Manfred Bieschke-Behm

Strandspaziergang




Es langweilt Johannes, jeden Tag am Strand spazieren gehen zu müssen. Eigentlich müsste er nicht müssen, wäre da nicht seine Frau, die Strandspaziergänge seit über zwanzig Jahren nicht langweilig findet. Ganz im Gegenteil. Sie hat die Fähigkeit bei jedem Strandgang etwas Neues zu entdecken. Für Johannes ist das was er sieht, nichts Besonderes. Alles gehört hierher und muss nicht besonders hervorgehoben werden. Deshalb ist für ihn jeder Strandspaziergang langweilig und ohne Höhepunkte. Er läge viel lieber in einem nach der Sonne Ausgerichtetem weiß Angestrichenem und mit blau-weißem Stoff ausgeschlagenem Strandkorb, um einen spannenden Krimi zu lesen. Stattdessen folgt er seiner Gerda, tritt in ihre sich am feuchten Strand abgezeichneten Fußstapfen und wartet darauf, dass das Strandende alsbald erreicht sein würde. Da auf jeder Hintour, eine Rücktour folgt, kann sich jeder vorstellen, wie Johannes schon zu Beginn des täglichen Spazierganges leidet. Er kann nicht begreifen, dass es seiner Gerda immer wieder aufs Neue kindliches Vergnügen bereitet, wenn angespültes Meerwasser ihre Füße umspielt, sich kleine Luftblasen bilden, die, nachdem sie geplatzt waren, zusammen mit dem Wasser zurück zum Meer gespült werden. Gelegentlich bleibt Gerda für ihn unvorhersehbar abrupt stehen, Johannes hat jedes Mal Mühe nicht mit ihr zusammen Zustoßen. Mit schier endlosem Vergnügen versucht Gerda, mit ihren Zehen, Muscheln vom Strand aufzuheben. Obwohl sie dabei keine so gute Figur macht, denn sie steht dabei auf einem Bein, fuchtelt wie wild mit den Armen und versucht Balance zu halten, hält sie fest an diesem Ritual. Johannes ist peinlich berührt, seine Frau so zu erleben. "Sieh nur, sieh nur", was ich kann", hört Johannes sie freudig erregt sagen. "Willst du es auch einmal probieren?" "Nein will ich nicht." Immer wieder kommt es vorm, dass Gerda in eine Richtung, in der sie für sich Neues entdeckt hat. Johannes folgt ihrem Finger und sieht nichts Außergewöhnliches. Jedenfalls nichts, was Begeisterung auslösen könnte. Gerda lässt es Johannes manchmal spüren, dass er ihre Begeisterung nicht teilen kann. In solchen Momenten schaut sie ihn finster an und meint, dass er es immer wieder auf Neue schafft, ihre Urlaubsfreude zu trüben. Das liegt natürlich nicht in Johannes Absicht. Er liebt seine Frau und will auf gar keinen Fall, dass sie durch ihn getrübte Strandtage verleben muss. Er gibt sich große Mühe Unentdecktes zu entdecken. Gestern ist es ihm gelungen. Endlich war er es, etwas Unbekanntes aufzuspüren. "Schau Gerda. Hast du so etwas hier am Strand schon mal gesehen?" Freudestrahlend zeigte Johannes auf eine Möwe, die wild entschlossen war, einen Fischkadaver auseinanderzureißen. "Musst du mich auf so etwas Unappetitlichem aufmerksam machen?", beschwerte Gerda sich und schüttelte sich angewidert. Johannes war die Enttäuschung anzusehen. Nun gab es endlich mal etwas sensationell Neues, das er erblickt hatte, und stößt auf Ablehnung. Was man macht, ist verkehrt, denkt er und sieht seiner Frau betrübt hinterher, die zwar noch in Sichtweite war, aber sich schon so weit von ihm weg entfernt hatte, dass er ihre Fußspuren nicht mehr eindeutig folgen konnte. Durch schnelles Gehen war er bald in gleicher Höhe mit seiner Frau. Wortlos gingen sie nebeneinander her.
"Sieh nur die wunderschöne Muschel. Ist sie nicht wirklich schön?" Johannes konnte an der Muschel nicht besonders Schönes entdecken. Für ihn sah sie aus, wie die vielen anderen, die das Meer tagtäglich ausspuckt. Dennoch sagte er: "Die Muschel ist wirklich wunderschön. Wunderschön mein Liebes."
Während sich seine Frau darüber entzückte, dass sie ihre Schwärmerei mit ihrem Mann teilen konnte, dachte dieser: Und morgen ist wieder alles neu für sie. Er wird ihr auf Schritt und Tritt folgen und ab und zu so tun, als teile er ihre Begeisterung. Insgeheim wird er sich auf die Heimfahrt mit dem Zug freuen, weil er hofft, dann endlich die Gelegenheit zu haben, seinen Krimi zu lesen. Wenn er Pech hat, wird daraus nichts, denn es kann passieren, dass seine Gerda das dringende Bedürfnis hat, ihm von Strand, Meer und Muscheln vorzuschwären und das er sich anhören muss, dass sie sich schon heute auf den nächsten Urlaub freue, auf gemeinsame lange erlebnisreiche Strandspaziergänge.   
 

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