Helke Meierhofer-Fokken

17,77 Euro

In einem Supermarkt herrschte an einen Nachmittag die übliche Flaute. Der Mittagsansturm war vorbei, die ‚Nach-Dienstschluss-Käufer‘ sassen noch in ihren Büros. Gewöhnlich mischten sich die beiden Ströme. Heute waren die Gänge zwischen den Regalreihen ungewöhnlich leer und deshalb nur eine Kasse geöffnet. Trotz der wenigen Käufer bildete sich rasch eine Schlange davor. „17,77“, sagte die Kassierin zu dem Kunden, der am nächsten zur Kasse stand. „17,77?“ fragte der recht ungläubig. „17,77!“, wiederholte die Kassiererin und wies mit ihrem Zeigefinger, von dessen Nagel der Lack ziemlich abgesplittert war, auf das Display der Kasse, die exakt diesen Betrag anzeigte. Der Kunde bezahlte und packte dann seinen recht umfangreichen Einkauf in zwei mitgebrachte Papiertüten. ‚Schnell weg hier‘, dachte er, ‚ehe die Madame merkt, dass sie sich vertippt hat‘. Diese indes scannte bereits die nächsten Artikel in die Kasse. „17,77“ hörte er und sah auf. Der Kunde nach ihm begann einen lautstarken Protest. Er habe nur diese drei Artikel gekauft, die niemals im Leben so viel kosten konnten. Die Kassierin zeigte wieder auf die Kasse. „17,77!“, wiederholte sie stoisch. Nach einigem Hin und Her, nun sichtlich genervt, stornierte sie den Zahlungsvorgang und scannte die Waren erneut ein. Das Ergebnis änderte sich nicht, es blieb bei 17,77 Euro. „Ich will, dass Sie die Preise von Hand eintippen!“, verlangte der aufgebrachte Kunde. „Geht nicht!“ bekam er zur Antwort, „die Preise stehen nicht mehr auf der Ware, nur am Regal. Sie können dort…“ Der erboste Mann liess sie nicht ausreden, stürmte aus dem Laden, ohne zu bezahlen, ohne die Ware mitzunehmen.
Der Scanner bearbeitete bereits die den nächsten Warenberg, der sukzessive  auf dem Laufband vorwärts ruckelte. Lebensmittel, Socken , ein Tranchiermesser. Routiniert strich die Kassiererin über den Strichcode, Piepton für Piepton bestätigte, dass der Preis erfasst war. „17,77 Eu….“. Der Euro wurde quasi von der kassiererin verschluckt, er blieb ihr im Halse stecken. In ihr müdes Hirn drang die Botschaft vor, dass da irgendetwas nicht stimmen konnte. „17,77?“ wiederholte sie ungläubig. „Das glaube ich jetzt nicht!“ Erregt fuhr sie von ihrem Drehstuhl, drei Fragezeichen im Gesicht. „Chef!“ rief sie gellend. „Chef, komm mal!“ Sie sprang so heftig auf, dass der Stuhl eine Runde ohne ihre Last drehte, kletterte aus ihrem Verschlag, hob das Absperrband zur nächsten Kasse und verschwand in der Tür, die zu den Personalräumen führte.
Der Tumult an der Spitze der Schlange nahm ungeheure Ausmasse an und erreichte das Ende der Schlange wie ein Lauffeuer. „Die Kasse spinnt!“ meinte die vorderste Kundin. „Heute kostet alles 17,77 Euro.“ Dabei war allein schon das Tranchiermesser mit 19,98 Euro ausgezeichnet. In ihrer Stimme klang ein bisschen Sensationsgier mit, aber auch die Enttäuschung, dass aus dem Schnäppchen wohl nichts werden würde. Denn jetzt nahte der Chef des Supermarkts mit wichtigtuerischer Miene, im Schlepptau die verstörte Kassiererin.
Der Chef begann, die Waren des letzten Kunden erneut einzuscannen, Lebensmittel, die Socken, das Tranchiermesser…“17,77!“ bellte er. Die Kundin reichte hastig eine Zwanziger Note, das Rückgeld schepperte in die Auffangschale. Sie fischte es heraus, raffte ihre Ware in eine Tüte und verschwand. Der Chef scannte den nächsten Einkauf ein, der Scanner piepte, die Kasse ratterte…“17,77!“ – „Chef, Chef, das sag ich doch die ganze Zeit! Die Kasse stimmt nicht! Das ist schon der fünfte Kunde mit genau diesen verdammten 17,77 Euro!“ Die selbstbewusste Miene des Chefs verrutschte ein wenig. „Mach die andere Kasse auf!“ herrschte er seine Mitarbeiterin an. „Bitte, meine Herrschaften, beruhigen sie sich“, wandte er sich an die Schlange. „Bezahlen sie an der nächsten Kasse. Wir haben ein kleines Problem hier.“ Die Kassiererin hatte sich inzwischen auf den Drehstuhl der benachbarten Kasse geschwungen. Verzagt, mit zittrigen Händen scannte sie die Artikel des nächsten Kunden ein. Ihre Routine war dahin. Der Scanner streikte, wollte partout den Strichcode einer Packung Nudeln nicht lesen. Der Chef, der sich inzwischen hinter ihr aufgebaut hatte, riss ihr den Scanner aus der Hand, fuhr über den Code, es piepste. „17,77 Euro!“ verkündete er. „Das glaubt mir kein Mensch!“ murmelte die Verkäuferin.

Helke Meierhofer-Fokken Juli 2015

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