Conny Kirsten

Neulich beim Kaffee mit Luzifer

Neulich beim Kaffee mit Luzifer

Der lange Weg durch die Wirrnisse der modernen Welt beginnt mit Plastikwindeln und hört beim Leichenschmaus auf. Mit Tante Resi ein Hochgenuss. Sowohl bei dem einen wie dem anderen.

„Hört genau hin, sie spielen euer Wiegenlied. Jetzt. Alle wissen das. Aber keiner spricht darüber. Denkt nicht nach, denn der Holocaust eurer Gedanken endet auf dem Scheiterhaufen. Wie auch immer“, sprach Luzifer, der kleine, freundliche Herr am anderen Ende des Tunnels. „Wie auch immer“, säuselte er. „Wohin des Weges?“

Und er kicherte leidlich amüsiert über die hochgezogenen Augenbrauen seiner Klienten. Als wüsste er nicht, wohin die Reise führt. Immer weiter und um die Ecke natürlich. Umweg inbegriffen. Es gibt keine Erlösung, außer du tust es. Und so tapfer durch den Tunnel hindurch ins helle Scheinwerferlicht einer apokalyptischen Welt mit zu viel Glamour und Abgrund. „Wir müssen alle dadurch, meine Liebe“, säuselte Tante Resi. Und betupfte ihre sardonisch verkrümmten Mundwinkel.

Am anderen Ende des Tunnels versteckte sich das Kind hinter den Häusern aus Glas. Die sanften Lichter der Großstadt schienen es gnädig zu bedecken. Die Schatten der herabfallenden Engel wollten keinen Sinn ergeben, jedoch keuchte hier und da ein Hund und schnappte nach den energetischen Fetzen. Das Kind betrat mit einem lautlosen Schrei die Bühne der Todeszone und spürte zugleich nur den Entzug der Mutter. Diese sank zusammengekrümmt am Küchentisch in einem fernen Universum und betete um Schlaf, der sie längst befallen hatte.

„Willkommen Evolution!“ Schweigend betrachtete das Kind die dunklen Straßen und die flatternden Schatten. Mit einem Ruck zog es sich am Kleid der Mutter empor und drehte sich zum gütigen Mond, der heute nur aus einer wenig Licht spendenden Sichel bestand.
„Welchen Weg gehst du? Denkst du, dich rettet irgendeine Religion vor der Auflösung von Zellen und Synapsen?“ Tante Resi rührte gedankenverloren in ihrem Tee. „Mich vögelte einst ein Homme, der hieß Pierre, aber das sollte ich vielleicht nicht erwähnen. Wichtig ist, dass er die besten Baguettes der Stadt verkaufte. In dem Moment des Verzehrs fand ich den Genuss der Leichtigkeit wieder.“

Keiner, der je Tante Resi ansah, konnte sie sich im selben Gedanken mit Leichtigkeit vorstellen. Sie war so dürr wie die Mumien in den Pyramiden, und doch sahen ihre Augen so schwer wie riesige Diamantminen aus. „Welchen Weg also gehst du Kind?“ Und das Kind wandte seinen Blick ab vom wenig Trost spendenden Mond hin zur kleinen versteckten Pforte an der Tunnelwand. Diese schwang auf und wie durch Zauberhand erschienen Stufen im kalten Licht der Straßenlaternen.
„Fürchte dich nicht“, kicherte Luzifer. „Ich biete dir Armageddon und die Apokalypse vom Allerfeinsten. Sonntägliche Gebete und Absolution inbegriffen.“ 
Das Kind betrat zögernd die schwarze Röhre und entkam nur knapp wild herumsausenden TV-Geräten, die ohren- und gedankenbetäubende Serien über hirnamputierte Teenager und Hausmädchen ausspuckten. Irgendwo anders wurden gefährliche, grüne WC Bakterien vernichtet.

Nach einer 6-jährigen Weile saß das Kind bei Luzifer am Tisch und trank Kakao. Ohne Strohhalm, in des Teufels Küche war die Inflation ausgebrochen. Heutzutage glaubten weniger an das eine, wie das andere und er konnte sie sich schlichtweg nicht mehr leisten. Tante Resi war sowieso der Meinung, dass früher alles besser, aber auch plakativer war. Und die Geheimnisse erst. Wer offen am Tisch über Menstruation sprach, wurde sofort erschossen.

Luzifer betrachtete das Kind und befand es mit zu vielen Synapsen versehen. Er holte Kaugummis und Tickets für Disneyland hervor; gegen ein bisschen Seele selbstverständlich. Gefühlte 300 Jahre Toilettenreinigung bei ihm und es würde wie geschmiert laufen. Er kicherte wieder. „Hach, welch Wortspiel. Teuflisch gut!“ Das Kind wandte ein, es müsse erst den Vertrag genau lesen. Tante Resi jammerte stets übers Kleingedruckte, das aus vielen gespaltenen Zungen bestand. „Verdammt auch“, dachte das Kind, „und welche davon spreche ich?“ Es hatte weder Fleisch noch Fisch und sah nur an Grashalmen empor. „Ich bin unschuldig“, doch es hatte vom Kakao gekostet und nichts ist umsonst im Leben, nicht wahr?

Das Kind betrachtete nachdenklich seine Hände und sah die Adern durch seine zarte Haut schimmern. Genauso dünnhäutig waren die Nerven seiner Mutter, bloßgelegt und arg gestaucht. „Ich muss wieder zurück“, sprachs und rutschte vom Stuhl. Luzifer schaute ihm säuerlich nach.

„Die Jugend ist auch nicht mehr das, was sie...ach egal“, er zuckte mit den Achseln. „Ich brauche nur via Medien auf mich aufmerksam machen, dazu ein paar bunte Kügelchen und Voila, die Suppe wird heiß serviert.“

Tante Resi starb zwischenzeitlich in ihrem Bett an akuter Misanthropie. Das Kind erreichte sein vermeintliches Zuhause nach langem Umherirren zwischen dunklen Ecken und bizarren Straßennamen. Dazwischen lagen zwei neue Bürgerkriege und mindestens ein Vulkanausbruch. Die Schmerzen seiner Geburt immer noch hinter sich herziehend, erlaubte es sich viele Blicke in die seltsame Dunkelheit des Lebens mit all seiner Ironie und natürlichen Schönheit jenseits jeglicher plastischen Chirurgie.
„Das nächste Mal“, dachte das jetzt nicht mehr junge Kind mit Bartflaum traurig, das nächste Mal nehme ich doch den Kaffee.



Neulich um 3 Uhr morgens zu Shism von Tool. Kommunikation mal anders.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.07.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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