Meike Schäfer

Alvarez-Der Schwur-12.Kapitel-Im Nirvana-Seite 233-243

Zu meinem Entsetzten hörte ich heute noch nicht einmal die Stimme des Lehrers und auch nicht die meiner Mitschüler, außer von Emma. Normalerweise nahm ich sie immer nebenbei wahr, die Worte erreichten mich nur nie. Die erste Stunde ging ja noch, aber spätestens nach der zweiten tauchte diese Stimme wieder auf. Meine Gedanken waren benebelter als je zuvor. Komisch war es, dass ich in Emmas Gegenwart sofort wieder alles wahrnehmen konnte. Zumindest, was in einem Radius von einem Meter um sie stattfand. Doch wechselte ich mal kein Wort mit ihr oder sah sie nicht an, verschwamm wieder alles vor mir. Zum Glück verbrachte ich heute den ganzen Tag mit ihr, denn dann konnte ich auch davon ausgehen, dass ich alles wahrnehmen würde. Ich war froh, als die Schule vorbei war und wir zusammen den Schulhof verließen.
Jedoch verlief danach alles so, wie ich es mir nicht einmal in meinen schlimmsten Albträumen erträumt hätte. Dieser Tag, würde mir für immer und ewig in Erinnerung bleiben, egal ob Emma es mir irgendwann verzieh oder nicht. Es war der erste Tag meines Lebens, an dem ich richtige echte Angst verspürte. Es fing alles damit an, dass wir zu Fuß zu ihr gingen, da ihre Eltern anderweitig beschäftigt waren. Sie wohnte etwas weiter weg von der Schule, als ich, somit brauchten wir eine Weile, genauer gesagt, waren wir in einer guten Stunde da, aber die Hälfte der Strecke hatten wir auch getrödelt und die Zeit ausgenutzt, um uns über die wichtigsten Dinge zu unterhalten, die wir uns zu erzählen hatten. Dann, als wir ihr Haus erreicht hatten, erledigten wir unten schnell unsere Hausaufgaben und wanderten dann in ihr Zimmer. Das hieß, ich ging schon mal vor, während sie unten noch ein paar Snacks zubereitete. Das war ihr großer Stolz. Die wenigen, aber immer wieder genüsslichen Leckereien, die sie backen konnte. Während sie sich in der Küche zu schaffen machte, betrat ich, nach einer gefühlten Ewigkeit, endlich wieder ihr Zimmer. Wir trafen uns eigentlich fast nie bei ihr, und wenn, dann nicht unbedingt in ihrem Zimmer.
Das Haus der Langers war etwas größer als unseres und sehr klassisch und elegant eingerichtet. Emmas Zimmer lag genau auf der gegenüberliegenden Seite, wo die Treppe aufhörte. Das hieß also, man konnte sofort hineinschauen, wenn ihre Tür offenstand. Die weiße Holztür war dieses Mal nur einen Spalt geöffnet. Ich trat ein und begutachtete, ob auch noch alles an seinem Platz war. In der Tat. Rechts das Bett, über dem Fußende, wie immer, ein Fenster und direkt links daneben, ihr Schrank. Er war aus Ebenholz und somit das dunkelste in diesem Raum, wenn man davon absah, dass ansonsten alle Möbel weiß waren. Links der Schreibtisch, der, genau wie meiner, vollbepackt war und geradeaus von mir, genau in der Mitte, der gegenüberliegenden Wand, lag das Herzstück des Raums. Vielleicht machte auch allein dieses, ihr Zimmer zum schönsten. Dort stand ein alter Backsteinkamin, der, passend zu den Wänden, mehrfach weiß übermalt war. Auf der Ablage standen ihre Glücksbringer. Familienfotos, Fotos von Freunden und kleiner Schnickschnack, wie unechte Diamanten und Fossilien. Das Foto von ihr und mir hatte zwar den gleichen silbernen Rahmen wie die anderen, aber unser war der einzige, der in einem Halbkreis gebogen war. Auf der rechten Seite lagen mehrere schwarze Streifen, die ineinander ragten und dessen Breite deutlich herausstach. Wenn man mit dem Finger drüberfuhr, spürte man dort eine Wölbung. Ich wusste nicht aus welcher Sprache dieses Zeichen, kam aber es bedeutete Zusammenhalt. Ein eher unpassendes Wort, in ihrer Gegenwart. Zwar konnte ich mich immer auf sie verlassen, und würde sich alles nur um mich drehen, wäre sie die perfekte Freundin gewesen, aber ich hatte es satt, für sie immer im Mittelpunkt zu stehen. Ich konnte mit ihr offen über meine Probleme reden und sie hörte mir immer geduldig zu, aber wenn es um sie ging, beziehungsweise das, was ihr wirklich auf der Seele lag, fiel ich aufs Glatteis. Ich wusste, dass es kein einfaches Thema für sie war, dass bei ihrer Mutter jederzeit Krebs diagnostiziert werden konnte, aber nicht darüber zu reden war auch keine Lösung. Gerade weil ich so gern für sie da sein wollte. Ich wollte dass sie weinte, wenn sie es musste und ich sie dann beruhigte und ihr Mut zureden konnte. Ich setzte mich auf ihr Bett und legte meine Tasche auf den Boden. Dann hörte ich Fußstapfen die Treppe hochkommen und wenig später trat sie in ihr Zimmer ein mit einem Tablett in den Händen, auf dem Käsebällchen und Apfeltaschen ruhten.
Mir lief sofort das Wasser im Mund zusammen.
„Willst du etwas?“
„Ja, danke.“
Sie hielt mir das Tablett entgegen und ich griff nach einer Serviette und einer Apfeltasche. Genüsslich biss ich hinein, während sie sich auf ihrem Schreibtischstuhl niederließ.
Sie nahm sich einige Käsebällchen und musterte mich. „Ist alles ok mit dir?“
Perplex schaute ich auf. Ja, ich war etwas verstört wegen ihr, aber sah man mir das etwa sofort an?
„Ja und nein“, gab ich zu.
„Warum?“
„Vorne weg einmal kannst du dich beruhigen, es hat nichts mit dem Üblichen zu tun.“ „Aha“, meinte sie skeptisch, „Womit dann?“
Ich aß die Apfeltasche noch schnell auf, bevor ich das Gespräch mit dem bittersten Ausgang meines Lebens erlebte.
„Mit deiner Mom.“
Sofort wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. „Was sollte mit meiner Mom nicht in Ordnung sein?“
Das weißt du ganz genau!
„Im Prinzip nichts …“
„Warum sagst du es dann“, zischte sie.
Auweia, wenn sie jetzt zickig wurde, konnte das nichts Gutes heißen. Denn dann würde sie sich sicher nicht öffnen, sei ich nun ich oder jemand anderes, bis auf Julie Langer. Also musste ich schneller handeln als erwartet. Ich musste die Fakten sofort auf den Tisch knallen. Das konnte ja noch schön werden! Aber es wurde reinster Horror.
„Emma, wir beide wissen, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass sie irgendwann mal Krebs haben könnte! Jeder hier weiß es! Und glaubst du etwa, du wärst die einzige, die sich Sorgen macht? Was glaubst du, wie es deinem Dad geht, von ihr ganz zu schweigen!“
Sie knallte das Tablett auf den Tisch und stampfte wutentbrannt auf mich zu.
„Katrin! Was mit meiner Mom los ist, geht dich nicht das Geringste an, also halt dich bitte daraus!“
„Natürlich geht es mich etwas an! Victoria und sie sind die besten Freundinnen und alles was sie Victoria erzählt, bekomme ich auch mit!“
Scheiße! Der letzte Satz war reiner Selbstmord gewesen. Wie würde sie sich denn fühlen, wenn sie erfuhr, dass ihre beste Freundin mehr wusste, als sie selbst?
„Schon für dich“, schrie sie mich an, „Schön für euch alle, dass ihr so gut auf dem Stand gehalten werdet!“
Ich stand auf und näherte mich ihr. Sie hatte sich neben der Tür eingerollt und ihr Gesicht in ihren Armen vergraben. Sie schluchzte leise. Ich bückte mich zu ihr um sie zu trösten und hoffte, dass es half.
„Aber das macht sie doch nur, weil sie dich damit nicht belasten will. Sie macht das nur zu deinem Schutz.“
„Zu meinem Schutz?“, schrie sie und entblößte ihr nasses Gesicht und die Haare, die darauf klebten, „Besser ich weiß es und habe Klarheit darüber, als mich nur im Dunkeln tappen zu lassen!“
Mitfühlend strich ich ihr über die Schulter. „Ich weiß, was glaubst du, wie es mir mit meinem Dad geht? Aber es ist sicher nicht leicht für sie, es dir zu sagen. Sie wird auch sicher ihre Gründe haben! Und immer besser nichts, als zu wenig!“
Sie starrte mich ungläubig an. „Warum hast du mir denn eigentlich nichts gesagt, wo du doch alles gewusst hast?! Ich dachte, wir wären Freunde!“
Stellte sie jetzt auch noch unsere Freundschaft infrage? Was war mit ihr los, dass sie so war?
„Emma, wir sind auch Freunde!“, versicherte ich ihr.
„Gut“, flüsterte sie, „Dann kannst du mir ja jetzt alles sagen, was du weißt!“
Wie stellte sie sich das denn vor? Ich konnte ihr nicht einfach alles sagen. Victoria hatte es mir anvertraut, weil sie, bis auf meinen Dad, alles mit mir teilte. Mrs. Langer wusste natürlich auch davon, dass ich es wusste aber würde ich es Emma jetzt erzählen, hätte ich ihr und vielleicht auch Victorias Vertrauen missbraucht, und davor hatte ich jetzt weitaus mehr Angst, als vor einem Konflikt mit Emma.
„Das würde ich gerne aber ich kann es nicht. Was Victoria mir erzählt hat, hat sie im Vertrauen getan. So sehr ich es auch wollte, ich kann es nicht“, versuchte ich sie begreifen zu lassen, aber ich wusste ohnehin, dass alles, was nun nicht nach ihrem Willen geschah, gegen eine Wand prallte und sich in Gift verwandelte, welches sie einatmete und noch bissiger machte.
„Na gut“, sagte sie trocken, „Und was ist, wenn ich dir keine andere Wahl lasse?“
„Was meinst du?“
„Was ist, wenn ich morgen in die Schule renne und allen erzähle, wie unnormal du doch bist? Angefangen mit Sam.“
Entgeistert starrte ich sie an. Was sollte das? Wo war ich hier und wer war sie? Ich musste im falschen Film sein, es gab keine andere Möglichkeit. Versuchte sie etwa mich zu erpressen! Nein, das konnte nicht sein! Niemals sie!
„Was soll das Emma?“
„Was das soll? Du hast dein eigenes großes Geheimnis, was nur dich etwas angeht. Ich sollte auch ein Geheimnis haben dürfen, eines, was nur mich etwas angeht, findest du nicht auch? Nämlich die Aufklärung, was mit meiner Mom los ist und du, was mit dir los ist. Das komische ist nur, dass du alles über dich weißt und auch alles darüber, was mit Mom los ist, und ich nicht! Obwohl ich ihre Tochter bin! Ihre einzige Tochter! … Aber wer weiß“, sie wickelte eine Strähne um ihren Zeigefinger, „Vielleicht bist du ja bald schon ihr neues Kind.“
Erschreckt von ihren Worten fiel ich nach hinten zurück. Wie konnte sie nur! Spann sie denn jetzt völlig? Aber jetzt reichte es mir. Ich musste mir das nicht mehr länger anhören. Das Fass war schon lange übergelaufen. Ich konnte sie jetzt nur noch alleine lassen und hoffen, dass sie sich beruhigte. Aber zuerst wollte ich ihr nochmal tüchtig den Kopf waschen, damit sie wieder zu sich kam. Ich hievte mich hoch und schaute auf sie herab.
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt! Hör auf solchen Misst zu erzählen!“
 Sie sah nur trostlos zu mir auf. „Sag mir einfach, was ich nicht weiß.“
„Das kann ich nicht!“
Ich wusste nicht, wann sie es endlich kapierte, dass es nichts half. Wenn Mrs. Langer wollte, dass sie es wusste, würde sie es ihr schon selbst sagen. Dazu brauchte sie nicht mich. Plötzlich rappelte sich Emma hoch, polterte zur Tür und riss sie auf. Dann sahen ihre grünen hasserfüllten Augen in meine und sie schrie mich so heftig an, dass Gläser hätten zerspringen können, ständen sie auf dem Schreibtisch.
„Dann geh! Verschwinde! Raus aus meinem Haus!“
„Emma, bitte“, versuchte ich sie zu beruhigen und kam auf sie zu.
Das machte sie aber nur noch wütender.
„Verschwinde!“, schrie sie mich erneut an und trat zurück, damit ich nicht näherkam. „Emma …“
Und dann passierte es. Bevor ich oder sie uns überhaupt noch bewegen konnten oder irgendetwas sagten, prallte der Bilderrahmen (unser!), gegen ihren Hals und drückte sie gegen die Wand. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich drehte mich zum Kamin um, auf dem der gebogene Rahmen als einziger fehlte und sah dann direkt wieder zu ihr. Ich hatte keine Ahnung, wie und warum er dorthin gelangt war, aber für derartige Gedanken war überhaupt keine Zeit. Emmas ganzer Körper zappelte durch die Luft, ihre Beine berührten kaum den Boden, obwohl sie problemlos hätte stehen können. Ihre Hände rissen sich um den Hals, um den Rahmen, die Augen waren zugekniffen und der Mund stand sperrangelweit offen. Erst nach einer Weile, hörte ich, dass sie schrie, und wie! Sie schrie, als würde sie am lebendigen Leib ersticken und diesen Gedanken teilte ich mit ihr, denn der Rahmen presste und quetschte ihren Hals so sehr ein, dass es nicht gut für sie aussah. Irgendetwas mit: „Hexe!“, hörte ich von ihr. Dieses Wort verletzte mich doch schon, aber ich dachte gar nicht weiter groß darüber nach und hechtete zu ihr, um ihr das Ding vom Hals zu reißen. Es war sehr schwierig. Ich hörte gar nichts mehr, noch nicht einmal ihre Schreie und das war so gut wie unmöglich. Ich sah nur das silberne Teil vor meinen Augen und ihre Finger, die wie Krallen versuchten, es abzukriegen. Aber es war egal, was ich tat. Der Rahmen wollte nicht abgehen. Es war, als haftete er wie ein Magnet an ihr.
Aber er muss es! Ansonsten wird sie ersticken!
Ich brauchte irgendetwas, das mich ablenkte. Etwas, dass mich auf andere Gedanken brachte und mir neue Kraft verlieh, und zwar schnell! Ich durchrannte mein Gehirn wie eine Bibliothek und stieß zu meinem Glück sofort auf etwas. Anthony. Ich dachte an ihn und seine Person und stellte mir ihn vor, wie er aussah, während er Victoria im Arm hielt und sie glücklich anlächelte, als wäre sie das Beste, was ihm je passiert war, und das war sie. Ich klammerte meine Finger erneut an das Metall und zog es mit aller Kraft zu mir und es wirkte.
Mit einem gewaltigen Druck, brach ich ihn von ihrer Haut ab und fiel nach hinten zurück. Er kam etwas weiter von mir am Boden auf, das Metall überall übersät mit Kratzern. Während ich mich wieder aufrappelte, sank Emma vor mir zu Boden, den Hals immer noch fest umklammert. Sie schrie nicht mehr aber sie weinte. Ich wusste nicht, ob sie es tat, weil sie Schmerzen hatte oder aus Angst, was der Druck des Rahmens mit ihrer Haut angestellt hatte.
Vor meinen Augen bildete sich eine dünne klare Schicht, die sich vor meine Pupille schob, wie eine kleine durchsichtige Wand. Es sah aus, wie eine Mischung aus Wasser und Salz. Dann, als ich überhaupt erst begriff, was sich hier abspielte, was ich ihr angetan hatte, rann sie mir ununterbrochen über mein Gesicht, bis hin zu meinem Hals. Einige Tropfen schleuderten auch weg, als ich zu ihr krabbelte, mich zu ihr bückte und versuchte ihre Finger wegzudrücken, um mir ein Bild von meiner Tat zu machen. Aber sie ließ es nicht zu. „Emma bitte! Lass es mich ansehen.“
Mit einem leichten Stöhnen hielten ihre Hände langsam still, sodass ich sie beiseiteschieben konnte und Einblick bekam. Ich musste ehrlich sein, es sah absolut furchtbar aus. Sie blutete zwar nicht zum Glück zwar nicht, aber die Abdrücke ließen sich gut erkennen. Besonders gut das Zeichen für Zusammenhalt auf ihrer linken Seite. Es war deutlich tief eingedrungen und pochte heftig, als ich meinen Zeige- und Mittelfinger auf die Wunde legte. Dabei zuckte sie zusammen. Der Rest des Halses war rot, leicht angeschwollen. Ich amtete leicht auf, obwohl ich es immer noch bereute. Aber zumindest war es keine offene Wunde. Sie öffnete ihre Augen und umklammerte meine Handgelenke, um sich etwas zum Greifen zu nehmen.
„Und?“, hauchte sie.
Ich fand keine passenden Worte dafür. Ich hätte ihr einfach sagen können, dass es nicht blutete oder es nur halb so schlimm sei, wie ich es mir vorgestellt hatte. Aber das konnte ich nicht. Denn für mich war ohnehin schon schlimm, dass ich für all das verantwortlich war. Selbst wenn sie nichts abgekriegt hätte, hätte ich es ihr nicht sagen können. Ich stand unter Schock über mich selbst, obwohl ich gar nicht so recht wusste, was gerade passiert war.
Als ich nichts sagte, kniff sie ihre Augen zu und ein paar Tränen rollten ihr über die Wangen. Dann schlug sie sie wieder auf und holte erneut aus.
„Bitte sag mir, was du weißt“, flüsterte sie.
Ich konnte nur den Kopf schütteln. „Es tut mir leid.“
Sofort zog sie sich an meinen Handgelenken nach oben und umarmte mich, während sie erneut in Tränen ausbrach. Ich lachte ironisch in mich hinein. Davon hatte ich doch die ganze Zeit geträumt. Das sollte eines meiner Ziele für heute gewesen sein. Sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Aber so hatte ich es mir garantiert nicht vorgestellt! So saßen wir dort sicher fünf Minuten, bis ich mich von ihr löste und sie hochzog.
„Komm, wir gehen runter. Deinen Hals kühlen.“
Sie ließ sich von mir hochziehen, wollte jedoch alleine die Treppe heruntergehen. Ich entschloss mich vorzugehen. Dann hätte ich sie auffangen können, würde sie stürzen. Aber das tat sie nicht. Ich brachte sie ins Wohnzimmer, wo sie sich auf das Sofa setzte. Dann ging ich in die Küche und nahm mir zwei, drei Küchenhandtücher, die ich unter einen eiskalten Wasserstrahl hielt. Dann wrang ich sie tüchtig aus, legte sie übereinander und faltete sie zusammen, dass sie eine lange Linie ergaben. Ich rannte sofort wieder zu Emma und legte es ihr um den Hals. Sie atmete tief durch, als das Kalte ihre Wunde berührte.
„Danke“, sagte sie.
„Kann ich sonst noch was für dich tun?“
„Ja. Könntest du bitte gehen? Ich möchte jetzt allein sein.“
„Ok.“
Normalerweise hätte ich sie doch anflehen sollen noch dableiben zu dürfen, aber es war auch zu viel für mich. Ich holte meine Tasche von oben und verabschiedete mich schnell von ihr.
„Und Katrin“, rief sie mir noch hinterher, wobei ich stehen blieb und mich umdrehte, „Es tut mir leid.“
Damit meinte sie alles, was sie mir an den Kopf geworfen hatte, von verratener Freundschaft, bis hin zur Hexe. Ich brachte ein kleines Lächeln über die Lippen, mehr aber auch nicht.
Als ich vor dem Haus stand und die kalte Abendluft einatmete, wusste ich, wo ich jetzt nur noch hinwollte. Nach Brockence, zu ihnen um Matt alles zu erzählen, in der Hoffnung, ich könnte mich bei ihm ausweinen, was ich eigentlich nicht verdient hatte. Nur wie sollte ich so leicht dorthin kommen? Zu Fuß brauchte ich mit Sicherheit zwei Stunden. Dann, ähnlich wie es mir mit Egon Levoy ergangen war, sah ich links von mir, wie eine junge Frau aus einem Haus, drei Häuser weiter von hier, kam. Ich erkannte sie sofort. Langes schwarzes Haar nach hinten gebunden, die kleine Brille auf der Nase und das kleine graue Auto, auf das sie zuging. Es war Regina Robin, eine Nachbarin von uns, Mitte zwanzig. Sie musste wohl gerade ihre Eltern besucht haben. Sie war einer der liebenswürdigsten Leute, die in unserer Straße wohnten. Sie hatte vor kurzem bei Risseck, der Versicherung, in der auch meine Mom arbeitete, angefangen. Daher kannten sie sich auch so gut.
„Mrs. Robin“, rief ich sie und lief auf sie zu.
Sie wandte sich zu mir um und erkannte mich sofort. „Katrin, schön dich zu sehen“, strahlte sie.
Das Lächeln verging ihr jedoch schnell, als ich vor ihr stoppte und sie mein Gesicht sah. „Was ist denn mit dir passiert?“, fragte sie geschockt, „Weiß deine Mom, dass du hier bist?“
Ich nickte. „Ja, dass weiß sie. Können sie mich bitte nach Brockence fahren?“
Ich wusste, dass ich sie damit praktisch überrumpelte, erst recht mit dem Ort und meinem Zustand, aber ich konnte nicht anders. Sie war die einzige weit und breit, mit der ich mitfahren konnte.
„Brockence“, erkundigte sie sich, mit offenem Mund.
„Ja“, keuchte ich von alle dem, was mir in den letzten Stunden widerfahren war, „Victoria wartet dort auf mich.“
Sie starrte mich noch immer ungläubig an. Ich wusste, die Vorstellung, Victoria könne dort auf mich warten, war absolut absurd, wenn man von den Vorurteilen des Ortes ausging. „Bitte“, flehte ich sie an.
„Na dann steig mal ein“, sagte sie schließlich.
Normalerweise redete sie immer viel und gerne, obwohl sie nie tratschte, aber während dieser Autofahrt war sie absolut still. Aber es konnte mir egal sein, denn mit jedem Meter kam ich meinem Ziel näher. Als wir das Schild jedoch erreicht hatten, blieb sie plötzlich stehen. Verwundert sah ich sie an.
„Ich fahre nicht in diesen Ort“, machte sie mir klar, „Du kannst jetzt aussteigen wenn du willst, aber ich fahre keinen Meter weiter.“
Die Vorurteile hatten bei ihr wohl gesiegt. Aber ich machte mir nichts daraus und stieg einfach aus, während sie umdrehte und wegfuhr. Es war fast dunkel geworden und eigentlich müsste ich durchgedreht sein, als ich die Straßen langging aber es war mir egal, wie alles aussah. Mir war das Geraschel von überall egal, die verlassenen Straßen und die Häuser. Sogar ein paar Kindern begegnete ich, während ich weitermarschierte. Ich sah die ganze Zeit Emma vor mir, wie hilflos sie jetzt dasitzen würde. Ich hatte überhaupt keine Ahnung ob sie jetzt Schmerzen hatte oder nicht. Ich hoffte es nicht aber ich vermutete es. Durch meine wild durcheinander gewürfelten Gedanken, erreichte ich Matts Haus und damit eine der wenigen Straßen, die durch eine Allee in zwei geteilt wurde, schneller als erwartet. Ich drückte einfach irgendein Namensschild und wartete. Recht schnell öffnete mir Shaynia die Tür, verwundert über meinen Besuch, obwohl ich doch eigentlich jeden Tag hierherkam, und natürlich über mein Gesicht, meine Tränen, die zwischenzeitlich schon getrocknet waren, aber es würde nicht mehr lange dauern, dass ich erneut in Tränen ausbrechen würde, das spürte ich. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu, dann ging ich geradeaus den Flur durch und stellte mich in die Tür des Raums, der die meisten Laute von sich gab. Das Esszimmer.
Urplötzlich wurde es still. Alle Augen waren auf mich gerichtet, ich aber nur auf einen Speziellen. Matt. Er schaute mich mit großen Augen entsetzt an. Geradezu schockiert. „Was machst du hier?“
„Ich muss mit dir reden.“
Damit er mich nicht gleich wieder wegschicken konnte, sprach ich in einem sehr ernsten Tonfall und es wirkte. Er wandte sich Charlene Cabot zu und gab ihr ein kurzes Handzeichen. Danach drehte er sich wieder zu mir, packte mich am linken Arm, dessen Hand ich inzwischen zu einer Faust geballt hatte und durchquerte mit mir fast das halbe Haus. Inzwischen war mir egal ob er mich zerrte, dass ich ab und an stolperte oder gegen eine Wand prallte. Mir war auch egal, ob er mich anschreien würde oder sonst etwas mit mir machte. Während der Autofahrt hatten sich Tränen in meinen Augen gesammelt. Jetzt mussten sie nur noch raus. Egal wo ich weinen würde, egal wie lange ich weinen würde. Es war mir einfach nur egal Alles war mir egal. Ich hörte nicht mein leises Keuchen vom Laufen, falls mir Matt etwas gesagt hatte, hatte ich es auch ignoriert. Das einzige, was ich hören konnte, waren die Schreie von Emma. Laut, schrill und unerwartet. Ich sah nur noch ihre Wunden vor mir. Ein helles Rot. Eine eingedrückte Haut. Hätte sie nicht sofort aufgeschrien, wäre sie vielleicht schon erstickt gewesen oder ihre Hauptschlagader wäre durch den großen Druck geplatzt oder wäre zerquetscht worden. Am liebsten wäre ich noch bei ihr geblieben und hätte mich um sie gekümmert. Ihren Eltern und keinem Arzt der Welt könnte sie die Umstände und das Verfahren bis zu den Wunden erklären. Und selbst wenn, würde ihr das niemand glauben wollen, da es wissenschaftlich gesehen, vollkommen unmöglich war. Man würde sie in eine Klinik einweisen lassen oder ich dürfte nie wieder mit ihr reden und ihr, wie man es aus Filmen kennt, nicht näher als hundert Meter kommen. Es war ein schrecklicher Albtraum. Selbst Chris würde in dieser Situation die Liebe zu Horror für einen sehr langen Zeitraum vergehen und wenn einer wie Chris sein Lieblingshobby selbst aufgab, musste es schon etwas Extremes sein.
Als Matt die Treppe zum Korridor hochlief, mich immer noch mit sich zerrend, stolperte ich über die letzte Stufe und schleuderte an die gegenüberliegende Wand. Kurz dachte ich mich übergeben zu müssen, danach sah ich für einige Augenblicke nur noch Schwarz und die Narben verschwammen im Hintergrund. Das Pochen meines Hinterkopfes bemerkte ich nur leicht, auch, dass sich unsere Hände für einen Moment lösten. Umso mehr zuckte ich zusammen, als er mich erneut am Handgelenk packte, aber so fest, dass ich damit rechnete, er könne meinen Puls spüren. Falls ich überhaupt noch einen hatte! Obwohl meine Hände zitterten und halb taub waren, wollte ich mir schnell gewiss sein, dass da, wo es pochte, kein Blut an meiner Hand kleben blieb. Doch bevor ich an meinen Kopf kam, riss mich Matt wieder hoch und schleifte mich weiter durch den Korridor, der mir unendlich lang vorkam. Alles, was ich von da an nur noch mitbekam war, dass eine Tür aufging und sich der Boden unter mir auflöste.
Danach wurde mir schwarz vor Augen. Die Schreie wurden dünner und leiser, bis sie endgültig verstummten. Ich sah kein Hell und kein Dunkel mehr und hörte kein Laut und kein Leise. Nichts. Genau dieses Gefühl hatte ich immer vermeiden wollen. Ausgeschlossen von der Welt zu sein. Zwar konnte man diese Situation nicht mit einer Auslöschung aus der Menschheit vergleichen, aber es fühlte sich so an, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Nur rechnete ich nicht damit, dass ich am Ende allein sein würde. Mit Victoria als Zauberin hatte ich gerechnet. Mit Matt und seiner Familie, auf jeden Fall mit Shaynia, da sie selbst meinte, sie verstehe mich besser als alle anderen. Auf Emma hätte ich mich gefreut, obwohl man es ihr nicht übel nehmen konnte und wenn, dann eindeutig als letztes. Es war viel schlimmer als ein Albtraum, wie ein Labyrinth aus dem man nicht mehr herausfand. Ich fühlte mich so eingeengt, obwohl ich mich im bloßen Nichts befand.
Dann, nach gefühlten fünf Stunden, zogen sich aus dem Schwarz von allen Seiten Mikrometer dünne weiße Fäden. Sie alle bildeten einen kleinen Kreis. Die Fäden steuerten auf den unsichtbaren Punkt in der Mitte des Kreises, bis sie sich dort trafen und zu einer kleinen weißen Kugel zusammenzogen. Diese schwebte förmlich im Kreis, löste sich dann aber und zeigte einen Nebelschleier. Hinter den hauchdünnen Massen, trat eine erneute Art von Nebel hervor. Diese war nun nicht mehr hauchdünn, sondern sehr kräftig und stark. Dunkelrot, in welches noch ein paar Tupfer des schwarzen Jenseits verliefen. Die Masse zog sich so schnell zusammen, dass ich dachte, sie würde auf der Stelle wieder verschwinden. Doch sie wurde immer kleiner und formte sich zu einem Oval. Den Umriss überzog eine dünne Schicht aus Metall und formte waagerecht noch einen Kreis. Das Endergebnis war ein wunderschöner, außergewöhnlicher Ring. Gerade als ich ihn greifen wollte, formten sich die Umrisse einer Hand und wurden von weißem Licht durchflutet. Vor mir schwebte eine lebendige Hand mit dünnen Fingern und einer kreidebleichen Haut. Die Fingernägel waren ungleichmäßig gefeilt, wenn man das so sagen konnte, und noch schwarzer als das, welches um mich herumschwirrte und an welches ich mich bereits gewöhnt hatte. Durch das Strahlen der Hand bekamen die Nägel einen glänzenden Schein, wie ein Lack. Der Ring hatte seinen Platz auf dem Ringfinger genommen. Minutenlang formte die Hand schöne Sachen, elegant und verzaubernd. Plötzlich erstarrte sie und schwebte auf mich zu. Obwohl ich Angst hatte, vertraute ich ihr und ließ mir von ihr die Augen schließen. Erst sah ich nur weiß, da das Licht der Hand durch meine Haut drang. Das grelle Weiß verdunkelte sich sehr schnell, zu meinem Entsetzen. Ich wollte nicht wieder im Schwarzen liegen. Den sanften Druck der Hand konnte ich aber noch spüren. Auch, dass der Druck immer leichter wurde und verschwand.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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