Hemd aufgefallen. In der Dunkelheit kann ich erkennen, dass er wenig gemeinsam hat mit den blonden Hünen, die mir sonst so gut gefallen. Aber das ist ohnehin egal, denn er hat inzwischen die Augen geschlossen und ist bestimmt schon eingeschlafen.

2.18 Uhr: Genau gleichzeitig legen unsere Hände die entscheidenden Zentimeter zurück. Wenig später tun es ihnen unsere Münder gleich. Die Gedanken, die sonst so unermüdlich kreisen, sind irgendwo in Hessen aus dem Fenster geflogen und haben es sich auf einer Oberleitung bequem gemacht. Leises Flüstern, verwundertes Kichern. Zarte Berührungen an meinen Fingern, warmer Atem an meinem Hals, eine Hand auf meiner Schulter. Überrascht stelle ich fest, dass man entspannt und aufgeregt zu gleichen Zeit sein kann.

3.20 Uhr: Sein Kopf liegt auf meiner Burst, Harre kitzeln mein Kinn. Sein gleichmäßiger Atem erinnert mich an das Rauschen des Meeres in Lagos.

3.25 Uhr: Energische Schritte nähern sich unserem Abteil. Ich kann gerade noch rechtzeitig ein Stück zur Seite rutschen, als sich die Tür mit einem Ruck öffnet.
„Ich wollte nur Bescheid sagen – in 10 Minuten sind wir in Würzburg.“
„Okay, danke für die Info.“
„Gern geschehen, gute Reise noch.“
Hektisch fange ich an, meine Sachen zu packen. Es gibt nicht viel zu tun, eigentlich muss nur ein Pulli in den Rucksack gestopft werden, doch ich tue so, als ob wichtige Dinge gesucht und sortiert werden müssten. Will am liebsten wortlos aus dem Abteil verschwinden, Peinlichkeit vermeiden. Eine Hand zieht mich hinunter, ein letzter Blick.
„Gut dass Du aussteigst, sonst würde ich mich noch in dich verlieben.“
„Also dann Tschüss“, ist alles, was mir dazu einfällt. Ich öffne die Abteiltür, draußen bin ich.

3.35 Uhr: Der Bahnsteig ist menschenleer. An meinen Rucksack gelehnt atme ich die kühle Nachtluft ein. Bob Dylan singt “Try imagining a place where it’s always safe and warm - ‚come in‘, she said, ‚I’ll give you shelter from the storm‘“.
Mir fällt auf, dass wir einander noch nicht mal unsere Namen genannt haben.

3.50 Uhr: Mit einem Druck auf die Stop-Taste wird Bob Dylan zum Schweigen gebracht. Ich stehe auf und mache mich auf den Weg zu Gleis 4. Ich muss heute Nacht noch zwei Züge erwischen.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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