Christian Berg

Der schönste Tag in seinem Leben

Im Winter 1986/87 besuchten Michi und Stefan ihre alten Buxtehuder Freunde in deren neuer Wohnung in Hamburg-Eppendorf. Die Wohnung befand sich im 3. Stock eines Altbaus und war nur insofern erwähnenswert, als dass an der Decke im Flur vier riesige Styroporplatten hingen, in die Thomas und Jürgen, die Buxtehuder, eine Weihnachtsbaumbeleuchtung gesteckt hatten, so dass die Decke funkelte wie ein Sternenhimmel. Michi und Stefan verliebten sich sofort in diese atmosphärische Dekoration.


In unserer Schilderung der Ereignisse sollten wir an dem Punkt ansetzen, wo die beiden – höllisch zugekifft – bei Thomas im Zimmer saßen. Es war zweifelsohne beinahe das mörderischste Kraut, das sie jemals geraucht hatten. Es hatte Michi auf der Stelle umgehauen. Ging ganz schnell ins Gehirn. Normalerweise war es so, dass Michi bei Dope gut drauf war und lachte und so weiter, doch immer noch eine recht gute Kontrolle hatte … außer, wenn das eben so ein Mörderzeug war.

Das war schon heißer Stoff. Und was Stefan auch gewundert hatte, war, dass Thomas sofort einen angebaut hatte. Das hätte Stefan nicht erwartet. Stefan hatte sein eigenes Dope verloren, lag jetzt wahrscheinlich irgendwo in der U-Bahn …

Dann plauderten Stefan und Thomas eine halbe Stunde lang über Kameras und solche Sachen, und Michi fand es extrem unerfreulich, weil er keine Ahnung davon hatte. Er drängte immer wieder, auch weil ihn Thomas nicht interessierte. Er sagte zweimal: „Lass' uns los“, doch die laberten immer noch weiter.

Sie mussten Thomas auch erst einmal davon überzeugen, dass er die Styroporplatten herausgeben sollte, weil Thomas es nämlich noch gar nicht wusste. Das hatte Jürgen ihnen erst kurz vorher angeboten. Michi erzählte Thomas, dass sie die Teile bei ihnen in den Flur hängen wollten … und machte dabei leider den Fehler zu erwähnen, dass sie das Ganze dann schwarz streichen wollten. Da hatte Stefan schon Angst, dass Thomas auf die Idee kommen würde, die Platten zu behalten und sie selbst schwarz zu streichen. Das war knapp! Aber sie waren ja bekannt dafür, dass sie gern ein Risiko eingingen …

Die letzte Bahn fuhr um 18 nach 12. Sie wollten um 12 los. Stefan war voll in der Unterhaltung drin. Er genoss es. Früher hatte er oft mit Thomas ganze Abende und Nächte durchgequasselt – nur über Kameras, Fotos und Filme, total zugedröhnt. Es hätte noch mindestens eine Stunde so weitergehen können. Stefan hatte auch das Gefühl, dass Michi geneigt zuhören würde. Michi drängte, doch Stefan war zu breit, um es zu bemerken. Bis er selbst zufällig auf die Uhr sah.

Endlich waren sie im Flur, aber auch da dauerte es Michi viel zu lange, weil Stefan seinen Mantel anzog. Schließlich schafften sie die massiven, schweren Teile in das Treppenhaus. Und dann ging es los: 2 Meter x 1,50 die zwei größeren und 2,40 x 1 Meter zwei mittelgroße Platten. Zusätzlich noch eine sehr kleine Platte. Sie einigten sich darauf, dass jeder eine mittlere und eine große Platte nehmen sollte. Leider hatte Michi noch ein Vierspurgerät und eine Plastiktüte mit Kopfhörern dabei. Stefan hatte alles relativ schnell im Griff und war sofort auf dem Weg nach unten. Er wunderte sich, weshalb Michi nicht nachkam. Dann sah er ein irres Bild: Michi hatte versucht, eine Platte unter den einen, und eine unter den anderen Arm zu klemmen. Das ging natürlich überhaupt nicht!

Schließlich beschloss Michi, das größere Teil dazulassen. Doch selbst mit der mittleren Platte, der Plastiktüte und dem Vierspurgerät hatte er noch Schwierigkeiten. Deshalb kam Stefan ihm entgegen. Der hatte eine genial einfache Möglichkeit entdeckt, die Platten das Treppenhaus hinunter zu bekommen. Zuerst wollte er sie einfach durch den freien Raum zwischen den Treppenläufen hinabwerfen, aber dies erschien ihm um Mitternacht doch etwas zu laut. Darum probierte er es, die Platten in der Mitte fest zu halten, und gelangte ohne Probleme in das Erdgeschoss. Er wunderte sich, wo Michi blieb, und sah, dass dieser noch ganz oben stand.

Das war der Zeitpunkt, von dem an Michi vollkommen wehrlos war. Vorher war er es gewesen, der die Initiative hatte, auf die Uhr sah und Stefan zum Aufbruch drängte. Jetzt registrierte er nur noch, dass Stefan sagte, sie hätten keine Zeit mehr. Er stellte sich völlig blöde an, konnte seine Bewegungen nicht mehr koordinieren. Er war wie im Rausch. Er war im Rausch! Stefan schaffte die Platten alleine nach draußen. Michi gelang es gerade noch, ihm die Tür aufzuhalten …

Dann ging es um den Weitertransport. Stefan hatte sehr schnell eine Idee, doch Michi verstand nicht, was er meinte. Sie brauchten ziemlich lange dafür, sich darüber klarzuwerden. Bis sie dann richtig auf dem Weg waren, verging weitere wertvolle Zeit. Sie brachten die Styroporplatten in die Horizontale, Stefan nahm sie hinter sich und ging vorne, Michi hinten. Michi hielt dabei noch die Plastiktüte, das Vierspurgerät und die kleine Zusatzstyroporplatte in einer Hand. Das war ihm viel zu schwer. Stefan schlug ihm vor, doch alles auf die Mitte der Styroporplatten zu legen, und so kamen sie letztendlich in Gang.

Stefan hatte den Eindruck, Michi würde ihn von hinten anschieben. Er konnte nicht glauben, dass Michi so schnell gehen könne. Und dann fragte ihn Michi auch noch, ob sie etwas schneller gehen könnten, doch das ging nicht. Da es für Michi schon sehr schwer war, hatte er Angst, dass es für Stefan noch schwerer sein würde, zumal die Plastiktüte, das Vierspurgerät und die drei übrigen Styroporplatten mehr in dessen Hälfte lagen. Er sah, dass Stefan das alles teilweise sogar nur mit einer Hand trug. Unglaublich!

Michi konnte nicht auf seine Uhr sehen. Die erste Uhr, die er an der Straße sah, war 8 Minuten nach 12. Michi wusste aber, dass es später sein musste. Sie hatten den größeren Teil der Restzeit im Treppenhaus liegen gelassen. Er schätzte, dass ihnen noch 5 Minuten blieben. Sie fingen an zu rennen ...

So liefen zwei Männer mit einer riesigen Styroporplatte, auf der eine Plastiktüte, ein Vierspurgerät und drei kleinere Styroporplatten lagen, um Mitternacht durch Hamburg-Eppendorf. Sie rannten die Hälfte der Strecke bis zum U-Bahnhof Kellinghusenstraße. Stefan dachte dabei ständig, dass die Styroporplatte durchbrechen würde. Das wäre das Ende gewesen. Sie hätten alles umdrehen und neu ordnen müssen, und das wären genau die 10 Sekunden gewesen, die ihnen gefehlt hätten.

Michi war schon so kaputt, dass er nicht mehr darauf achtete, dass die Straßen, die sie überquerten, auch von Autos befahren wurden. Sie liefen über eine grüne Ampel. Sie liefen über eine rote Ampel und ein Wagen brauste sehr schnell heran. Glücklicherweise sah Stefan (der ja vorne war) das Auto und stoppte.

Trotz allem konnte Michi noch Scherze darüber machen, was für ein Bild die beiden jetzt wohl abgeben würden. Sie kamen an einem italienischen Restaurant vorbei. Die Gäste saßen am Fenster und aßen. Sie passierten einen Friedhof und eine Kirche. Die Turmuhr schlug einmal. Viertel nach! Stefan sah hinauf zur Uhr. Sie hatten noch 3 Minuten. Und es war noch ein Kilometer zu laufen ...

Irgendwann wehte die kleine Zusatzstyroporplatte vom Stapel herunter auf die Straße, doch sie hatten keine Sekunde, um das Teil aufzuheben. Michi bemerkte nur lakonisch: „Vergiss es!“ Dann schrie Stefan (der ja weiter vorne war, und außerdem weitsichtig), dass er das U-Bahn-Schild sehen würde. Michi sah immerhin das Flimmern der Lichter auf dem Bahnsteig.

Stefan sah den Zug! Der Zug fuhr los. Stefan gab auf: „Das war's.“ Sie stoppten etwa 200 Meter vor dem Bahnhof. Sie wollten schon alles ablegen und aufgeben, als Michi plötzlich klar wurde, dass der Zug in die falsche Richtung fuhr. Im gleichen Moment kamen die beiden Züge in Richtung Zentrum, die Züge also, die Stefan und Michi brauchten.

Es begann der Endspurt. Stefan war so am Ende, dass er fast zusammengebrochen wäre. Er spürte seine Beine nicht mehr. Stefan begann zu schreien: „Hallo!“, „Hallo!“, „Warten Sie!“.

Vielleicht war das Ihre Rettung. Jemand muss die Rufe, die von da unten von der Straße heraufschallten, erhört haben. Vielleicht sah aber auch ein Zugfahrer, als die Züge über die Brücke einfuhren, die beiden Verrückten mit der Styroporplatte und dachte sich, dass die noch mit dieser letzten U-Bahn mitwollten. Vielleicht hatte er Mitleid, weil er bereits einen Teil ihres Anlaufweges mitverfolgt hatte. Der Schaffner auf dem Bahnsteig hätte womöglich nicht gewartet.

Michi wäre auf den Treppen hoch zum Bahnsteig fast gestolpert … doch dann waren sie oben. Die U3 war schon weg. Stefan wusste nicht, dass sie auch mit der U1 fahren konnten. Er wusste überhaupt nichts mehr. Mit total verschwitztem Gesicht, Schlafzimmerblick und der letzten Luft wisperte Michi nur noch: „Steig ein!“.

Stefan errechnete hinterher, dass, wenn sie nur zwanzig Sekunden später losgegangen wären, sie es nicht mehr geschafft hätten. Dann hätte selbst ein Taxi nicht geholfen, weil man die Teile dort nicht hinein bekommen hätte. Michi war ohnehin fest davon überzeugt gewesen, dass sie es nicht schaffen würden, und hatte sich ständig gefragt, wie Stefan darauf reagieren würde. Er lief nur automatisch mit, um Stefan nicht zu verärgern. Für ihn wäre die Enttäuschung nicht so schlimm gewesen, weil er darauf eingestellt war, doch Stefan kämpfte wie ein Irrer, und Michi wusste nicht, was passieren würde, wenn sie es nicht schafften.

Stefan wusste die ganze Zeit, dass sie es schaffen würden. Deshalb kämpfte er. Er wusste, dass es höllisch knapp werden würde, doch er wusste, dass sie es schaffen würden.

Endlich im Zug. Alles vergessen. Sie stellten die große Styroporplatte in die Senkrechte. Wie zu erwarten rutschten die Plastiktüte, das Vierspurgerät und die mittleren Styroporplatten laut krachend auf den Fußboden. Ein Kopfhörer fiel aus der Plastiktüte und kam erst 5 Zentimeter vor der Kante zwischen dem Bahnsteig und dem Abgrund zum Liegen. Glücklicherweise waren die Leute, die aus dem Zug ausstiegen, so nett, die Gegenstände vom Boden aufzulesen.

Sie waren drin. Stefan schwitzte wie ein Schwein. Seine erste Idee war sich hinzulegen. Sie setzten sich auf den Fußboden (Michi wunderte sich später darüber, dass er dafür noch die Kraft besessen hatte). Wie schön wäre es jetzt gewesen, Strom zu haben und die Weihnachtskerzen in der U-Bahn leuchten zu sehen. Besonders, da Stefan feststellte, dass er auf dem Weg seinen Schal verloren hatte. Doch den fand er sowieso doof. Hatte ihn schon wochenlang genervt.

Am Jungfernstieg verließen sie die U-Bahn. Natürlich dauerte es viel zu lange, bis sie alles hinaus bugsiert hatten. Fast wäre noch die große Styroporplatte abgebrochen (wie sie überhaupt auf dem ganzen Transportweg per Bahn eine Styroporspur hinterließen, da sie die Teile immer zügig und rabiat in die und aus der Bahn schoben).

Sie nahmen die letzte S-Bahn nach St. Pauli. Andere Fahrgäste eilten herbei und halfen ihnen beim Ein- und Aussteigen. Als sich Michi bei den Leuten bedankte, fiel ihm auf, dass er dies zuvor nicht getan hatte. Ein unangenehmes Gefühl.

Als sie die S-Bahn-Station Reeperbahn verließen, sah Michi schon vom Bahnsteig aus die Punks und Penner, die ihn seit Monaten nervten. Jedes Mal, wenn er an Ihnen vorbeikam, und das war normalerweise mindestens zweimal täglich, schnorrten sie ihn um Geld oder Zigaretten an. Michi hatte keine Lust, die Treppe hochzugehen und die ewig gleichen Floskeln zu hören.

Doch es kam anders. Die Punker sprachen Michi und Stefan an. Zum ersten Mal hieß es aber nicht: „Hast Du mal 'nen Groschen?“, sondern: „Was habt Ihr'n dabei?“ Ein Punk spielte Mundharmonika, einen Blues ...

Die Wohnung. Endlich am Ziel. Und sie hatten den ganzen Tag nichts gegessen. Sie sanken auf den Boden. Sie hatten gefrühstückt, normal, aber nicht übermäßig. Danach hatten sie Vierspuraufnahmen in Buxtehude gemacht. Großer Stress. Stefan hatte dort ein Ei gegessen, Michi nichts. Danach wieder Stress. Schon bevor sie bei Thomas waren, hatte Stefan gedacht: „Wenn ich nicht gleich etwas zu essen bekomme, breche ich zusammen.“

Stefan hatte die Idee, die zwei Gulaschdosen von Aldi aufzumachen, die sie seit einigen Wochen im Schrank hatten. Er tat noch eine halbe Dose Mais, einen Schuss Schaschlikgewürzketchup von Aldi, einen kleinen Schuss French Dressing, einen Hauch Wasser (aber nicht zu viel, sonst verwässert die Soße), etwas Milch (am besten Dosenmilch, weil die am meisten Fettgehalt hat), Paprika, Curry, Oregano, Pfeffer und Salz dazu.

Stefan kochte das Essen und kostete vor. Zu diesem Zeitpunkt fiel Michi bereits von einer Euphorie in die andere und schmiss mit Superlativen um sich. Und zwar nicht nur über Stefans Kochkünste, sondern über den ganzen Tag. Es war der schönste Tag in seinem Leben.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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