Sven Eisenberger

Alte Freundschaft (1996)

Rückblickend lässt sich fast alles Geschehene einer Deutung unterziehen und fein gedeutet in einen Sinnzusammenhang einfügen. So entstehen Biographien.
Nach nahezu dreißig Jahren einer im Rahmen schulischer Zwangsvergemeinschaftung initiierten Bekanntschaft darf man sogar voneinander behaupten, dass man den anderen besser kennt als der sich selbst, obwohl einer solchen Behauptung stets etwas Anmaßendes anhaftet. Es hat Zeiten gegeben - eigentlich immer wieder -, da habe ich ihn ohne Zögern meinen besten Freund genannt. Zuverlässig, loyal und immer präsent, auch in guten Phasen – das Band unserer Freundschaft, eine aus Schweigen geflochtene Hundeleine. Nicht selten hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass wir einander wechselseitig ausführen, um irgendwo dabei zu sein und doch nicht teilnehmen zu müssen.
Er ist der einzige Bayern-Fan, auf den ich niemals mit einer Mischung aus Verachtung und Bedauern herabgeblickt habe. An zumindest einem Punkt hatte ich es viel leichter: Wer in Dortmund aufwächst, hat keine Wahl, ebenso wenig wie an dem Tag, an dem sich deine Familie auflöst und du ins Exil gezwungen wirst. Und dennoch, selbst die katastrophalsten Familienverhältnisse können kaum verhindern, dass die Generationenfolge des ahnenkulturellen Erbes ungebrochen fortgeführt wird. Lange bevor man das Gleichnishafte des Jahrzehnte währenden Tabellenplatzwechsels von ganz oben, Mittelmaß und ganz unten erfasst hat, ist man bereits Teil einer großen Ersatzfamilie mit emotionaler Dauerkartengarantie. Ob Du hingehst oder nicht, ob Abstieg, Meisterschaft oder Bankrott, ob auf der Beerdigung des Großvaters oder bei der Geburt des Sohnes - Du bist immer irgendwie dabei, dein Leben lang. Erst dann ist man in der Lage zu verstehen, warum es nicht um Fußball geht, sondern um Rückkehr und Erinnerung. Momente protofaschistischer Ekstase neben solchen schockgebannter Stille (damals in Düsseldorf, mehr sage ich nicht) und sinnloser Leere wie z.B. nach einem 0:0 gegen Darmstadt 98 an einem düsteren Mittwochabend. Ich rechne es mir hoch an, frühzeitig begriffen zu haben, dass im Grunde auch er keine Wahl hatte, als er sich für seinen Verein entschied. Wer in der gemütsversteppten Einöde der ostwestfälischen Provinz aufgewachsen war, der konnte sich nur schwerlich den Oberflächenreizen einer Postkartenmetropole entziehen. 1978! Hätte seine Wahl da nicht auf Köln oder Hamburg – nein, Berlin sicher nicht – als urbane Fußballheimstätten fallen müssen? Mumpitz! Karneval und zu viel Wasser sind des Ostwestfalen Sache nun mal nicht. Für den Weg zur Arminia, gerade wieder einmal aufgestiegen, fehlten ihm der ältere Bruder und die väterliche Begeisterung: Handball lag hier immer vorne. Das Heilsversprechen lag allein im Blick nach Süden, der Weg aus dem Nichts konnte für einen Vierzehnjährigen nur dorthin führen. Die alte qualvolle Revisionistenfrage: „Ich weiß nicht, wie ich mich damals verhalten hätte …!“
Vielleicht war diese Entscheidung tatsächlich vorhersehbar, weil erwartungsgerecht und planvoll abgearbeitet, wie so vieles in seinem Leben. Wenn aber nur die kleinste Verzögerung im ´Stufenplan des Lebens´ eintrat oder sich unbekannte Variablen in die Gleichung einschlichen – und welcher künftige Ingenieur glaubt nicht, es ließe sich letztlich doch alles be-, vor- und nachrechnen –, dann war die Katastrophe greifbar nah. Auch in seinem Leben verlief nicht alles nach Plan. Immerhin aber hatte er einen, wenn es auch nicht sein eigener war, und dieser Plan erlaubte es ihm, alles einem bestimmten Platz zuzuordnen. Was nicht hineinpasste, konnte dennoch als ´Erfahrungsgewinn´ verwertet werden. Er lernte konsequent aus begangenen Fehlern oder dem, was er als Irrtum betrachtete, ohne jemals den Gedanken zuzulassen, dass es im sogenannten ´Leben´ möglicherweise gar nichts zu lernen gibt. Die Frage, welch höherem Zweck das zu Lernende im Hinblick auf das unvermeidliche Ende überhaupt dienen sollte, schien ihm gleichsam ´lebensfern´.
Es war kein Zufall, dass es ihm auch nie gelang, Frauen mit dem entscheidenden zweiten Blick zu betrachten. Oftmals schien es, als würde er sie überhaupt nicht anschauen. Während ich den Schmerz in jugendlich-heroischer, mithin dümmlicher Pose in den Rang einer lebensbegleitenden Basiserfahrung erhob, ging er bereits nach dem ersten Liebeskummer dauerhaft auf Nummer sicher, ohne jemals die Selbstsicherheit des Unnahbaren zu erlangen.

Ach, mein teurer Freund: nun, da wir gemeinsam dem Alter entgegenstolpern, wäre es da nicht an der Zeit, ...?

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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