Michael Dauk

Harz 2006: Eine Liebeserklärung - wehmütig

Harz 2006: Eine Liebeserklärung - wehmütig
 

I.      Anreise mit Umwegen
II.     Erste Erkundungen
III.     Rehberger Graben und Oderteich
IV.    Hahnenkleeklippen und Achtermannshöhe
V.     Fast ein ganzer Brocken
VI.    Es gibt sogar Pässe im Harz
VII.   Zu Fuß nach St. Andreasberg
VIII.  Wo die Hexen tanzen
IX.    Diesmal ein ganzer Brocken
X.     Fahrt zu bekannten Stätten
XI.    Ein Kloster - und Nordhausen besteht nicht nur aus Plattenbauten
XII.   Quedlinburg und Selketal
XIII.  Und noch einmal der Brocken
XIV.  Wernigerode und Ilsenburg
XV.   Die Selketalbahn
XVI.  Warum nicht einmal ein wenig weiter
XVII.  Die Lange, Elbingerode, Mandelholz und Tschechien
XVIII. Ein Kurs durch den Kurort
XIX.   Sieber zum Zweiten
XX.    Und zum letzten Mal der Brocken
XXI.   Die Rückfahrt


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I. Anreise mit Umwegen

An einem Sonntagmorgen Anfang September fuhr mein Zug gegen sechs Uhr von Hamburg-Altona ab. Wenn ich nicht zu spät ins Bett komme, ist dieses für mich eine völlig normale Zeit. Ich war am Vorabend rechtzeitig schlafen gegangen und war demzufolge lange vor Klingeln des Weckers auf den Beinen. Ich hatte lediglich noch einige Kleidungsstücke einzupacken, die am Abend zuvor noch nass auf der Leine gehangen hatten. Auf dieser Reise benötigte ich nur zwei Fahrradtaschen statt der üblichen sechs, weil ich nicht aufs Zelten aus war, sondern für drei Wochen eine Ferienwohnung in Braunlage gemietet hatte. Ich wollte auch nur die kurze Etappe von Bad Harzburg nach Braunlage mit dem Rad zurücklegen, den Rest mit dem Zug bestreiten.

Glücklicher Weise ist nach der Umgestaltung des Altonaer Bahnhofs das Essensangebot sowohl in Bezug auf Quantität als auch auf Vielfalt und Qualität erheblich besser geworden - auch am frühen Sonntagmorgen. Da ich zu Hause nicht gefrühstückt hatte, nahm ich das Angebot wahr und genoss herzhaft belegte Brötchen und heißen Kaffee. Ich kaufte mir den Tagesspiegel im Bewusstsein, kaum etwas davon zu lesen. Ich kann mich auf Bahnreisen einfach nicht auf andere Dinge als die, die am Fenster vorbei fliegen, konzentrieren, selbst wenn ich die Strecke schon Dutzende Male zurückgelegt habe. So war es auch heute: Kaum setzte sich der Zug in Bewegung, ließ ich die Blätter sinken und starrte zum Fenster hinaus. Sogar die Strecke von Altona zum Hauptbahnhof war immer noch so interessant, dass ich einfach nur schauen musste. Ich kann es mir selbst nicht erklären.

Hinter Harburg setzte ich mich dann in den völlig leeren Bistro-Wagen, um einen weiteren Kaffee zu trinken. Hier wurde mir sehr deutlich die Zwei-Klassen-Gesellschaft der Deutschen Bahn vor Augen geführt. Obwohl ich der einzige Gast im Wagen war, musste ich geschlagene 12 Minuten auf mein Getränk warten, weil zwischendurch ständig Bestellungen durch einen der Zugbegleiter eingingen („zwei Tee für die Herrschaften in einhundert!“), die, da sie ja aus der ersten Wagenklasse kamen, selbstverständlich vordringlich erledigt werden mussten. Die Herrschaften hatten sich mit ihrem erhöhten Fahrpreis also das Vorrecht erkauft, am Platz bedient zu werden. Mein Kaffee war trotz der Umstände brühend heiß, war wohlschmeckend, und der Zug passierte gerade den Abschnitt zwischen Lüneburg und Uelzen. Wegen des sehr hügeligen Geländes konnte ich auf manchen Streckenteilen weit ins Land schauen, zumeist nach Osten und bemerkte voller Wehmut, dass einige Bäume in den zahlreichen Wäldern ihren Blättern schon einen gelblichen Anstrich gaben. Der Sommer war wohl vergangen. Ich hoffte nur auf ein paar Tage des Altweibersommers im Harz.

Ich war gespannt auf die Reaktion des Bahnpersonals auf mein selbst ausgedrucktes Online-Ticket. Ich hatte schon gehört, dass einige Zugbegleiter vor diesen Fahrkarten gestanden haben wie der Ochs vorm Berge. Meine Schaffnerin jedoch zog souverän und routiniert meine EC-Karte durch das Lesegerät und knipste die DIN-A-4-Fahrkarte ab. Es war für sie also nichts Besonderes. Die EC-Karte wurde eingelesen, weil ich das Ticket über das Internet per Bankeinzug bezahlt hatte und die Karte nun als Identifizierung galt.

Seltsam: Auch der Landschaftsteil zwischen Celle und Hannover ließ mich nicht kalt. Vollkommen eben zeigte sich die Gegend, der Wald trat nur noch spärlich auf, dafür bevölkerten Heerscharen von schwarzbunten Rindern die sattgrünen Weiden, deren Begrenzungen schräg zur Bahnlinie laufende Knicks oder Baumreihen bildeten. Nur wenige Gehöfte waren zu erkennen, sie versteckten sich wohl in den kleinen Wäldchen hoher Laubbäume, die als vereinzelte Flecken das Gelände sprenkelten.

Im Zug konnte ich das gewohnte Spiel beobachten: Handys, Handys, Handys. Warum nur mussten die Menschen dabei so schreien? Um vielleicht andere Handybenutzer zu übertönen? Eine junge Frau schlief mit offenem Mund über zwei Sitze hingestreckt, sich dabei wie ein Jagdhund in Anschlagstellung an der Rückenlehne abstützend. Wie konnte sie dabei auch noch leise schnarchen? Plötzlich erwachte sie mit einem Japsen, griff sofort zu ihrem Handy und wählte hektisch. „Du musst mich abholen, ich bin völlig fertig, ich bin in zehn Minuten in Unterlüß!“ Sie stieg dort auch tatsächlich aus. In der benachbarten Sitzgruppe mit kleinem Klapptisch spielte eine Familie mit zwei Kindern „Mensch ärgere Dich nicht!“ Die Mutter rief ständig oberlehrerhaft: „Du musst dieses, du musst das, du musst jenes...“ Zur Strafe verlor sie das Spiel. Auch die anschließende Malstunde gestaltete sich zum pädagogischen Wirrspiel. Es lagen Buntstifte aller möglichen Farben zuhauf auf dem Tisch. Und was mussten die Kinder machen: Sie durften sich jeweils einen Stift derselben Farbe teilen, obwohl ausreichend Stifte zur Verfügung standen. Der Sinn darin wollte sich mir nicht erschließen.

In Hannover hatte ich mehr als 45 Minuten Aufenthalt. Ich verspürte inzwischen wieder Hunger und wollte mir unbedingt noch etwas zum Lesen kaufen (nicht für die Bahnfahrt, nein, für die mußevollen Stunden in Braunlage) und schlenderte deshalb hinunter in die Wandelhalle. Bei meinen Arbeitsaufenthalten in dieser Stadt vor mehr als dreißig Jahren war ich begeistert gewesen von Ahrberg´s Bouillon-Würstchen, die in ganz Hannover roh oder frisch gebrüht erhältlich waren. Ach, welche Enttäuschung! An nicht einem der zahlreichen Essensstände wurden sie angeboten. Gibt es das Unternehmen vielleicht nicht mehr? Das wäre doch schade. (Später wieder in Hamburg recherchierte ich im Internet und fand heraus, dass die Wurstfabrik Fritz Ahrberg bereits 1992 die Produktion einstellte und im folgenden Jahrzehnt das Gelände im Stadtteil Linden zu einer so genannten „lebendigen“ Wohnsiedlung umgewandelt wurde. Also kein Wunder, dass ich eine meiner Lieblingswürste nicht bekam.) Ich wollte unbedingt eine gebrühte Wurst essen und erstand eine sehr appetitlich aussehende Krakauer. Sie lag wohl seit dem Vorabend im Wasser, sie schmeckte nach absolut nichts. Dafür war die junge Verkäuferin sehr gut aussehend und überaus nett. Eine hässliche, alte Vettel wäre mir lieber gewesen, wenn nur die Wurst etwas taugte.

Vor einigen Jahren hatte ich ein zweiteiliges Hörspiel nach Henning Mankell gehört: „Die Rückkehr des Tanzlehrers“. Das Buch fehlt mir noch in meiner Sammlung. Zufällig lag es im Buch- und Presseladen aus, und ich kaufte es ohne Zögern und war sehr gespannt auf die Lektüre. Inzwischen wurde bereits der Regionalexpress nach Bad Harzburg bereitgestellt. Die seligen Zeiten, als es noch einen durchgehenden Zug von Hamburg in den Harz gab (ja, ja, der gute, alte Interregio), sind leider vorbei. In das Fahrradabteil drängten sich noch vier verwegen aussehende junge Punks, die mit ihren High-Tech-Mountainbikes ebenfalls nach Bad Harzburg und dort eine Tagestour über die Waldwege machen wollten (machen richtige Punks so etwas?). Sie gingen mir aber bald mit ihrem Gerede ausschließlich über Fahrradtechnik auf die Nerven, so wechselte ich in ein anderes Abteil. Dort hatte ich jedoch auch keine Ruhe: eine Frau und ein Mann, beides Kommunalbeauftragte für die Fahrradverkehrsförderung in verschiedenen Landkreisen südlich von Hannover, diskutierten in der benachbarten Sitzgruppe derartig laut über ihre Förderungsmaßnahmen, dass es schon an Lärmbelästigung grenzte. Glücklicher Weise stiegen sie bereits in Salzgitter-Ringelheim aus. Ich konzentrierte mich lieber auf das Harzvorland mit den immer höher werdenden, waldreichen Kuppen. Schließlich kam bei Othfresen der Harz selbst in Sicht, mit Blick hinein in das Innerste- und Granetal. Oh, je! War es bisher bewölkt, aber trocken, sogar mit einigen Aufheiterungen, hingen die Wolken in den Bergen bis tief in die Täler hinunter. Und ich musste auf dem Weg nach Braunlage bis auf 812 Meter bei Torfhaus klettern! Mir schwante nichts Gutes.

Auch in Bad Harzburg war es noch trocken. Doch kaum hatte ich den Ort verlassen, schlug mir kalter Regen ins Gesicht. Ich wollte schnell mein Ziel erreichen und benutzte deshalb die Bundesstraße 4. Doch dort traf mich der stürmische Gegenwind ungeschützt mit voller Wucht. Deshalb verließ ich kurz nach dem lächerlichen künstlichen Radau-Fall (übrigens mit der Betonung auf der ersten Silbe, er hat den Namen nämlich nicht wegen des Lärms, den er nicht macht, sondern weil das Flüsschen Radau in einem kleinen Kanal zu der Felsklippe geleitet wird, von der es in mehreren Armen vielleicht zehn Meter herab rieselt) die Bundesstraße 4 und folgte einer kleinen Teerstraße, die noch eine Zeit lang von der Radau begleitet wurde, dann aber steil nach oben schwenkte, um schließlich zur Eckertalsperre zu führen. Im Wald war ich zwar auch dem Regen ausgesetzt, in weit geringerem Maße jedoch dem Sturm. Außerdem war der Weg natürlich viel schöner als auf der vierspurigen belebten Bundesstraße. An einer Wegkreuzung sah ich das Richtungsschild „Kaiserweg“. Ich wusste, dass dieser Weg zum Torfhaus hinauf führte, verließ die geteerte Straße und nahm den breiten, geschotterten und gut zu befahrenden Weg in Angriff. Doch nach wenigen Hundert Metern verengte er sich zu einem steilen, gewundenen Fußpfad, den ich nur mit großen Schwierigkeiten hätte bewältigen können. Also kehrte ich um. An der erwähnten Wegkreuzung begegnete mir ein großer grüner, wasserstoffbetriebener Linienbus. Neugierig geworden, schaute ich mir den Aushang an der Haltestelle an: dieser Bus verkehrt mehrmals täglich und verbindet einige beliebte Wanderziele dieser Region miteinander (Ecker-Stausee, Molkenhaus, Luisenbank und noch einige weitere andere). Da er vorwiegend Privatstraßen nutzt, die teilweise auch nur Schotterbelag aufweisen, wird für die Instandhaltung dieser Wege eine tägliche, nicht von der Anzahl der Fahrten abhängige Mautgebühr von 50 Cent pro Fahrgast erhoben. Eingesetzt werden ausschließlich mit Brennstoffzellen angetriebene Fahrzeuge. Für die Höhe der Investitionen und die Platzbelegung (der Bus, der mich passierte, war bis auf den Fahrer vollständig leer) ein eher geringer Betrag.

Ich schlug die Straße zum Stausee ein und sah bereits nach kurzer Zeit auf der linken Seite den Wasserspiegel blinken. Ja, blinken: im Nordosten hatte es sich nämlich aufgehellt, teilweise brach dort die Sonne durch. Leider erwartete mich in südlicher Richtung eine grauschwarze Wand. Die 1942 in Betrieb genommene Eckertalsperre war bis 1989 ein Grenzgewässer: die Demarkationslinie verlief genau durch den See. Der der Trinkwasserversorgung dienende Stausee ist Teil eines weit verzweigten und vernetzten Wasserversorgungssystems, ist mit Stollen mit der Oker-, der Grane- und der Innerste-Talsperre verbunden und liefert über eine Fernwasserleitung das kostbare Nass bis nach Braunschweig und Wolfsburg. Über die Stollen können die jeweiligen Staumengen reguliert werden. Die Ecker entspringt am Westhang des Brockens in einer Höhe von etwa 900 Metern. Der Weg dort hin zweigt vom Goetheweg ab, kurz vor Beginn der steilen Plattentrasse. Ich verließ die Teerstraße und bog auf einen zweispurigen, gut zu befahrenden Schotterweg ein, der ständig bergauf führte. Alles andere hätte mich auch bedenklich gestimmt, hatte ich doch noch etwa 200 Höhenmeter zu überwinden.

Glücklicher Weise sind die Wege im Harz sehr detailliert und an fast jeder Weggabelung oder Kreuzung ausgeschildert, sogar exakte Kilometerangaben fehlen nicht, so dass ich nur selten meine erfreulich genaue Harzkarte zu Rate ziehen musste. So fand ich zielsicher den Weg, der in einem halbkreisförmigen Bogen Richtung Osten zum Torfhaus führt. Vor etlichen Jahren bin ich schon einmal diesen Weg mit Dagmar gefahren, und wir hatten bei strahlendem Sonnenwetter einen ungehinderten Blick auf den Brocken gehabt. Aber heute? Links hinten war der Sellenberg deutlich zu erkennen, links vor mir waberte eine graue Wolken- und Nebelwand, hinter oder in der sich der Brocken versteckte. Direkt unterhalb des Torfhauses, am Fuß der kleinen Skiwiese, machte ich eine Rauchpause und beobachtete die Leute, die hier, am Beginn des Goetheweges, vermehrt den Schotterweg bevölkerten. Bei diesem Wetter waren vorwiegend eingefleischte Wanderer unterwegs. Es waren auch einige Spaziergänger vom nahe gelegenen Parkplatz dabei, viele von ihnen mit Hunden. Hier im Nationalpark Harz gilt absoluter Leinenzwang. Ich sah nicht einen Hund, dessen Halsband mit der Leine verbunden war. Beim Schnack mit einem Rentnerpaar, das hinunter nach Bad Harzburg wollte und mich nach dem Weg fragte, begann ein heftiger, stürmischer Regen. Der Wind peitschte die Tropfen waagerecht durch die Luft. Ich hoffte, mich oben im Torfhaus unterstellen zu können und machte mich auf den Weg. Der Schotterweg hinauf zur Bundesstraße war auch noch einigermaßen erträglich, dann jedoch musste ich etwa 300 Meter den lang gestreckten Parkplatz bei direktem Gegenwind zurücklegen. Trotz des tief in die Stirn gezogenen Mützenschirms war meine Brille innerhalb kürzester Zeit mit Regentropfen bedeckt, so dass ich kaum noch etwas sah. Glücklicher Weise hatten die Kioske auf der Höhe geöffnet, ich konnte mich also an einer windgeschützten Stelle unterstellen. Vor dem Häuschen prangte ein Schild, das original Thüringer Bratwürste anpries. Da konnte ich natürlich nicht widerstehen. Die Wurst war nicht diskussionswürdig. Sie war fade, labberig, hatte keine krosse Haut und war bar jeglicher Kräuter. Eigentlich hätte ich mein Geld zurück verlangen müssen, trotz des verzehrten Produkts – es handelte sich eindeutig um eine Fälschung. An diesem Tag hatte ich mit Würsten kein Glück.

Zum Brocken hin bildete sich eine Lichtinsel, ja, eine tatsächliche Insel aus Licht. Auf wundersame Weise war die Wolkendecke über dem Gipfel aufgerissen, und die Sonne beleuchtete die Kuppe mit den hässlichen Gipfelgebäuden und dem deplatziert wirkenden Sendemast, während hier in Torfhaus lustig der Regen herunterkam. Eine Dampflokomotive der Brockenbahn zog acht Waggons mit lautem Puffen die spiralförmige Trasse hinauf. Eine Gruppe junger Amerikaner (vermutete ich jedenfalls – wer spricht sonst ein solches Englisch?) schien die Szenerie in keiner Weise zu interessieren, sie waren augenscheinlich nur mit sich selbst beschäftigt. Sie grölten, tranken Dosenbier und fotografierten sich gegenseitig, wobei der Hintergrund nun wirklich keine Rolle spielte. Nur ein einzelner Mann stellte sich auf einen Stein und starrte minutenlang regungslos zum Brocken hinüber. Eine Horde von Motorradfahrern rollte mit donnernden Auspuffgeräuschen auf den Platz, die Männer (es waren ausschließlich Männer) nahmen die Helme von den Köpfen und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Wofür?

Ich stellte mich wieder in den Windschutz, trank noch eine Cola und wartete darauf, dass der Regen nachließ. Als nach 30 Minuten immer noch keine Änderung zu erwarten war, machte ich mich dennoch auf den Weg. Ich beschloss gegen meine ursprüngliche Absicht die B4 hinunter zu heizen. Wenn ich denn schon nass werden sollte, dann bitte recht kurz. Also stemmte ich mich gegen den Sturm und nahm die acht Kilometer bis Braunlage in Angriff. Nach etwa einem Kilometer geriet ich in dichten Nebel mit einer Sichtweite von höchstens 20 Metern. Mir war auf dieser viel befahrenen Straße sehr mulmig zu Mute, hatte ich doch keine Warnweste dabei und trug recht dunkle Regenkleidung. Meine gesamte Hoffnung baute sich auf die Reflektoren meiner beiden Fahrradtaschen. Erfreulicher Weise benötigte ich nur etwa 20 Minuten bis zur Abzweigung Braunlage-Nord und rollte vorsichtig die kurvenreiche, steile Straße in den Ort hinunter. Je tiefer ich kam, desto klarer wurde wieder die Sicht. Der Regen allerdings wurde nicht geringer. Ich passierte das Eisstadion und bog nach rechts in die Bismarckstraße ein. Welch erschreckendes Bild bot sich mir! Steil ging es bergauf, ich schätzte die Steigung auf mindestens 15 Prozent. Weil ich gewichtsmäßig nur relativ wenig Gepäck bei mir hatte, konnte ich dennoch in einem Rutsch hinauf fahren. Am Haus angekommen, stellte ich mein Rad in den Skiraum und eilte klitschnass zur Wohnung hinauf. Ich stellte die Taschen auf den Fliesenboden des Badezimmers, hängte die Regensachen in der Dusche auf und wechselte Hemd und Hose, die trotz der Schutzkleidung feucht geworden waren. Dann erst inspizierte ich mein Domizil für die nächsten zwei Wochen und verstaute meine Sachen. Ein relativ großes Wohnzimmer, nicht toll, aber gemütlich eingerichtet mit Couchgarnitur und kleinem Essplatz sowie überdimensioniertem Panoramafenster. Ein kleines Schlafzimmer – reicht ja auch. Ein rechtwinkliger Flur mit Kochnische. Großer Balkon mit Blick auf den Wurmberg, von dem bei diesem Wetter natürlich nichts zu sehen war. Zur Unterhaltung standen ein Fernseher und eine Minianlage nebst einer erklecklichen Anzahl von CDs bereit. Ich suchte meine Lieblingssender (NDR Kultur, NDR Info, Deutschlandradio und Deutschlandfunk) und hielt die Frequenzen fest.

Ich hatte keine Lebensmittel mitgenommen, war also gezwungen, an diesem Abend auswärts zu essen oder zu hungern. Und es regnete immer noch in Strömen. Meine Regenjacke war noch nass, so war ich froh über den Schirm, der im Flur bereit stand. Ich schlenderte die Herzog-Wilhelm-Straße, das Herz Braunlages, hinunter und hielt nach einem Restaurant Ausschau. Es gab deren viele, aber kaum eines sprach mich an. Lediglich ein China-Restaurant mit einem Erker im 1. Stock gefiel mir. Ich bekam auch einen schönen Platz am Fenster mit Blick über die Hauptstraße. Ich wollte mir etwas Besonderes leisten und bestellte mir knusprige Ente Sezchuan-Art. Auf der Karte war ausdrücklich vermerkt, dass es sich um ein scharfes Gericht handelte. Knusprig war das Fleisch, jedoch außergewöhnlich fett und ertränkt in einer typischen mit Mondamin gebundenen Sauce, die keinesfalls scharf, sondern versalzen und leicht süßlich war. Und dieser Reis! Muss denn in hiesigen China-Restaurants und Asia-Imbissbuden der Reis stets als eine verklumpte Masse, bestehend aus zu weich gekochtem Bruchreis, auf den Tisch kommen? Er wird niemals frisch gekocht, sondern riesigen Bottichen entnommen, in denen das Zeug stundenlang warm gehalten wird. Ich warte doch lieber 30 Minuten auf mein Essen und habe es dann wohlschmeckend! Nebenbei hatte die Kellnerin die unangenehme Eigenschaft, permanent meine Ordnung auf dem Tisch zu korrigieren: Sie rückte die Platte mit dem Gemüse und der Ente anders auf dem Rechaud zurecht, murmelte dabei „muss heiß bleiben“ (dabei rückte ich den Teller mit Bedacht von der Flamme weg, damit die Sauce nicht zu Leim verkochte), schob mein Teeglas weiter an den Tischrand, platzierte den Reistopf näher an meinen linken Ellenbogen und ähnliches mehr. Von einem mußevollen Essen konnte keine Rede sein. Dann war ich so vermessen, die wirklich ausladende Portion nicht vollständig zu vertilgen, sondern ich ließ gut ein Drittel davon zurückgehen – was teilweise selbstverständlich auch im Geschmack begründet lag. Als ich es dann auch noch ablehnte, mir die Reste einpacken zu lassen, war es mit meinem Ansehen in diesem Hause vorbei. Äußerst mürrisch und ruppig räumte die Kellnerin das Geschirr ab und präsentierte barsch die Rechnung. So ist wirklich kein Trinkgeld zu erzielen. Übrigens heißt das deprimierende Lokal „Goldener Drache“ und liegt schräg gegenüber der braunen Holzkirche in der Herzog-Wilhelm-Straße.

In immer noch strömendem Regen stiefelte ich nach Hause, dabei die steile Bismarckstraße wirklich erklimmend. Sturzbäche von Wasser ergossen sich über die Fahrbahn, die Siele hatten alle Mühe, die Massen zu fassen. Der Abend brachte dann noch einen versöhnlichen Abschluss des Tages: auf NDR Kultur wurde das Abschlusskonzert des Schleswig-Holstein-Musikfestivals aus dem Kieler Schloss übertragen. Charles Dutois dirigierte das NDR-Sinfonieorchester. Den Anfang machte Sibelius Tondichtung „Finlandia“. Mir fehlte der Interpretation die Dramatik, die Durchschlagskraft. Ich habe Versionen gehört, die mir das Aufbegehren des finnischen Volkes gegen die russische Allmacht erheblich näher gebracht haben, unter anderem ebenfalls vom NDR-Sinfonieorchester, dann aber dirigiert von Maris Janssons. Wirkte das erste Werk also noch etwas blass auf mich, so war ich vollständig gefangen von Karol Szymanowskis Violinkonzert. Gespielt wurde es von einer kanadischen Geigerin, die laut Ansagetext „bereits Jahrzehnte mit großem Erfolg im Konzertbetrieb tätig ist“ – ich hatte ihren Namen noch nie gehört. Chantal Juillet. Sie brachte das Konzert in einer derartigen Intensität dar, entwickelte ein traumhaftes Verständnis zum Orchester, dass ich vor Begeisterung auf der Couch mit dem Oberkörper hin und her zuckte. Nicht anders erging es mir bei der abschließenden „Symphonie phantastique“ von Hector Berlioz, geradezu einem Paradestück von Charles Dutois. Mit ungeheurer Leichtigkeit führte er das Orchester durch dieses klippenreiche Werk, ohne die zuweilen notwendige Dramatik zu vernachlässigen. Na, ja, bei dem Orchester…

 

II. Erste Erkundungen

Der Tag begann grau und trübe, genau so erging es meinem Magen. Ich hatte nicht einen Krümel an Essbarem im Hause, nicht einmal etwas zu Trinken. Also nahm ich eine der leeren Taschen und machte mich auf den Weg zu den vier Supermärkten (Aldi, Rewe, Lidl und Penny) am südlichen Ende von Braunlage. Dort wollte ich eine Münze für den Einkaufswagen hervor kramen und stellte fest, dass ich mein Portemonnaie in der anderen Jacke hatte stecken lassen. Also wieder die Hauptstraße zurück und die arg steile Bismarckstraße hinan. Beim zweiten Versuch dann konnte ich es nicht abwarten, ich musste vor dem Einkauf unbedingt in der kleinen Cafeteria des Rewe-Marktes frühstücken. Der Kaffee war erstaunlich gut und das Käsebrötchen (das mit der überbackenen Käsekruste), belegt mit würzigem Schinken, schmeckte ausgesprochen lecker.

Ich versah mich mit allem Nötigen, fand aber leider keine Thermoskanne, die mir zusagte. Ich wollte mir eine kaufen, weil ich aus Platz- und Bequemlichkeitsgründen meinen Trangia-Kocher nicht mitgenommen hatte. Im Penny-Markt stattete ich mich mit derartig viel Vorräten aus, dass ich keine Chance hatte, die Schnalle meiner großen Ortlieb-Tasche zu schließen. Ein Spanngummi musste die Lebensmittel sichern.

Das Einkaufen gestaltete sich recht unterhaltsam; als ich gerade in der Gemüseabteilung stand, rief eine der Kassiererinnen in voller Lautstärke:

Klaus, ich brauch´ 2-Euro-Stücke, 50-Cent-, 10-Cent- und 2-Cent-Stücke!“

Die zweite Kassiererin rief ebenfalls „Ich auch!“

Ich brüllte in Richtung Kasse: „Ich auch!“

Die Hälfte der Kunden skandierte unisono: „Wir auch!“

Der Mann vor mir an der Kasse wollte seinen umfangreichen Einkauf bezahlen und kam mit seiner umgeschnallten Hüfttasche nicht zurecht, die ihm auf den Rücken gerutscht war. Mit Mühe zerrte er sie vor seinen Bauch, wühlte darin herum und kam offensichtlich mit der Einteilung nicht zurück. Schließlich wölbte er seine Wampe vor und meinte resigniert zur Kassiererin:

Nehmen sie sich, was sie brauchen.“

Haben sie die Tasche neu?“

Woher wissen sie das?“

Als ich meine Ware auf das Laufband legte und die Kassiererin sie einscannte, fehlte auf dem Notizbuch der Barcode.

Von hier?“ fragte sie kurz angebunden.

Ja, glauben sie, dass ich woanders ein Notizbuch kaufe und hier noch einmal bezahle?“

Ooch, das machen so Manche, die ihre Sachen vorn beim Bäcker gekauft habe.“

Der Mann hinter mir raffte seine ausgebreiteten Artikel wieder zusammen und meinte:

Hab´ ich Alles beim Bäcker gekauft!“ Die Kassiererin verdrehte die Augen.

Auf dem Rückweg schaute ich bei Woolworth hinein und kaufte sofort eine Halbliter-Edelstahl-Thermoskanne (Haliestatheka?) für nicht einmal 10 Euro. Jetzt fehlten nur noch ein schmackhaftes Brot und ein Füllfederhalter. Gestern Abend hatte ich zu meinem Leidwesen feststellen müssen, dass ich meinen Füller, meinen schönen Montblanc in Hamburg vergessen hatte, und mit einem Kugelschreiber mochte ich längere Sachen einfach nicht schreiben. Ich erstand in einem Schreibwarengeschäft einen Pelikan-Schulfüller, der sollte wohl seine Dienste tun. In einer kleinen Bäckerei erhielt ich ein sehr wohlschmeckendes IKK-Brot (ja, tatsächlich, die Krankenkasse hat das Rezept entwickelt, und die Bäckerei hat es nachgebacken), sehr kernig und kräftig im Geschmack.

Jetzt quälte ich mich aber nicht wieder die Bismarckstraße hinauf, sondern folgte der Herzog-Johann-Albrecht-Straße, die in einer weit gezogenen S-Kurve ebenfalls zum Haus führte, nur eben bei Weitem nicht so steil, dafür aber mit dreifacher Wegstrecke. Ich machte mir erst einmal ein opulentes Frühstück mit frischem Brot, würzigem Aufschnitt, Eiern, Tomaten, Zwiebeln etc. Danach war es wirklich an der Zeit, noch ein kleines Nickerchen zu machen, das Wetter lud, obwohl es trocken war, nicht zu großen Landpartien ein.

Gegen Mittag hielt es mich dann doch nicht mehr im Haus, ich musste einfach raus, musste etwas von der Gegend sehen. Ich packte Werkzeug und Regensachen ein und rollte wieder zum Südende von Braunlage, um von dort das Tal der warmen Bode hinunter zu radeln. In dem zunächst noch recht breiten Tal standen einige entzückende Holzhäuser, die ich mit Kusshand für geschenkt genommen hätte, wäre nicht die unvermeidliche Kläranlage gleich in der Nähe gewesen. Der starke Westwind trieb mich zügig voran, so dass ich alsbald die weiße Brücke erreichte, um auf die andere Seite des Flüsschens zu gelangen. Nun gab es durchaus keine weiße Brücke hier, sondern zwei graue Steinbögen überquerten die warme Bode und ein kleines Bächlein, das kaum sichtbar im hohen Wiesengras dahin plätscherte. Die beiden Wasserüberquerungen waren von angerosteten, bereits schief stehenden, maroden Geländern begrenzt, die wohl ehemals tatsächlich weiß waren. Jetzt waren nur noch Rudimente davon zu erkennen. Nach diesen Geländern hat der Platz seinen Namen.

Woher aber die warme Bode ihren Namen hat, ist ein wenig umstritten. Nur ein wenig allerdings, weil fast jede Geschichtsschreibung folgender Version den Vorzug gibt: die Bode hat zwei Quellflüsse, die jeweils auf entgegen gesetzten Seiten den Wurmberg umfließen. Der westliche Arm hat seinen Ursprung in einem Torf- und Hochmoorgebiet, dem Bodebruch in der Nähe des Dreieckigen Pfahls, fließt durch Braunlage und das breite, sonnige Tal nach Osten durch Sorge und Königshütte. Der östliche Ursprung (die kalte Bode) hat seinen Beginn in etwas höherer Lage, ebenfalls in der Nähe des Dreieckigen Pfahls, bahnt sich seinen engen Weg durch dichte Wälder durch Schierke und Elend, um sich in Königshütte bei der ehemaligen Königsburg mit der warmen Bode zu vereinigen. Beim Zusammenfluss der beiden Arme wird tatsächlich ein Temperaturunterschied von etwa 2° Celsius gemessen. Diese Namensgebung erscheint einleuchtend. Nun verficht ausgerechnet das Fremdenverkehrsamt von Braunlage eine andere Theorie: Die Quelle der kalten Bode liegt etwas südöstlich des Brockenfeldes, am Weg vom dreieckigen Pfahl zum neuen Goetheweg. Weil der andere Bodearm angeblich schon seinen Namen von seinem Quellgebiet, dem Wurmberg in verballhornter Form erhalten hatte, wurde dieser Theorie nach der östliche Arm mit einem Alternativnamen versehen, eben der kalten Bode.

Ich folge jedoch weiter der warmen Bode auf einem weich geschwungenen Schotterweg, der auf der rechtsseitigen Talseite ein zügiges Fahren erlaubte. Der Fluss mäanderte in dem noch recht breiten Tal nach Herzenslust. Auf der gegenüberliegenden Seite schoben sich die runden Hügelkuppen in regelmäßigen Abständen in den Talgrund hinein, bewachsen mit Bäumen unterschiedlichster Art und flankiert von einem alten Panzerplattenweg. Diese Strecke sind Dagmar und ich einmal vor etlichen Jahren gefahren; es war eine elende Schinderei. Beim Zusammentreffen des Schotterweges mit der Bundesstraße Richtung Königshütte und Trautenstein gab es einen kleinen Rastplatz mit dem bemerkenswerten Hinweisschild „Brockenblick 20 Meter“. Es war tatsächlich so: nach 20 Metern öffnete sich die dichte Baumreihe und gab den Blick frei auf Brocken und Wurmberg. Für die immer noch rechte dichte Wolkendicke herrschte eine bemerkenswert klare Sicht. Die Wolken waren bereits so hoch, dass die Gipfel der beiden Berge sehr schön zu erkennen waren. Bei kräftigem Schiebewind rollte ich die glatte Straße Richtung Sorge hinunter. Rechts von mir tummelte sich die Bode in abwechslungsreichem Mischwald, links erreichten mich nach kurzer Strecke Straße und Bahnlinie aus Elend. Der Schienenstrang bog in einer atemberaubenden Kurve aus dem engen Tal neben die Straßentrasse ein, um ein kurzes Stück später die Straße zu queren und sich im noch weitläufigen Bodetal sich zum Bahnhof von Sorge hinauf zu schlängeln. Auch ich bog im Ort von der Bundesstraße ab und stieg die kurze, steile Straße zum Bahnhof hinauf, hatte ich doch aus dem südlich gelegenen Wald das Pfeifen einer Dampflokomotive gehört. Und kaum hatte ich mein Rad auf dem kleinen pittoresken Bahnhof („Fahrkarten in der Gaststätte 90 Meter weiter“) abgestellt, bog unter Pfeifen und Klingeln der Personenzug nach Wernigerode aus dem Wald und kam unter ohrenbetäubendem Kreischen der Bremsen zum Stehen. Die beiden einzigen Passagiere waren zwei ältere Männer, die auf der offenen Plattform des ersten Wagens standen und wohl über die Lokomotivtechnik fachsimpelten. Sie hatten allen Grund dazu, denn die Zugmaschine war eine dieser liebevoll instand gehaltenen Dampflokomotiven der Harzquerbahn, von denen immer noch achtzehn Exemplare den Streckenbetrieb aufrechterhalten. Die ältesten Lokomotiven stammen noch aus dem 19. Jahrhundert, die so genannten „Mallet-Loks“. Diese Loks haben ein vorderes angetriebenes und schwenkbares Fahrwerk, das dem Betrieb auf einer so kurvenreichen Schmalspurbahn sehr entgegenkommt.

Das Örtchen Sorge leitet seinen Namen aus dem mittelhochdeutschen Wort „Zarge“ ab, weil ab dem 16. Jahrhundert Sorge an den Grenzen verschiedener Herrschaftsgebiete lag – dem ist ja auch noch heute so. Entstanden aus einem im 13. Jahrhundert gegründeten Hüttenwerk Niedervogelsfelde. Ein Hüttenmeister in Sorge wird erst ab dem Jahr 1506 erwähnt, erst seit dieser Zeit wird der Name verzeichnet. Ich verließ den Bahnhof, hatte auch bald restlichen Häuser von Sorge passiert und machte mich auf den Weg durch den dichten Wald Richtung Benneckenstein. Ein munteres Hügelgehüpfe schloss sich an, das aber doch nicht so anstrengend war, um wirklich in Schweiß zu geraten. Die Jacke hatte ich allerdings schon vor geraumer Zeit ausgezogen. Auf der Strecke verlor ich nach kurzer Zeit die Bahnlinie, um sie erst in Benneckenstein wieder zu finden. Bot Sorge auf Grund der schön restaurierten Häuser und der nicht existenten geschlossenen Wohnblocks eher das Bild eines verträumten Kurortes, drängte sich mir beim tristen Anblick der grau verputzten Häuserzeilen in Benneckenstein die Erinnerung an die ersten Besuche in der ehemaligen DDR kurz nach Grenzöffnung auf. Wäre jetzt noch der Geruch der damals üblichen vielen Kohleöfen in der Luft gewesen, wäre das Déjà-vu-Erlebnis vollkommen gewesen. Dieser Eindruck wurde jedoch schnell verdrängt, als ich den Bahnhof erreichte: zwar stand noch das alte, hölzerne Bahnhofsgebäude, dicht daneben ließ aber ein neu gebauter Kiosk mit angeschlossenem Imbiss mein Herz höher schlagen. Ich hatte inzwischen einen Mordshunger. Der durchdringende Geruch nach uraltem und verbranntem Fett ließ meine Gelüste rasch vergehen. So begnügte ich mich mit einem Becher Kaffee auf der kleinen Terrasse und beobachtete das behäbige Leben in einem kleinen Harzort an einem Montagnachmittag. Es gab nicht viel zu sehen – nicht einmal ein Zug lief in den Bahnhof ein.

Ich ließ mich die Hauptstraße hinunter rollen, bewunderte die Lage der St. Laurentiuskirche weit oberhalb der Stadt („auf der Klippe“) und bog an der großen Kreuzung, die offensichtlich vor kurzem zu einem modernen Kreisverkehr ausgebaut worden war, auf die Straße Richtung Hohegeiß ein. Dort hoffte ich, doch noch etwas zu Essen zu bekommen. Zunächst galt es jedoch, dort erst einmal hinauf zu kommen. Benneckenstein liegt unten im Tal der Rappbode, dem Flüsschen, das den größten Stausee des Harzes, die Rappbodetalsperre speist. Immer tiefer lag der baumbestandene Wasserlauf unter mir, dafür hatte ich einen herrlichen Blick auf die Flanken von Henneckenkopf und Rauhe Höhe – und die Sonne schien inzwischen strahlend!

Noch eine letzte Anstrengung, und ich passierte die ehemalige Demarkationslinie, die hier nicht von der Natur überwuchert war sondern von Bewuchs freigehalten wurde und als Museum und Mahnmal dient. Das Wetter war inzwischen so schön geworden, das Radeln machte einen solchen Spaß, dass ich nicht mehr an eine Essenspause dachte, sondern einfach fahren wollte. Das tat ich auch dann. Die Bundesstraße nach Braunlage war wenig befahren, war glatt, kurvenreich und bot immer wieder Ausblick auf den vor mir liegenden Brocken. Ich freute mich schon darauf, an irgendeinem Tag dieses Urlaubs dort hinauf zu fahren. Kurz vor Braunlage, vor dem einzigen Tunnel der B 4 durch den Harz (sie unterquert hier den Hasselkopf) musste ich die Straße verlassen und konnte mich entspannt in die Stadt gleiten lassen. Ich benötigte noch eine Zeitung, hielt an einem entsprechenden Laden und sah zu meiner freudigen Überraschung meine Tabaksorte im Regal liegen. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet! Aus Übermut fuhr ich keinen Umweg, sondern kraxelte die Bismarckstraße hinauf, mit dem Ergebnis, dass ich das Rad schwer keuchend in den Skikeller bugsierte.

Jetzt gab es endlich Essen! Ich hatte Spaghetti, Hack, Saucen, Gewürze, Zwiebeln eingekauft und brutzelte munter drauflos. Leider war die Kochnische sehr eng, und das Bratfett spritze an alle Wände. Ich hatte erhebliche Mühe, die Flächen wieder sauber zu bekommen. Dafür schmeckte das Essen um so besser, zu mal ich mich um den Abwasch nicht zu kümmern hatte, es war ja eine Geschirrspülmaschine vorhanden. Die Zeitung auf dem Balkon lesend genoss ich noch eine Kanne Tee, bevor ich mir aus Berlin das Konzert von Taj Mahal auf Deutschlandradio Kultur anhörte. Ein Stunde anschließendes Lesen im Tanzlehrer rundete den Tag ab.

 

III. Rehberger Graben und Oderteich

Wie schön, dass ich gestern so reichhaltig eingekauft hatte: Frischer Kaffee, kräftiges Brot, Tomaten mit Zwiebeln, knusprige Rostbratwürstchen, gekochte Eier, Fruchtsaft… Ich musste es halt nur selbst zubereiten. Als Wegzehrung bereitete ich mir noch eine Thermoskanne voll Kaffee, schmierte mir einige Stullen und nahm noch gekochte Eier und Tomaten mit. Das sollte wohl reichen. Ich wollte heute wieder einmal bekannte Bereiche der Umgebung anfahren: Das Odertal, den Oderteich und den Rehberger Graben. Es erschien mir endlos lange her, dass ich dort gewesen war. Ich fuhr zum Südende von Braunlage, bog auf die Straße nach Bad Lauterberg ab, verließ sie aber beim von mir in der Vergangenheit bereits mehrfach besuchten, sehr schönen Campingplatz und schlug mich durch die Wälder zum Rinderstall durch. Dies ist eine viel besuchte Waldgaststätte und ein sehr beliebtes Wanderziel – allerdings nur zu Fuß zu erreichen. Versorgungsfahrzeuge dürfen die schmale Waldstraße allerdings passieren.

Ich jedoch musste zunächst hinauf fast bis zum Silberteich, einem kleinen Stausee des Brunnenbaches aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, der die umliegenden Erzgruben mit Energie, zu der Zeit also mit Wasserkraft versorgte. Heute ist das Gebiet weitgehend geschützt, lediglich am Ostufer führt ein Weg vorbei, ansonsten soll das Gebiet der Natur überlassen werden. Vom höchsten Punkt des Weges führte eine sehr steile und enge Abfahrt hinunter in das Tal der Oder. Ich musste tüchtig an den Bremshebeln zerren, um das Rad zu bändigen. Außerdem war ich ohnehin gezwungen, des Öfteren anzuhalten, weil sich wahrhaft atemberaubende Ausblicke auf das enge Odertal und weit hin Richtung Oderstausee boten. Sogar der hässliche Beton-Sendeturm auf dem Jagdkopf war zu erkennen. Als ich endlich unten im Tal war, überholte ich ein Wandererpaar, das ich bereits in Braunlage beim Campingplatz gesehen hatte. Ich fragte, ob die beiden eine Abkürzung genommen hätten, weil sie gleichzeitig mit mir dort unten ankamen. Ja, meinten sie, aber sicherlich nicht einen so schönen Weg. Sie kannten nämlich die Strecke, die ich gefahren war und wussten sie durchaus zu schätzen. Ich ließ den Rinderstall rechts liegen, schließlich hatte ich ausreichend Verpflegung bei mir, überquerte die Oder und fuhr auf leicht ansteigender Asphaltstraße flussaufwärts. Dichter Wald umgab mich, der offensichtlich weitestgehend sich selbst überlassen wurde, denn eine Vielzahl umgestürzter Bäume lag an den Ufern und auch teilweise im Flussbett, die ausladenden Flachwurzeln (andere könnten bei dem felsigen Untergrund auch nicht entstehen) senkrecht hoch in die Luft reckend. Ein faszinierendes Landschaftsbild von Wurzelarmen tat sich an der Unterseite dieser Gebilde auf, kreuz und quer liefen die Verzweigungen, Erdreste in mannigfaltiger Form hingen daran, und Scharen von Insekten krabbelten in dem Gewirr herum. An manchen Stellen standen die Stämme wohl ursprünglich so dicht, dass sich ihre Wurzeln ineinander verschränkten und, als sie dann vom Wind oder durch die Altersschwäche gefällt wurden, gemeinsam zu dritt oder viert sich in die Waagerechte begaben und eine wahre Wand von Wurzelstöcken errichteten. Nicht selten waren diese Wände sechs bis sieben Meter hoch.

Ich fuhr an der Abzweigung nach St. Andreasberg vorbei, nahm nicht den steilen Weg hinauf zum Haus Sonnenberg, sondern folgte weiter der Oder aufwärts, überquerte wieder den Flusslauf und fand mich auf einer Schotterpiste wieder, die immer stärker bergauf führte und mich teilweise weit vom Wasser entfernte. Das Tal wurde zunehmend enger und die Bergflanken immer steiler und höher. Auf der linken Seite erhob sich der fast 900 Meter hohe Rehberg, rechts über mir dräuten irgendwo die mächtigen Hahnenkleeklippen. Vergeblich versuchte ich, auf der gegenüberliegenden Seite den Verlauf des Rehberger Grabens zu entdecken, ich war wohl noch zu weit unten. Aber meine Geduld wurde belohnt: nach weiterem anstrengenden Aufstieg sah ich links einen lichten Streifen, hörte menschliche Stimmen und erblickte kurz darauf auch ein paar Wanderer, die sich in luftiger Höhe am Berghang Richtung St. Andreasberg bewegten. Gleichzeitig hörte ich allerdings auch das Geräusch der dicht über mir auf der B 4 vorbei jagenden Autos… Ich kann eben nicht alles haben. Der steile Anstieg zum Damm des Oderteiches war auch bald geschafft, also Zeit für eine Pause. Es bot sich eine kleine Lichtung im Baumbestand an, auf der eine hölzerne Köhte, die „Köhte am Oderteich“, errichtet war und außerdem noch einige Tische und Bänke im Freien standen. Ich vermute, dass der Begriff Köhte eine Variation des Wortes Kohte ist, also der zeltähnlichen Behausung der Pfadfinder – die haben es allerdings den alten Samen abgeguckt, die diese Konstruktion bereits zur Zeit der Völkerwanderung kannten. Ich jedenfalls nahm im Freien Platz und ließ es mir schmecken. Nicht aber den Kaffee, er hatte aus der Thermoskanne einen abscheulichen Geschmack. Ich wunderte mich während meines Aufenthalts, dass auf der nahe gelegenen Straße Richtung Clausthal-Zellerfeld nicht ein Fahrzeug fuhr und auch der benachbarte Parkplatz frei von jeglichen Autos war. Mir sollte es nur recht sein. So konnte ich ungestört meine Vesper beenden und mich in aller Ruhe auf den Weg den Rehberger Graben entlang machen.

Der Rehberger Graben – ein Juwel aus der an Schätzen wahrlich nicht armen Harzer Wasserkunst oder auch des Oberharzer Wasserregals. Bereits Anfang des 17. Jahrhunderts wurde mit dem Bau eines hölzernen Kanals begonnen, der das Wasser an der Ostflanke des Rehberges sammeln (unter anderem auch aus einem Zufluss mit dem putzigen Namen Hühnerbrühe) und zu den Wasserrädern der Bergwerke in und um St. Andreasberg leiten sollte. Dieser erste Rehberger Graben war jedoch äußerst aufwändig in Bezug auf die Instandhaltung, weil im Winter das Wasser teilweise gefror und im Sommer auch einmal ganz ausblieb und das Holz in der Folge austrocknete, riss und häufig erneuert werden musste. So wurde der Bau eines zweiten, 30 Meter tiefer gelegenen Grabens beschlossen, der fast genau ein Jahrhundert nach Fertigstellung des ersten eingeweiht wurde. Diesmal war es ein vollständig ausgemauerter Graben, der zusätzlich in Teilbereichen von den bei den Sprengungen angefallenen Felsbrocken abgedeckt wurde und damit mit einem guten Schutz gegen die Witterungseinflüsse versehen wurde. Auch heute noch bedarf der Graben nur geringer Pflege auf Grund seiner extrem dauerhaften Bauweise. Die Wanderer und Radfahrer, die dieses Bauwerk besuchen, werden allerdings häufig darauf hingewiesen, doch bitte keine Steine und sonstige Gegenstände in das Grabenbett zu werfen, um nicht den ungehinderten Fluss des Wassers zu gefährden, trägt es doch auch noch in heutiger Zeit zur Stromerzeugung bei.

Der Rehberger Grabenweg, der alte, breite Inspektionsweg, der bereits beim Bau des zweiten Grabens mit angelegt wurde, ist eine sehr beliebte Strecke für Wanderer und Radfahrer. Auf einer Länge von 7,5 Kilometern fällt er gerade einmal 30 Meter ab, eine für die damalige Zeit ungeheure Ingenieurskunst. Und dies in einem wahrlich nicht leichten Gelände! Stets talseitig parallel zum Graben schwingt sich der Weg den Hang entlang, mit zunehmender Entfernung zum Oderteich sich immer höher über das Odertal erhebend. Aussichtspunkte gibt es dabei leider nur wenige, weil der Weg inmitten eines dichten Waldgebietes liegt. Um weit über das Odertal blicken zu können, hätte ich auf den weiter oben liegenden Rehberger Planweg wechseln müssen, der jedoch für Radfahrer nur äußerst beschwerlich zu fahren ist, dafür im Winter als sehr schneesichere Loipe gilt und viele atemberaubende Ausblicke bietet. Aber auch der Weg, den ich befuhr war keineswegs langweilig und uninteressant. Im Gegenteil, die vielen Informationstafeln wiesen anschaulich auf die Geschichte, die Konstruktion und die Begleitumstände dieses Bauwerks hin. Auch fehlte es nicht an Erklärungen der vorkommenden Waldformen und der hier lebenden Fauna. Beim Befahren des Grabenwegs ist es geraten, sich auf der talseitigen Spur zu halten, weil die innere durch zahlreiche Steinschläge etliche Löcher aufweist, die wohl ausgebessert wurden, aber immer noch ein gehörig Maß Rütteln beim Hinüberfahren erzeugten.

Der Goetheplatz lud zwingend zur Pause ein. An dieser lichten Stelle stehen einige Bänke und Tische, es ist sogar ein schwacher Blick durch die Bäume hinüber zu den Hahnenkleeklippen möglich. Hier entdeckte Goethe auf seiner 2. und 3. Harzreise im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts anhand der durch die Sprengungen freigelegten Felsen den äußerst harten Hornfels, der sich bei der Entstehung des Harzes durch das Einfließen des flüssigen, glühenden Granits in das ältere Schiefergestein gebildet hatte. Nach etwa 2/3 des Weges schwenkt der Rehberger Graben, der bisher in südliche Richtung verlief, nach Westen ab, auf St. Andreasberg zu. Kurz vor diesem Ort liegt das Rehberger Grabenhaus, eine gut frequentierte Waldgaststätte, die genau wie der Rinderstall nur zu Fuß zu erreichen ist. Das hölzerne Haus, etwa 1772 errichtet, diente früher als Wohnstatt für den Grabensteiger, wie der für die Unterhaltung des Grabens verantwortliche Steiger hieß. Das Gebäude wirkte so heimelig auf mich, dass ich unbedingt einkehren und eine köstliche hausgemachte Hühnersuppe mit herzhaftem Landbrot verzehren musste. Vor der großen Gastterrasse war ein urwüchsiger Rastplatz angelegt, an den die sich selbst verköstigenden Wanderer per Hinweisschild gebeten wurden, um nicht den zahlenden Gästen auf der Terrasse die Sitzplätze vorzuenthalten. Eine verständliche Bitte. Im Winter werden hier regelmäßig Rotwildfütterungen veranstaltet, bei denen die Besucher aus dem warmen Gastraum heraus die Tiere beobachten können. Tischreservierung unbedingt erforderlich – Donnerschlag!

Ab dem Grabenhaus war der Weg dann asphaltiert und folgte weiter dem Wasserlauf. Dann war das strömende Nass verschwunden! Er stürzt hier in den Tiefen Gesehr Wasserlauf, einem unterirdischen Stollen, der das Wasser aufnimmt, weiterleitet und verteilt. Nicht weniger als sechs kleinere Wasserkraftwerke werden heute noch von ihm gespeist, zum Teil so weit entlegen wie im Siebertal. Ich überließ den Rehberger Graben seinem Schicksal und machte mich hinauf zum Internationalen Haus Sonnenberg. Diese Tagungs- und Begegnungsstätte wurde früher auch für Klassenreisen genutzt – ob es heute noch so ist, weiß ich nicht. Als Schüler zu Beginn meiner Gymnasiumszeit habe ich einmal dort mehrere Wochen im Sommer verbracht und verbinde nur die angenehmsten Erinnerungen damit. Es waren Tage angefüllt mit Sport, ungeheuer viel Spaß, hervorragendem Essen und faszinierenden Exkursionen, unter anderem zu einigen Bergwerken des Harzes. Vielleicht stammt aus dieser Zeit meine Vorliebe für dieses prächtige Mittelgebirge. Leider erkannte ich an dem Komplex kaum noch etwas wieder, zu sehr haben wohl die notwendigen Modernisierungsmaßnahmen das Bild verändert. Lediglich der halb zugewachsene und brüchige Asphaltweg auf der gegenüber liegenden Straßenseite schien mir unsere frühere beliebte Sprintstrecke zu sein.

Nun ging es aber wieder stramm nach Norden, die Hänge von Rehberg und Sonnenberg hinauf. Entweder ich war schlecht in Form, oder der Anstieg war tatsächlich so steil: weite Strecken musste ich im ersten Gang fahren, und das mit nur minimalem Gepäck! Das Wetter war inzwischen immer besser geworden, und ich schwitzte mächtig unter dem Einfluss der kräftig strahlenden Sonne. Als ich dann die letzten Meter zur Harz-Hochstraße hinunter rollte, wusste ich auch, warum bei der Rast an der Köhte am Oderteich mich kein Auto störte: Die Straße war wegen Asphaltierungsarbeiten gesperrt. Ich fragte einen Bauarbeiter, ob ich nicht dennoch die Straße benutzen könne. Er hatte nichts dagegen, bat mich jedoch, ein wenig auf die zahlreichen Baufahrzeuge zu achten, die noch die Strecke bevölkerten. Gesagt, getan, ich umkurvte die vielen Kieslaster und Walzen und erreichte nach wenigen Kilometern wieder den Oderteich, nicht ohne einige Male einen herrlichen Ausblick auf den vor mir liegenden Brocken zu haben.

Die Ufer des Oderteichs glänzten goldgelb in der Nachmittagssonne und luden geradezu ein, sich eine Weile an den Wasserrand zu setzen. Der Strand bestand nicht aus Sand, sondern aus grobkörnigem, sehr weichem Sandstein, der wie geschaffen für ein Faulenzen am Wasser war. Sanft neigte er sich dem Ufer entgegen und war auch ausdrücklich als Badebereich bezeichnet und ausgeschildert. Ich hatte jedoch wenig Neigung, hier hinein zu springen, das Wasser war mir viel zu kalt. Außerdem hatte es eine gelblich braune Farbe, und der Zufluss eines kleinen Baches, der über ein paar Felsen hinunter sprang, verursachte eine weit verteilte Schaumfläche, durch die junge Enten mit Begeisterung jagten und ihre Schnäbel scheinbar mit Rasierschaum bedeckten. Der Oderteich wurde Anfang des 18. Jahrhunderts aufgestaut und gilt als die älteste Talsperre Deutschlands. Bis ins Jahr 1891, also über eineinhalb Jahrhunderte war er auch der größte Stausee Deutschlands. Er diente hauptsächlich zur Wasserversorgung der Bergbaubetriebe mit Energie. Als Trinkwasserspeicher spielte er keine Rolle.

Nachdem ich mich in der Sonne ausgiebig gewärmt hatte, machte ich mich über den altertümlichen Damm auf den Weg zurück nach Braunlage. Von einer Anstrengung konnte nun keine Rede mehr sein, herrlich entspannt rollte ich bei schönstem Sommerwetter in den Ort hinein, kaufte noch die obligatorische Zeitung, strampelte hinauf zur Wohnung und machte es mir mit einem heißen Tee auf dem Balkon bequem. Nach der Lektüre der Zeitung war Abendessen angesagt, Musik hören und noch ein wenig Lesen und Tagebuch schreiben.

 

IV. Per Pedes zu den Hahnenkleeklippen und zur Achtermannshöhe

Nach dem üblichen ausgiebigen Frühstück packte ich mir mein Picknickbündel zusammen, verstaute alle notwendigen Dinge in meinem neuen Rucksack und startete zu einer Wanderung mit zunächst nicht festgelegtem Ziel. Mein erster Anlaufpunkt sollten die Hahnenkleeklippen sein, wie es dann weiterging, wollte ich dann sehen. Wegen der Randlage des Hauses benötigte ich nur wenige Schritte, um mich sogleich im tiefen Wald zu befinden. Auf einem breiten Schotterweg strebte ich in westlicher Richtung hinauf zur Bundesstraße 4, die ich jedoch auf einer kleinen Brücke schnell überquerte, um weiterhin durch den Wald zu laufen. Weiter waren die Wege bequem und leicht zu gehen, ich durchquerte dichten Nadelbaumbestand, aufgelockert durch etliche Ebereschen.

Die bisherige Wanderung bot keine Aufregungen, war aber doch in keiner Weise uninteressant oder gar langweilig. Welch viele verschiedene Pflanzen gibt es für einen Großstädter zu sehen, die mir fast alle nicht dem Namen nach bekannt waren. Sicher, einen Fingerhut kann ich schon von der Erika unterscheiden, damit hört es bei mir aber fast schon auf. Das hindert mich jedoch nicht, mit größtem Interesse die verschiedenen Arten zu betrachten und zu bewundern, wie sie in dieser Vielfalt sich den jeweiligen Nischen angepasst haben. Am faszinierendsten fand ich die ganz kleinen Pflanzen, die sich unter oder inmitten der großen versteckten. All diese Kleinigkeiten sind bei den Radtouren nicht zu entdecken. Ebenso nicht die Einzelheiten der entwurzelten Bäume mit ihren vielarmigen Tentakeln der Wurzeln, die teilweise schon etwas unheimlich aussahen.

Das Hinweisschild „Hahnenkleeklippen 250 Meter“ führte mich auf einen kleinen gewundenen, etwas moorigen Waldpfad, der leicht bergan stieg und mich überraschend schnell zu meinem Ziel führte. Als ich an das hölzerne Schutzgeländer der Klippen trat, wurden meine Erwartungen weit übertroffen! Tief, tief unter mir floss die Oder durch lichten Waldgrund, die Straße, die ich gestern hinauf gefahren war, wand sich unten am Berghang entlang, in südöstlicher Richtung war der Blick frei hinüber nach St. Andreasberg, und noch weiter links war das tief eingeschnittene Odertal Richtung Bad Lauterberg zu erkennen. Der Rehberger Grabenweg zeichnete sich auf der gegenüber liegende Seite ab, sogar der Goetheplatz mit den Felsformationen war deutlich zu erkennen. Die Hahnenkleeklippen werden durch eine sehr steile, etwa 700 Meter breite Felswand gebildet, deren Wände etwa 200 Meter in die Höhe ragen. An einigen Stellen hängen sie sogar über. Der Name hat nichts mit dem bekannten Erholungsort Hahnenklee zu tun, sondern leitet sich vom Begriff „Hohe Klippen“ ab.

Ein kleiner Rastplatz an den Klippen lud zur Pause ein. Mit Wonne genoss ich den gesüßten Tee aus der Thermoskanne, um wie viel besser schmeckte er doch als der gestrige Kaffee! Dazu ein Ei und ein paar Scheiben herzhaftes Brot belegt mit Harzer Wurstspezialitäten – Herz, was willst du mehr? Ich hatte gelesen, dass der Weg vom Königskrug zum Oderteich sehr schön sein sollte und begann daher den leichten Abstieg zum Startpunkt dieser Route. Als ich jedoch dann nach Nordwesten abbiegen wollte, versperrte mir ein Schild „Gesperrt wegen Baumarbeiten“ den Weg. Weil ich keine Lust hatte, mir einen Ast oder ärgere Dinge auf den Kopf fallen zu lassen, schlug ich den Weg zum auf der anderen Seite der Bundesstraße 4 gelegenen Königskrug ein, um von dort irgendwie weiter zu gehen. Der Gasthof ist ein beliebter Ausgangspunkt für Wanderer, hat auch eine eigene Bushaltestelle. Daher war es kein Wunder, dass sich dort eine Vielzahl von Naturfreunden versammelte, die sich jedoch auf Grund der vielen Richtungsmöglichkeiten sehr schnell verliefen. Ich folgte dem Hinweis „zur Achtermannshöhe“ und fand mich auf einem gewundenen Waldweg wieder, der einen viel ursprünglicheren Eindruck machte als die Strecke zu den Hahnenkleeklippen. An einer Wegkreuzung erklärte ein Harzranger (die heißen tatsächlich so, seit dem die beiden Nationalparks zusammengelegt wurden – sie sehen auch ein wenig aus wie die kanadischen Mounties) die Geschichte dieser Schutzgebiete einer Gruppe von etwa Zehnjährigen. Ob die dieses Thema tatsächlich interessant fanden?

Nach einem halbstündigen, leichten Anstieg gabelte sich der Weg, nach rechts ging es zur Achtermannshöhe („leichter Weg“), nach links ging es zur Achtermannshöhe („schwieriger Weg“). Ich wählte die schwierige Variante. Zunächst war keinerlei Unterschied zu bemerken: Der Weg wand sich genau wie vorher zwischen alten Bäumen hindurch und gewann allmählich immer mehr an Höhe. Dann jedoch musste ich scharf rechts abbiegen und stand einem ausgetrockneten Bachbett gegenüber, das steil bergauf führte. Über Felsbrocken, scharfkantigen Steinen und schlammige Flächen bewegte ich mich aufwärts und war froh, in den letzten zwei Tagen keine heftigen Regenfälle gehabt zu haben, das Begehen dieses Pfades wäre dann wohl nicht möglich gewesen. Teilweise war der Weg auch nicht als solcher zu erkennen, lediglich an den blank gewaschenen Felsen konnte ich den weiteren Verlauf vermuten. Kreuz und quer kletterte ich durch Steinmulden und über Granitbuckel. Schließlich war vor mir eine beeindruckende, zerklüftete Felskuppe zu sehen, die die umstehenden Bäume weit überragte: die eigentliche Achtermannshöhe war erreicht. Noch war ich aber nicht oben. Ich ging um die Kuppe herum, traf auf eine lockere Ansammlung von groben Pichnicktischen und sah eine wie für Riesen gemachte, grob heraus gehauene oder auch natürliche Treppe hinauf führen, durch ein stabiles Geländer gesichert. Das war auch nötig, denn die „Stufen“ waren so uneben, so steil und so voller Spalten und Risse, dass ein freihändiges Hinaufklettern mit einigen Absturzgefahren verbunden wäre. So aber gelangte ich langsam aber sicher zum Gipfel.

Der 926 Meter hohe Berg ist die vierthöchste Erhebung des Harzes. Weil die Kuppe über die Bäume hinausragt, bietet dieser Standort eine hervorragende Rundumsicht über den Harz. Brocken, Wurmberg, Rehberg, Stieglitzecke, Torfhaus und die Ebenen hinter Bad Harzburg waren deutlich zu erkennen. Vom Brocken herüber ertönte ein lang gezogener Pfiff, und auf der kahlen Hochfläche dampfte schwer prustend die Brockenbahn dem Bahnhof entgegen. Es herrschte eine verhältnismäßig klare Sicht, nur im Süden, hinter dem Wurmberg, verschwammen die Hügel in einem leichten Dunst. Der Blick in Richtung Nordwesten war selbstverständlich durch den über 200 Meter höheren Brocken verwehrt. Nach mir erklomm ein Paar aus Helmstedt, etwa 40 Jahre alt, den Gipfel. Ich kam mit den Menschen schnell ins Gespräch und erfuhr zu meiner Überraschung, dass sie das erste Mal im Harz waren. Sie konnten es selbst nicht erklären, warum sie nie die Gelegenheit genutzt hatten, diese herrliche Landschaft, die ja geradezu vor ihrer Haustür liegt, zu besuchen. Das gab mir natürlich Gelegenheit, etwas von meinem Wissen über den Harz weiter zu geben, wollten die beiden doch noch über zwei Wochen in einem Ferienhaus in Braunlage hier verbringen. Sie waren beide begeisterte Wanderer und freuten sich schon sehr darauf, die vielen möglichen Strecken zu erkunden.

Nachdem ich wieder unten an den Picknicktischen angelangt war, war es wieder einmal Zeit für eine Stärkung. Wie gut können doch heißer Tee aus der Thermoskanne und belegte Brote und Tomaten in freier Natur schmecken! Während ich so schmauste, kam die Gruppe von Kindern, die ich beim Königskrug passiert hatte, den Bachbettweg herauf. Sicher war der Weg für Kinder nicht so leicht, aber in einem Alter von zehn bis zwölf Jahren sollten die jungen Menschen ein wenig Bewegung vertragen können. Es war erschreckend anzusehen, in welcher Weise manche der Kinder den Weg hinauf stolperten. Es bricht selbstverständlich ein Stück der Coolness ab, wenn auch auf einer solchen Wanderung über Stock und Stein die Schnürsenkel zugebunden werden. Lieber beim Klettern über die Felsen sechs Mal den Schuh verlieren, als sich die Blöße zu geben, nicht hip zu sein. Der Harzranger machte angesichts des desolaten Haufens kein sehr glückliches Gesicht.

Nach der Pause machte ich mich auf den Weg zum Dreieckigen Pfahl. Bereits nach kurzer Zeit erreichte den Quellarm der Warmen Bode, die hier wirklich nur ein kleines Bächlein war. Parallel zum Bachlauf wand sich der Weg in vielen Kurven stetig bergauf, durchaus abwechslungsreich aufgelockert durch die vielen Windungen der Bode, die sich mal als enger, etwas tieferer Kanal den Weg durch die Farnkräuter bahnte, mal an seichten Stellen an verwunschene Teiche erinnerte. Auffällig war auch hier die dunkelbraune Färbung des Wassers, die mir schon gestern am Oderteich aufgefallen war. Es ist auch kein Wunder, liegen die Quellen der beiden Flüsse doch nicht weit voneinander entfernt. Allerdings werden sie durch die Wasserscheide des Harzes getrennt, mündet doch die Bode in die Saale und gelangt dann über die Elbe in die Nordsee, während das Wasser der Oder über Rhume, Leine, Aller und Weser einen völlig anderen Weg ebenfalls in die Nordsee nimmt.

Es war Pilzzeit. Es ist wirklich schade, dass ich so überhaupt keine Ahnung von diesen Gewächsen habe, anderenfalls hätte ich mir im Vorübergehen eine wirklich reichliche Mahlzeit für das Abendessen mitnehmen können. Aber die Gefahr einer Vergiftung wollte ich auf keinen Fall eingehen. Wenn es mich nach Pilzen gelüstete, hätte ich ja nur in ein Restaurant zu gehen brauchen, die saisonbedingt in der Regel mehrere Pilzgerichte auf der Karte hatten. Zu saftigen Preisen, versteht sich. Waldpilze sind eben kein Industrieprodukt, sondern müssen immer noch in mühsamer und zeitaufwändiger Handarbeit gesammelt werden.

Der Dreieckige Pfahl ist ein historischer Grenzstein, der zuerst im Jahr 1698 erwähnt wurde. Im Laufe der Zeit wurde er mehrfach erneuert, war lange Zeit ein hölzerner Pfahl und besteht in der heutigen Form mindestens seit 1866. Er markierte zu jener Zeit die Grenze zwischen dem Königreich Hannover und dem Herzogtum Braunschweig. Jetzt verläuft hier die Grenze zwischen den Bundesländern Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Bis 1989 markierte er auch die Teilung der beiden Deutschen Staaten. Der Zahn der Zeit hat schon sehr an ihm genagt, daher sind die beiden eingemeißelten Abkürzungen KH und HB nur noch schwer zu entziffern. Heute ist der Platz ein beliebtes Ziel für Wanderer, treffen doch hier mehrere Routen aufeinander. Ein großzügiges Angebot an Tischen und Bänken, die meisten davon schattig unter alten Bäumen gelegen, lädt auch sehr zur Rast ein. Auch ich nahm die Gelegenheit wahr, um meine letzten Vorräte zu vertilgen und den Tee zur Neige zu leeren. Schließlich hatte ich keinen weiten Weg mehr vor mir, wollte ich doch zum Ehrenfriedhof an der Bundesstraße 4, an dem sich auch eine Bushaltestelle befand.

Es war ein leichtes Wandern stetig bergab, das mir sehr gelegen kam. Wann bin ich denn schon einmal gewandert? Es ist eben doch ein völlig anderer Bewegungsablauf als beim Radfahren – ich merkte meine Füße und vor allem meine Hüften. Ich werde eben allmählich alt, da soll ich mir nichts vormachen. Es war natürlich typisch für mich, dass ich nicht mit leichten, kurzen Strecken begann, sondern gleich wieder etwa 25 Kilometer zurücklegen musste. Als ich an der Bushaltestelle ankam, schaute ich auf den Fahrplan und stellte an Hand meines Fahrradcomputers, den ich als Uhr mitgenommen hatte (ich besitze sonst keine tragbare Uhr) fest, dass ich den Bus um zwei Minuten verpasst hatte. Der nächste fuhr erst in einer Stunde. Nun war diese Haltestelle, die keine eigene Bucht besaß, wirklich kein einladender Ort, um hier sechzig Minuten wartend zu verbringen. Also schaute ich auf die Karte und sah, dass hinter dem Ehrenfriedhof ein Wanderweg vorbei führte, der nach Oderbrück, der nächsten Haltestelle führte. Den schlug ich ein und freute mich, diesmal auf einem sehr schmalen, gewundenen Weg mit herrlich weichem Waldboden gehen zu können. Bisher hatte ich stets Schotter und in kurzen Abschnitten sogar Asphalt unter den Sohlen gehabt. Es war ein erholsames Erlebnis, die Schritte vom dichten Waldgras gedämpft zu bekommen. Ein wenig Aufmerksamkeit war allerdings geboten: An etlichen Stellen war der Untergrund sehr sumpfig und matschig. Vom reichlichen Wasservorkommen zeugten auch einige kleine Pumpanlagen der Harzer Wasserwerke, die sehr schön versteckt und kaum sichtbar unter mit Gras bewachsenen Erdhügeln angelegt waren.

In Oderbrück hatte ich noch etwas Zeit bis zur Abfahrt des Busses, hatte bereits wieder Hunger und schaute interessiert auf die Speisekarte des Restaurants mit großem Garten unter alten Bäumen. Leider wurden nur recht aufwändige Gerichte angeboten, die ein kurzes Verweilen, wie ich es im Sinn hatte, nicht erlaubten. Die einzigen „schnellen“ Gerichte waren Riesenwindbeutel mit den verschiedensten Füllungen, unter anderem Waldbeeren, Erdbeeren, Kirschen, Zwetschgen (Zwetschgen!) und verschiedenen Eissorten. Ich hatte jedoch Heißhunger auf etwas Herzhaftes, also ließ ich den Garten liegen, schlenderte zur Haltestelle und vertiefte mich in Vorbereitung auf den morgigen Tag in die Wanderkarte. Heute hatte ich sie nur zur Hand genommen, um mein nächstes Ziel festzulegen. Auf der Strecke brauchte ich sie dann nicht, so hervorragend sind die Wege im Harz ausgeschildert. Auch genaue Entfernungsangaben fehlen nicht.

Der Bus brachte mich innerhalb kürzester zeit in das Zentrum von Braunlage, ich erledigte die Routineeinkäufe von Tabak und Zeitung und verbrachte den Abend ebenso routiniert und erholsam: Zeitung lesen mit Tee auf dem Balkon, Abendessen, Musik hören, Lesen und Tagebuch schreiben.

Schön.

 

V. Fast ein ganzer Brocken

Nach frühem Aufstehen uns ausgiebigem Frühstück schnürte ich meinen Ranzen und machte mich wieder per Pedes auf den Weg. Bevor ich aber die eigentliche Tour begann, schaute ich beim Friseur vorbei und versuchte mit den Worten „die Matte muss ab!“ einen Termin für die nächsten Tage zu bekommen. Leider wurden keine Vorbestellungen entgegen genommen, die junge Friseuse bot mir an, jetzt sofort Platz zu nehmen. Ich wollte aber noch das schöne Wetter ausnutzen und lieber wandern. „Musst du eben mit Matte wandern“ war der Abschiedsgruß.

So trug ich die Matte zunächst Richtung Wurmberg. Ich hatte vor, zum Brocken zu marschieren, in Abhängigkeit von der Wetterentwicklung. Unter Umständen sollte es nämlich am Nachmittag regnen. Aber bei zunächst wunderbarem Wanderwetter passierte ich das Eisstadion mit dem ausladenden Parkplatz und die Talstation der Wurmbergbahn. Noch kamen keine Monsterroller den Wanderweg herunter gebraust. Diese Monsterroller waren stabile Konstruktionen mit überdimensionierten grobstolligen Reifen. Sie konnten an der Talstation gemietet werden und wurden jeweils in einer leeren Gondel zur Mittelstation gehievt. Von dort konnten sich die Piloten auf gewundenen Schotterwegen ins Tal stürzen. Ich hoffte nur, dass die Fahrer sich an die Bitte hielten, doch auf die Wanderer Rücksicht zu nehmen. Ich bezweifelte es stark. Das Angebot erinnerte mich an den Albula-Pass im Schweizer Kanton Graubünden. Auch dort konnten Roller gemietet werden, den Transport übernahm dort die Rhätische Bahn. Die Strecke verlief zwar auf der asphaltierten Passstraße von Bergün hinunter nach Preda, war aber wegen des nicht unerheblichen Autoverkehrs erheblich gefährlicher als hier am Wurmberg.

Ich verließ die Talstation und stieg weiter die asphaltierte Straße hinauf. Ich überholte ein älteres Paar, das mich ansprach und fragte, wo ich denn hin wolle. „Vielleicht auf den Brocken“ erwiderte ich. Sie wollten auf den Wurmberg und mit der Seilbahn wieder herunter fahren. Sie wollten weiter wissen, wo ich denn her käme und was ich so alles vor hätte. Sie waren voll des Lobes darüber, dass ich als so junger Mensch so viel Freude an der Natur hatte. Du meine Güte, ich war doch bereits achtundfünfzig Jahre alt! An der Abzweigung der Wurmbergstraße trennten sich unsere Wege. Jetzt war es auch vorbei mit den sanften Kurven. Bis folgte die Straße nämlich der alten Trasse der ehemaligen Südharz-Eisenbahngesellschaft, die hier früher eine Stichstrecke zu einem inzwischen aufgelassenen Steinbruch betrieb, die nur dem Güterverkehr vorbehalten war. Ich passierte die beiden Skisprungschanzen, die auch im Sommer genutzt werden konnten, weil sie mit den entsprechenden Matten belegt wurden. Der Auslauf führte noch über die Straße hinweg. Um Unfälle zu vermeiden, waren sogar zwei Ampelanlagen aufgestellt. Dabei war die Straße für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Ich fand die Ampeln überflüssig und übertrieben.

Ich war jetzt eineinhalb Stunden unterwegs und verspürte den ersten Hunger. An der Bärenbrücke gab es einen schönen Rastplatz mit Blick das Tal der Warmen Bode hinunter. Pech gehabt: alle Plätze waren von einer Wanderergruppe belegt. Ich hätte mich selbstverständlich dazu setzen können, hatte aber keine Lust auf Gespräche. Ich wollte allein sein. Deshalb wanderte ich weiter. Inzwischen hatte sich die Straße in einen Schotterweg gewandelt. In der Mitte lag ein mit Gras bewachsener Streifen. Der Schotter war so grob, dass das Gehen darauf ein wenig unangenehm war. Außerdem störte mich das Geräusch meiner Schritte. Deshalb lief ich auf dem Mittelstreifen. Das kleine Tal unter mir erinnerte mich an gestern und vorgestern. Die umgestürzten Bäume lagen kreuz und quer auf dem Boden herum. Dazwischen schlängelte sich der Bergbach hindurch. Der Weg führte mich schnurgerade stets bergauf. Erst als ich einen kleinen Bergsattel erreichte, schwenkte der Weg nach Osten ab. Ich ging durch dichten Wald und fand mich auf einer kleinen Lichtung am Hang wieder, die einen ungehinderten Blick in das Tal der kalten Bode bot. Und das Schöne war, dass es dort eine Sitzgruppe mit Tischen zum Picknicken gab. Ich setzte mich nieder und packte meine Köstlichkeiten aus. Ich hatte mir eine Zwiebel gehackt und in einer kleinen Dose mit genommen. Ich beschmierte mir Schnitten aus Hexenbrot (erkläre ich später) mit Butter, schnitt Tomaten in Scheiben, belegte die Brote damit und schloss mit reichlich Zwiebeln, Salz und Pfeffer ab. Es war ein Wahnsinnsgenuss! Dazu noch zwei gekochte Eier, einige Stullen mit Nutella und eine saftige Birne. Der heiße Tee dazu schmeckte wie himmlischer Nektar. Ich schaute von meinem Sitzplatz hinunter auf den Plattenweg, der die ehemalige innerdeutsche Grenze markierte. Die Betonplatten waren zwar inzwischen entfernt und der Weg zu einer Wanderroute auf den Brocken umgestaltet worden, durch den hellgelben, gestampften Lehmbelag wirkte die Trasse aber immer noch wie ein Fremdkörper in der Natur.

Wunderbar gestärkt machte ich mich auf den weiteren Weg. Es ging weiter stetig bergauf. Es dauerte nicht lange, bis ich wieder den Dreieckigen Pfahl erreichte. Diesmal hielt ich mich nicht auf, sondern ging den ehemaligen Plattenweg, den ich bereits beim Picknick gesehen hatte, weiter Richtung Brocken. Ich kam am Bodesprung vorbei, also der Quelle der Kalten Bode. Sie war in keiner Weise gepflegt, entsprang an einer Felswand und wäre von mir ohne das entsprechende Hinweisschild glatt übersehen worden. Vom Wasser war ohnehin nichts zu sehen, weil der Bachlauf von dichtem Gestrüpp überwachsen war. Noch ein recht steiler Anstieg, und der Goetheweg war erreicht, der berühmte Wanderweg von Torfhaus zum Brocken. Johann Wolfgang, der Adlige, hatte sich aber sicher nicht auf diesen elendigen, mit großen Löchern versehenen Betonplatten empor quälen müssen. Es war schon sehr steil zum ehemaligen Bahnhof Goetheweg hinauf. Die ursprüngliche Wanderroute war nun nicht mehr begehbar. Das Gebiet war zwischenzeitlich zum Naturschutzgebiet erklärt worden. Der Weg auf den Brocken führte jetzt parallel zur Trasse der Brockenbahn entlang. Teilweise überquerte ich ausgedehnte Hochmoorgebiete auf beplankten Holzwegen. Am Anfang des Weges stand ein großes Schild „Radfahren verboten“. Dieses hielt nun etliche Mountainbiker nicht davon ab, dennoch auf der für Räder wirklich nicht geeigneten Strecke die zahlreichen Wanderer zu belästigen.

Bereits am Bahnhof Goetheweg konnte ich hinüber zum Torfhaus blicken, jetzt aber, auf dem Neuen Goetheweg, wurde der Blick immer besser. Ich freute mich richtig auf den Rückweg, weil ich dann immer Richtung Aussicht gehen würde. Der Weg war nicht nur wegen der Natur so interessant für mich, er war es auch wegen der vielen Züge, die den Brocken hinauf und hinab fuhren. Sie wurden sämtlich von Dampflokomotiven gezogen. Ich bin eben ein eingefleischter Eisenbahn-Fan.

An der Stelle, an der der Neue Goetheweg auf die Brockenstraße trifft, gab es einen schönen Rastplatz. Ich nutzte die Gelegenheit, Kalorien nachzuschieben und die Leute zu beobachten. Es war schon erstaunlich, wie viele gebrechliche Menschen sich auf den Brocken wagten. Sicher ist eine Wanderung auf diesen höchsten Berg des Harzes keine Hochgebirgstour, aber immerhin sind doch etliche Kilometer zurück zu legen. Was Wunder, dass fast alle dieser Leute mit der Bahn nach oben fuhren und dann gemächlich wieder hinunter trödelten. Die ganz Schlimmen nutzten die Pferdefuhrwerke, die in Schierke starteten und auf den Gipfel fuhren. Ich fand es unmöglich, die Pferde die schweren Karren die steile Straße hinauf ziehen zu lassen. Vor einigen Jahren war ich mit Dagmar einmal mit vollem Gepäck die Brockenstraße bis nach oben gefahren, wusste also, wie steil sie teilweise war. Gerade an diesem Rastplatz beim Bahnübergang begann ein sehr unangenehmes Stück. Nicht selten rutschten die Hufe der Pferde auf dem Asphalt aus, und mancher Klepper entging nur knapp einem Sturz. Merkten die Passagiere denn nicht, dass sich die Tiere nur quälten? Da waren mir doch die vielen Fahrradfahrer mit ihren Rennrädern lieber, die keuchend den Berg hinauf stampften.

Während ich dort auf einer Bank saß, bezog sich der Himmel immer mehr. Ich beschloss, nicht mehr auf den Brocken zu gehen. Ich wollte jetzt zurück zum Torfhaus und dann den Bus nach Braunlage nehmen. Ich packte also meine Sachen zusammen und machte mich auf den Rückweg. Der Neue Goetheweg war schnell geschafft. Ich hatte noch Tee in meiner Haliestatheka und setzte mich am Bahnhof Goetheweg auf einen von der Sonne gewärmten Stein. Ich schaute mir den Betrieb dieser ehemaligen Haltestelle an. Nach der Wiedervereinigung stieg der Betrieb auf der Brockenbahn sprunghaft an. Kein Wunder, war der Brocken doch zu DDR-Zeiten Sperrgebiet. Wegen der dichten Zugfolge war es auf der eingleisigen Strecke erforderlich, eine Ausweichstelle für die sich begegnenden Züge einzurichten. Und diese Stelle war am ehemaligen Bahnhof. Nun war die Strecke hier nun nicht einfach auf kurzer Strecke zweigleisig ausgebaut, nein, es war ein sogenanntes Rückdrückgleis gebaut worden. Der talwärts fahrende Zug verließ dort die Hauptstrecke und wurde auf ein totes Gleis geleitet. Er wartete dort so lange, bis der bergwärts fahrende Zug die Stelle passiert hatte. Dann fuhr der erste Zug wieder zurück und nahm die Fahrt wieder auf der Hauptstrecke wieder auf. Weil die Weiche jeweils von Hand umgestellt werden musste, dauerte diese Prozedur entsprechend lange. Während ich dort auf dem warmen Stein saß und mir einen stehenden Zug anschaute, winkten mir von einer Plattform eines Waggons zwei Leute zu. Es war das Paar aus Hildesheim, das ich gestern auf der Achtermannshöhe getroffen hatte. Es blieb nur beim Winken, weil sich der Zug mit einem lauten Fauchen der Lokomotive wieder in Bewegung setzte.

Nun aber los. Ich wollte schließlich noch vor Einsetzen des Regens den Bus erreichen. Ich stiefelte den Plattenweg hinunter und wanderte jetzt den ursprünglichen Goetheweg entlang. Es war teilweise erschreckend anzusehen, was der saure Regen den Bäumen angetan hatte. Gerade auf dem sogenannten Brockenfeld, einem hoch gelegenen Torfmoor, sah ich nur noch kahle Äste und abgestorbene Stümpfe. Ich war froh, wieder etwas niedrigeres Gebiet und Wald mit belaubten Bäumen zu erreichen. Nun folgte ich dem Abbegraben, einem Relikt des Oberharzer Wasserregals. Trotz der relativ geringen Menge dieser Wasserableitung hatte diese Anlage doch einschneidende Änderungen auf das Hochmoor am Brocken. Deshalb wird der Abbegraben im Gegensatz zum Rehberger Graben, der schließlich noch Wasserkraftwerke speiste, nicht gepflegt, sondern mit voller Absicht der Rückeroberung durch die Natur überlassen, um dem Moor nicht zu viel Wasser zu entziehen. Auch der Abbegraben hat ein unglaublich geringes Gefälle, weil er den Höhenlinien folgt. Ich finde es erstaunlich, dass das Oberharzer Wasserregal in die Liste der Weltkulturerbe aufgenommen wurde, weil ich nicht erwartet hatte, dass diese Leute, die darüber zu entscheiden hatten, so viel Sachverstand besaßen, ein solch geniales System entsprechend zu würdigen. Der Begriff „Wasserregal“ hat übrigens nicht mit einem Aufbewahrungssystem zu tun, sondern damit, dass die damaligen Landesfürsten einfach an bestimmte Institutionen oder Personen das Recht vergaben, das Wasser in ihrem Hoheitsgebiet zu nutzen. Ein einfacher Waldarbeiter, der ohne Berechtigung damals ohne Berechtigung aus dem Graben getrunken hätte, wäre wahrscheinlich geteert und gefedert, anschließend gevierteilt und dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Ich musste nicht aus dem Graben trinken, mein Durst war gestillt.

In Torfhaus musste ich nur fünf Minuten auf den Bus warten. Unmittelbar darauf setzte der Regen ein. Die Fahrt dauerte gerade einmal fünfzehn Minuten bis zur Herzog-Wilhelm-Straße in Braunlage. Bei strömendem Regen stieg ich die Bismarckstraße hinauf. In der Wohnung machte ich mir zunächst einen Kaffee, bereitete mir das Abendessen und briet anschließend Frikadellen für die morgige Wegzehrung. Den Tanzlehrer hatte ich schon durchgelesen. Also bestand die Abendlektüre aus der Süddeutschen Zeitung – keine schlechte Alternative.

 

VI. Es gibt sogar Pässe im Harz

Heute wollte ich wieder einmal mit dem Rad fahren. Ich inszenierte meine übliche Frühstücksorgie und bereitete mich dann vor. Ich kochte Eier, schnitt Zwiebeln, packte die fertigen Frikadellen ein, nahm zu Sicherheit Regenzeug mit und machte mich auf den Weg. Ich ließ mich die Herzog-Johann-Albrecht-Straße hinunter rollen und bog am Ortsausgang von Braunlage Richtung Bad Lauterberg ab. Zunächst raste ich die die fünf Kilometer lange Gefällstrecke mit durchschnittlich zehn Prozent zur Abzweigung der Oderstraße hinab. Wie es meine Art war, war ich trotz Urlaub wieder sehr früh aufgestanden und zu entsprechend frischer Morgenstunde unterwegs. Trotz Windjacke kam ich bei der Abfahrt tüchtig ins Frieren. Wurde die linke Seite der Straße noch von einer hohen Felswand begrenzt, konnte ich zur Rechten bereits in das obere Odertal hineinblicken. Auch die gewundene Straße hinauf nach St. Andreasberg war gut zu erkennen. Das war jedoch nicht meine Destination. Ich wollte an den Südwestrand des Harzes, zunächst nach Bad Lauterberg. Aber noch war ich nicht am Ziel. Nachdem die Oder die Straße erreicht hatte, war es mit dem Rasen vorbei. Dennoch war es ein extrem leichtes Fahren, weil immer noch ein leichtes Gefälle bestand und ich außerdem noch einen kräftigen Rückenwind als Unterstützung hatte. Zunächst fuhr ich noch durch dichten Wald, bis sich auf der rechten Seite eine große Lichtung auf tat. Ich hatte die Odertaler Sägemühle erreicht. Hier wurde in einer Zeit von viereinhalb Jahrhunderten das Holz für die Bergwerke und den Häuserbau geschnitten, ehe Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts der Betrieb eingestellt und hier ein Ausflugslokal eingerichtet wurde. Bereits nach kurzer Zeit ging die Gaststätte pleite. Über sechs Jahre stand der Laden leer. Erst vor zwei Jahren kaufte eine Familie das Anwesen und baute es in kürzester Zeit zu einem sehr beliebten und gut frequentierten Treffpunkt für Biker, Radler, Wanderer und Autofahrer um. Neben Hotel und Restaurant gab es auch eine Kunstausstellung und ein Geschäft für Kunsthandwerk.

Und was machte ich? Ich fuhr daran vorbei. Ich wollte in Bad Lauterberg mein zweites Frühstück zu mir nehmen. Ich wusste: es war nicht mehr weit bis zur Odertalsperre. Zunächst passierte ich aber den Campingplatz an der Erikabrücke. Ein schrecklicher Ort. Halb verfallene Wohnwagen, überwucherte Stellplätze, rostige Begrenzungszäune, Autowracks in einer Ecke. Dennoch war der Platz in Betrieb. Es waren sogar einige Gäste da. Mich reizte dieser Platz nicht. Bei meinen zahlreichen Besuchen in den letzten Jahren im Harz hatte ich den Campingplatz Erikabrücke nie genutzt. Er kam mir schon immer etwas suspekt vor. Also rollte ich auch hier vorbei. Kurze Zeit später erreichte ich die Odertalsperre. Sie lag langgestreckt im Odertal und hatte auf der Ostseite zwei tief eingeschnittene Buchten. Im Gegensatz zu vielen anderen Stauseen, die auch der Trinkwassergewinnung dienten, durfte hier jede Art von Wassersport betrieben werden, auch das Baden war erlaubt. An der größeren Bucht gab es einen wunderschön gelegenen Campingplatz, der mich schon einige Male als Gast gesehen hatte. Das Gelände war terrassenförmig angelegt, und die einzelnen Abschnitte hatten so nette Namen wie “Zu den romantischen Plätzen“. Viele der Stellplätze waren nicht mit dem Auto erreichbar, entsprechend naturbelassen waren sie.

Die Straße von Braunlage nach Bad Lauterberg führte in vielen Kurven direkt am Nordufer des Sees entlang. Entsprechend großartige Aussichten boten sich mir. Auch die Autofahrer wussten die Gegebenheiten zu schätzen. Die vielen Parkbuchten am Straßenrand waren schon am Vormittag gut belegt. An der Staumauer war das alte Steingebäude aus den dreißiger Jahren abgerissen worden und wurde gerade durch einen Holzbau ersetzt. Es sollte wieder ein Café und Schnellrestaurant eröffnet werden. Dass der Imbiss nicht geöffnet hatte, störte mich nicht. Ich würde in kurzer Zeit essen können.

Ich ließ mich die steile Straße hinter der Staumauer hinunter rollen und erreichte nach kurzer Zeit den Ortseingang von Bad Lauterberg. Leider wurde er von einem furchtbar hässlichen Betonturm geprägt, dem Panoramic-Hotel Bad Lauterberg. Warum wurde eine solche Sünde überhaupt zugelassen? Es war mir unbegreiflich. Glücklicher Weise war die Innenstadt von Bad Lauterberg frei von solchen Schandflecken. Die typischen Harzhäuser mit ihren ein oder zwei Stockwerken reihten sich an der Haupteinkaufsstraße, die verkehrsberuhigt war, aneinander. Schmale Gassen, viele noch mit Kopfstein gepflastert, zweigten von ihr ab. Mitten in der Stadt führte eine steile Seilbahn auf den Hausberg. Es gab eine erstaunliche Vielfalt von Geschäften und Gastronomiebetrieben, entsprechend belebt war die Straße. Ich kaufte mir die „Süddeutsche Zeitung“ und setzte mich auf die Terrasse eines Cafés am Anfang der Einkaufsmeile gegenüber der St. Andreaskirche. Bei belegten Baguettebrötchen und Rührei mit Schinken vertiefte ich mich in die Lektüre. Das Verweilen dort dauerte länger als geplant, weil ich neben dem Lesen auch die Leute auf der Straße beobachten musste. Der Menschenschlag im Harz war schon von besonderer Art. Wie soll ich es beschreiben? Knorrig wie Wurzelwerk? Gnome Mitteleuropas? Na, ja, in abgeschwächter Form.

Bevor ich mich auf den weiteren Weg machte, musste ich noch zwei Dinge erledigen. Ich wollte für mein heutiges Picknick noch Wegzehrung einkaufen und suchte nach einer Harzer Spezialität. Bei einem Schlachter fand ich „Harzer Knüppel“, eine luftgetrocknete Mettwurst mit Knoblauch, die noch in reiner Handwerksarbeit hergestellt wurde. Und dann hatte der Tanzlehrer seine letzten Schritte getan. Ich brauchte also Nachschub für die Abendlektüre. In einem gut sortierten Buchladen entdeckte ich einen Roman von Stieg Larsson, einem Schwedischen Autor, mit dem Titel „Verblendung“. Der Klappentext sagte mir zu, und ich kaufte das Buch.

Ich wollte jetzt nach Sieber hinüber, in das Tal des gleichnamigen Flusses. Ich bog in Lutterstraße ein, die nach der Burg benannt war, die im zwölften Jahrhundert auf dem Hausberg errichtet wurde und die auch Namensgeber für die kleine Stadt wurde. Noch im Mittelalter wurde die Lutterburg vollständig zerstört. Es sind keine Reste von ihr vorhanden. Übrigens musste Bad Lauterberg während des Dreißigjährigen Krieges extrem leiden. Gerade einmal drei Häuser blieben von den Verwüstungen verschont. Der Rest fiel den Flammen und den Marodeuren zum Opfer.

Bei leichter Steigung fuhr ich die Lutterstraße hinauf. Ich passierte die ausgedehnten Sportanlagen und erreichte die Försterei. Hier hätte ich wohnen können. Ein Hexenhäuschen der idyllischten Art schmiegte sich unter alten Tannen an einen kleinen Hang. Selbstverständlich war es mit Reet gedeckt. Die bunt gestrichenen Fensterrahmen erinnerten mich an die schönen skandinavischen Häuser.

Allmählich stieg die Straße immer stärker an. Ich musste sogar auf das kleine Kettenblatt schalten. Ich war erstaunt, keine Wanderer oder andere Radfahrer anzutreffen. Dabei war der Weg doch so wunderschön. An an einer Stelle, an der sich das Tal ein wenig erweiterte, war ein kleiner Rastplatz mit einem liebevoll gestalteten Holzpavillon. Ich schaute ihn mir genau an. Ich fand nicht ein einziges Metallteil daran. Sämtliche Holzverbindungen waren mit Schlitz und Zapfen und sogar Holzdübeln ausgeführt. Eine wunderbare Arbeit. Ich wollte aber noch keine Pause machen, sondern weiter fahren. Erst hinter Sieber hatte ich vor, mich für den Anstieg auf den Acker zu stärken. Jetzt wurde die Straße aber wirklich steil. Ich konnte nur noch im kleinsten Gang fahren, und auch dann war es noch ein anstrengendes Gestampfe. Nach einer Serpentine wandelte sich die bisherige Asphaltstraße in einen Schotterweg. Dadurch wurde das Fahren noch schwerer. Ich hatte nicht erwartet, am heutigen Tag eine solche Strapaze erleben zu müssen. Nach wenigen hundert Metern wurde die Steigung jedoch wieder flacher, und ich konnte wieder entspannter radeln. Die Piste folgte jetzt den Höhenlinien, war also relativ eben. Ich konnte weit hinunter ins Tal blicken, sah unter mir die Straße, die ich gekommen war und war gespannt, was mich nun erwartete. Der Weg machte eine scharfe Biegung nach rechts, und ich fuhr auf ein hölzernes Schild zu, in dem der Name „Sieber-Pass“ eingebrannt war. Es war offensichtlich wirklich ein Pass, denn anschließend ging es nur noch steil bergab. Es war eine waghalsige Fahrt. In richtigen Serpentinen ging es hinunter. Das Bremsen gestaltete sich auf dem recht groben Schotter als einigermaßen schwierig. Ich zog es schließlich vor, mit sehr gemächlicher Fahrt nach Sieber zu gelangen. Und endlich begegnete ich einem weiteren Radler. Er keuchte in einem Trikot, das mehr einer Wurstpelle als einem Sportanzug ähnelte, wortlos an mir vorbei. Immerhin – sein Rad war wahrscheinlich teurer als meines.

Endlich erreichte ich Sieber. Am Ortsanfang überraschte mich ein kleines, putziges Schwimmbad. Ein Schwimmbad in diesem abgelegenen Ort? Es war menschenleer. Menschenleer waren auch die Straßen dieses Harzdorfes. Wo waren denn bloß die Einwohner? Erst bei der kleinen Kirche sah ich ein altes Mütterchen die Stufen des Portals empor humpeln. Also gab es hier doch Menschen. Ich folgte der gewundenen Straße durch den lang hingestreckten Ort weiter aufwärts, bis ich bei einem erstaunlich großem Supermarkt, der selbstverständlich völlig leer war, wieder nach links in die Berge abbog. Nach wenigen hundert Metern wusste ich, warum das Dorf so verlassen wirkte: Auf dem Sportplatz fand unter reger Beteiligung der Bevölkerung ein Fußballspiel statt. Mich interessierte heute kein Sport, und ich radelte weiter zu einem idyllischen Rastplatz unter alten Kastanien. Meine Güte, war das ein Fest! Tomaten, Eier, Frikadellen, Hexenbrot, heißer Tee – Herz, was willst du mehr? Vom Fußballplatz drang ein begeistertes Gebrüll herüber. War ein Tor gefallen? Zwei kleine Jungen im Alter von sechs bis acht Jahren schlenderten auf mich zu. „Bekommen wir auch einen Hamburger?“ fragte mich der größere der beiden. Ich hatte gestern Abend ausreichen Vorrat gebraten und gab jedem eine Frikadelle. „Mensch, der schmeckt ja viel besser als bei MacDonald´s!“ rief der kleinere. Ja, was glaubte der denn? Wenn meine selbst hergestellten Frikadellen wie Industriehamburger schmecken würden, hätte ich einen Grund, mich umzubringen. Die Jungs wollten noch Nachschlag. Ich gab ihnen den Rest meiner Frikadellen. Ich wollte als Ausgleich oben bei der Hanskühnenburg eine Erbsensuppe mit Bockwurst essen. Die beiden nahmen nun nicht die Hackklopse und nahmen mit sie zurück zu ihren Eltern, sondern sie setzten sich an meinen Tisch und wollten mit vollem Mund wissen, wieso ich denn mit dem Rad im Harz wäre, weil an Radfahren hier doch eigentlich überhaupt nicht zu denken sei. Da konnte ich nur heftig widersprechen. Nur durch flaches Land zu fahren, ist nicht unbedingt langweilig, aber die Herausforderung, einmal an die Grenzen zu gehen, macht das Radeln doch im gebirgigen Gelände erheblich interessanter. Ich glaube, es gelang mir nicht, die beiden zu überzeugen. Was sollte es auch?

Was ich den Jungs erzählte, erwartete mich bereits kurze Zeit später. Ich musste denn auf den Acker hinauf. Genau wie am Sieber-Pass begann die Strecke recht leicht, wurde dann allmählich immer anstrengender. Natürlich musste ich bald in den kleinsten Gang schalten. Zum Schluss wurde der Weg so steil, dass ich glaubte, mich in den Alpen zu befinden. Aber es war klar, dass die Länge der zu bewältigenden Steigungen erheblich kürzer als zum Beispiel beim Stilfser Joch oder der Großglockner-Hochalpenstraße waren. Deshalb musste ich auch nicht so mit den Kräften haushalten und konnte recht zügig den Anstieg angehen. Es dauerte auch nicht lange, bis ich nach einer Fahrt durch dichten Mischwald, der kaum Ausblicke in das unter mir liegende Tal gewährte, die Schotterstraße erreichte, die von der Stieglitzecke fast den gesamten Acker entlang führte. Der Acker, richtig eigentlich „Auf dem Acker“, ist ein langgestreckter Höhenzug im Südwesten des Harzes, der teilweise über 850 Meter hoch ist. Er ist die Gewähr dafür, dass die weiter östlich liegenden Gebiete über ein relativ trockenes Klima verfügen. Die hauptsächlich von Südwesten anrückenden Regenwolken lassen den Hauptteil ihrer Last über dem Acker herunter rieseln. Ist es ein Wunder, dass sich direkt auf dem Kamm ein ausgedehntes Hochmoor gebildet hatte? Ich war jedoch noch nicht auf dem Kamm. Die Schotterstraße führte unterhalb um den Berg herum. Zur Hanskühnenburg hinauf musste ich einen Weg bewältigen, der extrem steil war und sehr losen Untergrund aufwies. Häufig drehte das Hinterrad durch, und konnte nur weiter kommen, wenn ich sitzen blieb und nicht aus dem Sattel stieg. Dann nämlich war der Druck auf dem Hinterrad nicht mehr vorhanden, und der Reifen rutschte nur noch auf dem lockeren Geröll.

Schwer atmend erreichte ich nach dem Bezwingen der Serpentinen das kleine Plateau auf dem Hauptkamm des Ackers. Hier erhob sich die Hanskühnenburg, ein Ausflugslokal mit großer Terrasse und einem kleinen Aussichtsturm. Heute rührte sich keine Hand, als ich an der Gaststätte ankam. Vor etlichen Jahren waren Dagmar und ich einmal mit voller Reiseausrüstung hier herauf gekeucht, und die zahlreichen Gäste hatten uns mit Applaus begrüßt. Ich stellte mein Rad ab, holte mir aus dem Selbstbedienungslokal eine Erbsensuppe mit zwei Bockwürsten und setzte mich auf einen sonnengewärmten Stein vor der Gaststätte. Die Suppe war richtig nach meinem Geschmack, kräftig und würzig. Und die Bockwürste? Sie waren von Salzbrenner, muss ich weiteres sagen? Von meinem Sitzplatz aus konnte ich weit über den südwestlichen Harz bis nach St. Andreasberg blicken. Diese Möglichkeit besteht allerdings erst seit Anfang der neunzehnhundertsechziger Jahre. Vorher war der Acker mit dichtem und hohen Wald bewachsen. Das Waldsterben und die exponierte klimatische Lage führten zur jetzigen Situation. Von der Rückseite der Hanskühnenburg sah ich sogar das ausgedehnte Clausthal-Zellerfeld. Der Acker hatte auch einen prominenten Besucher aufzubieten. Johann Wolfgang von Goethe spazierte auf seiner zweiten Harzreise hier herauf und wird mit einer Gedenktafel an den Klippen geehrt.

Nach der köstlichen Mahlzeit machte ich mich auf den Rückweg in Richtung Braunlage. Ich fuhr die Ackerstraße in nordöstlicher Richtung, immer die steilen Straßen von St. Andreasberg vor Augen. Die Ackerstraße war glatt und leicht zu fahren. Mir begegneten nur vereinzelt Wanderer. Es wunderte mich, denn das Wetter lud geradezu zum Aufenthalt im Freien ein. Ein Auto sah ich überhaupt nicht. Der Weg war für den öffentlichen Kraftverkehr gesperrt. Kurz bevor die Straße nach Norden zur Stieglitzecke abschwenkte, verließ ich sie und rollte einen losen Schotterweg ins Tal der Sieber hinab. Unten war es wildromantisch und menschenleer. Früher bestand eine Straßenverbindung von Sieber nach St. Andreasberg. Der Weg wurde jedoch vor etlichen Jahren für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Es verirrten sich auch kaum Wanderer hierher. Nach einigem Suchen fand ich die alte Asphaltstraße, die nach St. Andreasberg hinauf führte. Ich folgte dem rissigen Teerband, aus dessen Ritzen wild das Gras wucherte. Es ging sehr steil bergauf. Ich musste tüchtig treten, um in Fahrt zu bleiben. Nach Überqueren eines kleinen Kammes traf ich auf die Straße, die vom Odertal herauf kam. Jetzt traf ich auch wieder auf Autos. Ich hatte vergessen, dass St. Andreasberg aus der Ober- und der Unterstadt bestand. Und genau in letzterer kam ich an. Ich musste, um wieder zurück nach Braunlage zu kommen, zunächst in die Oberstadt hinauf. Es gab zwei Verbindungsstraßen, die beide eine Steigung von neunzehn Prozent aufwiesen! Ich kam gehörig ins Schwitzen. Es sollten die steilsten Straßen im gesamten Harz sein. Aber ich schaffte es und rollte anschließend entspannt durch die Oberstadt. Ich hielt mich nicht auf. Ich wollte ohnehin in den nächsten Tagen nach St. Andreasberg wandern und mir die Stadt ansehen. Ich fuhr die leicht ansteigende Clausthaler Straße entlang und erreichte eine sonnige Wiese, die den Namen „Auf der Kuppe“ trug. Von hier aus hatte ich einen wunderbaren Blick zurück auf das Bergstädtchen. Nach einer viertelstündigen Zigarettenpause machte ich mich endgültig auf den Rückweg. Ich passierte das Haus Sonnenberg, fuhr den Rehberger Graben entlang und nahm wieder die Bundesstraße vier unter die Räder. Als ich in der Wohnung ankam, war ich regelrecht erschöpft. Ich machte mir Essen, schrieb das Tagebuch und fiel anschließend sofort ins Bett. Ich las nicht einmal das neu gekaufte Buch an.

 

VII. Zu Fuß nach St. Andreasberg

Heute wollte ich nicht mit dem Rad fahren, ich wollte wieder wandern. St. Andreasberg hatte mich neugierig gemacht. Ich schmierte mir wieder etliche Stullen, packte die üblichen Eier und Tomaten ein, verstaute die Thermoskanne mit dem Tee und machte mich auf den Weg. Vor der Wandertour hatte ich noch etwas zu erledigen. Ich stiefelte die Bismarckstraße hinab und betrat den Friseurladen. „Ah! Da ist ja unser Helge Schneider! Wie soll es denn werden?“ rief die Friseuse. Helge antwortete „kurz und mit wenig Worten.“ Ich hatte die junge Frau ein wenig gekränkt, glaubte ich. Angenehm wortkarg verpasste sie mir einen Kurzhaarschnitt, mit dem ich durchaus zufrieden war. Jetzt passte mir mein Strohhut auch wieder viel besser. Ich erklomm wieder die Bismarckstraße, stieg die Herzog-Johann-Albrecht-Straße hinan, ließ die große Skiwiese links liegen und war sofort im Wald. Ich wanderte die alte Harzburger Straße entlang, überquerte die B 4 auf einer Fußgängerbrücke und folgte den Schildern Richtung Silberteich. Auch heute konnte ich meine detaillierte Wanderkarte im Rucksack lassen. Die Wegweiser für Wanderer im Harz sind einfach vorbildlich. Ein leicht abschüssiger Weg, mit vielen Wurzeln durchsetzt, leitete mich an den Silberteich. Das stille Gewässer war von dichtem Wald umgeben. Der Weg am Ostufer des Teiches wand sich zunächst noch hoch über der Oberfläche dahin, ehe er sich steil zum Südufer senkte. Die Luft war klar, es wehte kein Wind. Die Wasserfläche war unbewegt. Kein Lüftchen kräuselte den Spiegel. Die am Ufer stehenden Bäume zeichneten sich glasklar und unbewegt auf der Oberfläche wieder. Nur wenige Vögel erfüllten die Luft mit ihrem Gesang. Ansonsten war es an diesem verborgenen Ort erstaunlich still. Ich hatte große Lust, mich hier hinzulegen und für eine lange Zeit die Stille zu genießen. Von der gar nicht so weit entfernten Bundesstraße hörte ich nicht einen Laut. Ich wusste allerdings nicht, wie lange ich nach St. Andreasberg brauchen würde und brach bereits nach einer halben Stunde wieder auf. Ich stieg einen steilen Hang empor, der Weg vollflächig mit dichtem Waldgras bedeckt, das von Tau noch klitschnass war. Innerhalb kürzester Zeit waren meine Schuhe dunkel von der Feuchtigkeit. Es machte nichts. Es waren knöchelhohe Wanderstiefel aus Gore-Tex, die für diese Beanspruchung ausgelegt waren. Ich wusste, dass der Aufstieg nicht lange dauern konnte. Ich musste schließlich zunächst ins Odertal hinab, ehe ich nach St. Andreasberg hinauf kraxeln konnte. Ich durchwanderte ein Gebiet mit sehr vielen abgestorbenen Bäumen, die mich an das Gebiet am Brockenfeld erinnerten. Auch dort reckten sich kahle Äste in die Luft, das es fast geisterhaft aussah. Mich erstaunte der viele Müll, der auf dem Weg lag. Umhüllungen von Tempotaschentüchern, Getränkeverpackungen, Zigarettenschachteln, leere Kondompäckchen. Wenn die Menschen schon im Wald vögeln wollen, sollen sie doch die leeren Packungen wieder mitnehmen. Zuhause lassen sie das Zeug doch auch nicht zwischen den Laken liegen.
Ich war froh, als ich dieses gespenstische Gebiet hinter mir gelassen hatte und den schönen Weg erreichte, der hinunter zum Rinderstall führte. Wieder genoss ich diese fantastische Aussicht Richtung Bad Lauterberg. Gemächlich schlenderte ich die Serpentinen entlang und freute mich über das wunderbare Wetter. Meine nächste Pause (nur heißer Tee und Zigarette) machte ich in Gesellschaft einer Eule, eines Auerhahns und eines Steinadlers. Irgendein handwerklich begabter Mensch schuf diese Figuren an einem Rastplatz aus den Stümpfen gefällter Bäume.
Kurz vor Erreichen des alten Bahndamms der Odertaler Eisenbahn sah ich ein Schild „Rinderstall 500 Meter – schwerer Weg“. Na, den wollte ich doch ausprobieren! Er war nicht wirklich schwer. Ich stieg nur einige steile Stufen hinab. Sogar ein Geländer war zur Sicherheit vorhanden. Am Rinderstall hielt ich mich nicht auf, sondern wanderte entlang der Oder das Tal aufwärts. Das Lokal reizte mich heute nicht, es war von vielen Kindern bevölkert, und auf der Speisekarte standen die gängigen Fast-Food-Gerichte wie Curry-, Bock- und Bratwurst, Schnitzel, Frikadelle.
Die Szenerie der umgestürzten Bäume hatte ich ja bereits beschrieben. An der Stelle, an der der Weg über eine altertümliche Steinbrücke die Oder überquerte, bog ich ab und stieg einen sehr steilen Weg hinauf. Eigentlich war es nicht als Weg zu bezeichnen, es war fast wie die Schneise einer herunter gekommenen Mure. Auch im weiteren Verlauf hatte ich den Eindruck, auf den Spuren einer Naturkatastrophe zu wandeln. Ich ging zwar jetzt auf einem befestigten Weg, mich begleitete jedoch eine Spur der Verwüstung. Umgestürzte Bäume, gewaltige Felsbrocken und getrockneter Schlamm waren meine Wegbegleiter. Auch der befestigte Pfad war noch extrem steil. Ich war mir inzwischen sicher, dass hier ein Bergsturz statt gefunden hatte. Ich kam beim Steigen in erheblichen Schweiß. Nach einer guten Dreiviertelstunde erreichte ich einen geschotterten Fahrweg. Das Gehen fiel mir dann erheblich leichter, war die Oberfläche doch glatt und gut befestigt. War ich bisher allein auf den Wegen unterwegs, traf ich hier einige Wanderer, die ebenfalls nach St. Andreasberg wollten. Sie legten allerdings ein Tempo vor, das ich nicht mit einhalten wollte. Ich hatte eine entspannte Wanderung im Sinn, keinen Gewaltmarsch. Die Leute wollten sich zwar gern mit mir unterhalten, waren aber nicht bereit, ihr Tempo dem meinen anzupassen. Mir war es nur recht – ich genoss wieder einmal das Alleinsein. Leider war ich von so dichtem Wald umgeben, dass ich überhaupt keine Chance hatte, in das Odertal zurück zu blicken. Ich freute mich schon auf des Ende dieses Fahrwegs. Ich wusste, dass er auf einem Kamm oberhalb St. Andreasbergs endete. Ich erreichte diese Höhe und war sofort mit einer der Bergwerksdenkmäler konfrontiert, die es so häufig im Harz gibt. Hier war der Einstiegsschacht einer ehemaligen Silbermine. Gerade St. Andreasberg war eines der Zentren des Harzer Bergbaus. Schließlich waren insgesamt über dreihundert Gruben in diesem Gebiet in Betrieb gewesen.

Von dieser Höhe hatte ich einen schönen Blick auf die Oberstadt. Die Unterstadt blieb mir noch verborgen. Beherrschendes Merkmal der Oberstadt war der Glockenturm der Martinikirche. Diese Kirche fiel im achtzehnten Jahrhundert einem Brand zum Opfer. Die Kirche wurde in der Stadt in anderer Form wieder aufgebaut, der Glockenturm allerdings außerhalb der Stadt auf einem Hügel mit dem bezeichnenden Namen „Glockenberg“. Dieser Glockenturm ist jetzt das Wahrzeichen der Stadt und von weit her zu sehen. Ich näherte mich parallel der Braunlager Straße der Stadt. Noch vor dem Ortseingang verschandelte der klotzige Bau der städtischen Schwimmhalle die Landschaft. Der einzige Vorteil dieses Schandflecks war, dass er eine sonnenbeschienene Terrasse aufwies, auf der ich einen köstlichen Kaffee zu mir nahm. Ich hatte keine Lust, weiter der Braunlager Straße stadteinwärts zu folgen und schlug den Weg durch das Tal der Sperrlutter ein, die unmittelbar am Stadtrand vorbei fließt. Ich stieg einen gewundenen Pfad hinab und hatte dabei stets die imposante Sommerrodelbahn auf dem Matthias-Schmidt-Berg gegenüber im Blick. Der Weg wurde offensichtlich recht wenig genutzt. Der Steig war von Gestrüpp fast zugewuchert. Auch unten, direkt am Bach, war es ein recht mühsames Fortkommen. Noch schlimmer war der Aufstieg zur Stadt hinauf. Ich wähnte mich teilweise auf einem Ziegenpfad.

Ich erreichte St. Andreasberg auf der Rückseite der Schützenstr. Hier war von Tourismus nichts zu spüren. Der Glückauf-Weg lag völlig verlassen da. Gastronomische Betriebe – Fehlanzeige. Dennoch ging ich die gesamte Straße hinunter. Vielleicht ein Drittel der Wohnungen und Häuser stand leer. Dieser Trend war im gesamten Westharz zu vermelden. Es ging bergab. Als ich schließlich die Hauptstraße der Oberstadt erreichte, wunderte es mich nicht, auch hier so manchen gastronomischen Betrieb verlassen zu sehen. Einige Gatstätten hatten sogar auf dem Gehsteig Schilder aufgestellt: "Das Lokal ist GEÖFFNET!" Als ich Mitte der Neunzehnhundertsechzigerjahre auf einer Klassenreise im Haus Sonnenberg wohnte, besuchten wir auch mehrfach St. Andreasberg. Ich konnte mich deutlich an die gut besuchten, dicht an dicht liegenden Cafés und Restaurants erinnern. Jetzt hing hier der Hund tot über dem Zaun. Es war deprimierend. Ich ging die steile Straße zur Unterstadt hinunter. Sie hatte den bezeichnenden Namen „Bergmannstrost“. Ich wollte die Grube Samson besuchen. Mit über achthundert Metern Teufe galt sie zu Betriebszeiten als eine der tiefsten Bergwerke der Welt. 1951 wurde sie in ein einzigartiges Museum umgewandelt. Unter anderem steht hier die letzte betriebsfähige Fahrkunst der Welt. Und sie wird nicht nur zu Demonstrationszwecken genutzt. In den Stollen der Grube Samson befinden sich zwei Kraftwerke, die das Wasser des Oderteiches über den Rehberger Graben in Strom für die Stadt umwandeln. Der Energiebedarf von St. Andreasberg wird zu über neunzig Prozent durch Wasserkraft gedeckt. Zur Wartung der Anlagen fahren die Angestellten mit der Fahrkunst in die Tiefe. Früher wurde die Fahrkunst ebenfalls durch Wasserkraft angetrieben, bis schließlich ein Elektromotor die Arbeit übernahm. Dieses einzigartige Ingenieursprodukt wurde sogar in das Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen, wie übrigens die gesamte Anlage der Grube Samson. Die Drahtseilfahrkunst in St. Andreasberg besteht aus zwei gegenläufigen Seilsystemen, an denen im Abstand von ungefähr 2,60 Metern Plattformen angebracht sind, die genau um diesen Weg auf und abfahren. Während des kurzen Stillstand am Ende der Bewegung wechselt der Bergmann die Plattform und fährt auf dem benachbarten System weiter ein oder aus. Die Plattformen wurden bewusst klein gehalten, ungefähr so groß wie zwei nebeneinander liegende Schuhsohlen. Dadurch wurden die Fahrgäste zu höchster Konzentration gezwungen, weil Fahrlässigkeit mit unangenehmen Konsequenzen wie ein Absturz geahndet wurde. In den Fahrkünsten kam es zu erstaunlich wenig Unfällen, zumeist verursacht durch eine technische Störung, nicht durch menschliches Versagen.

Das Bergwerksmuseum Grube Samson weist noch eine weitere Besonderheit auf. Im Gaipel, dem hölzernen Betriebsgebäude über dem Schacht, befindet sich das Harzer-Roller-Museum. Es wird nicht die Geschichte des entsetzlich stinkenden Käses aufgezeigt, sondern die der überaus erfolgreichen Kanarienvogelzucht im Oberharz zu Mitte des 19. Jahrhunderts. Dass die Vögel in den Bergwerksschächten gehalten wurden, damit an ihnen gefährliche Luftveränderungen rechtzeitig bemerkt werden konnten, gehört ins Reich der Legenden. Dafür waren sie viel zu wertvoll. Es wurden jedoch tatsächlich gefangene Wildvögel dafür verwendet. Die Harzer Roller waren in ganz Europa sehr begehrt, und die Bergleute erwirtschafteten sich mit der Zucht und dem Verkauf der Vögel einen nicht unbeträchtlichen Nebenverdienst. Im Gegensatz zum übel riechenden Sauermilchprodukt gleichen Namens hat der Harzer Roller einen ausgesprochen angenehmen und melodischen Charakter.

Ich stiefelte wieder zur Oberstadt hinauf, setzte mich an die Bushaltestelle beim ehemaligen Bahnhof der Zahnradbahn und verzehrte meine letzten Stullen. Ich hatte keine Lust mehr auf diese öde Stadt. Bis auf das Aroma des Kaffees und die Grube Samson hatte sie mir nichts geboten. Eigentlich hatte ich Hunger auf eine regelrecht ausufernde Mahlzeit. Jedoch gefielen mir die Restaurants in St. Andreasberg nicht. Ich wollte es in Braunlage nachholen. Ich hatte gerade den letzten Bissen meiner Brote herunter geschluckt, da kam schon der Bus. Wir rollten die kurvenreiche Straße in das Odertal hinab und machten uns auf den Aufstieg nach Braunlage. Ich stieg an der Haltestelle direkt bei „Puppe am Brunnen“ aus. Diese Gaststätte im Herzen von Braunlage war auch gleichzeitig eine Verkaufsstelle für Harzer Gaumenspezialitäten und manchen Souvenirramsch. Ich setzte mich auf eine Bank im Freien und bestellte mir einen Harzer Brotzeitteller. Was hatte ich mir da angetan? Ich konnte von Glück sagen, dass ich den Tisch für mich allein hatte. Ein großer Brotkorb, gefüllt mit etlichen Scheiben frisch gebackenen Hexenbrotes, in Eiswasser schwimmende Butterstücke, einige in Scheiben geschnittene Gewürzgurken, ein paar Tomaten, Salz und Pfeffer, süßer und scharfer Senf, Remoulade und Ketchup. Ach ja, eine Aufschnittplatte gab es auch: Käsespezialitäten (den Harzer Roller ließ ich liegen), Streichmettwurst, Harzer Rauchwurst, Wacholderspeck (Wacholderspeck!), Salami und noch einige andere Wurstsorten. Das Unmögliche geschah: bis auf den Harzer Roller aß ich alles auf. Es schmeckte einfach umwerfend. Ich erhielt ein großes Lob von der fülligen Kellnerin. Kaum jemand schaffte diese Brotzeitplatte. Das Hexenbrot wird mehrmals täglich gebacken und ist ein wahrer Verkaufsschlager. Auch für mich war es während meiner Zeit in Braunlage das meistgekaufte Brot.

Anschließend schleppte ich mich nicht die Bismarckstraße hinauf, sondern machte den Umweg über die S-förmige Herzog-Johann-Albrecht-Straße. Im Briefkasten lag endlich mein schöner Füller. Auch heute las ich noch keinen Stieg Larsson. Ich machte mir einen Tee, schrieb das Tagebuch und fiel todmüde ins Bett.

 

VIII. Wo die Hexen tanzen

Heute wollte ich nicht die Hexen auf dem Blocksberg oder dem Brocken besuchen. Nein, ich wollte tief in den Ostharz, bis an den Rand, nach Thale. Nach der routinemäßigen Frühstücksorgie, dem Zusammenstellen der Wegzehrung und einer letzten Zigarette auf dem am Morgen noch sonnenbeschienenen Balkon fuhr ich los, kaufte noch eine Zeitung und nahm den Weg zur weißen Brücke unter die Räder. Und wieder hatte ich Glück: vom wolkenlosen Himmel lachte eine strahlende Sonne, und ein leichter Rückenwind trieb mich an. Ich erreichte die schöne Stelle am Ende des Weges mit der Aussicht auf Brocken und Wurmberg. Eine Zigarettenpause war dort Pflicht. Ich radelte die wenig befahrene Bundesstraße Richtung Sorge entlang, ließ den Ort aber heute rechts liegen und setzte die Fahrt weiter Richtung Tanne fort. Es waren nur zwei Kilometer bis dort hin. Als ich die abschüssige Straße am Ortseingang hinunter rollte, entdeckte ich auf der rechten Seite einen großen Parkplatz mit einem angeschlossenen Imbiss für Fernfahrer, der bereits geöffnet hatte. Hier war ich richtig! Mit Schwung bremste ich vor der Eingangstür. Der Wirt kam heraus, schaute mein Rad an und fragte „Na, willste deinen Anhänger wieder abholen?“ Auf dem Parkplatz stand ein großer, dreiachsiger Trailer ohne Zugmaschine. „Nee, morgen, heute will ich nur etwas essen!“ Ich bestellte zwei gebrühte Thüringer Knacker mit Kartoffelsalat. Donnerschlag, war das eine Portion! Und der Geschmack von echten Thüringer Knackern ist einfach sensationell.

Bei der Einfahrt in das Dorf sah ich auf der linken Seite ein idyllisches Eiscafé. Das musste ich mir merken! Tanne war bereits seit dem frühen dreizehnten Jahrhundert als Hüttenstandort bekannt. Eisen und Kupfer wurden hier verarbeitet. Im Gegensatz zu meisten Bergbaustädten im Harz entwickelte sich der Tourismus in Tanne bereits im 19. Jahrhundert. Als Mitte der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts der Hüttenbetrieb eingestellt wurde, hatte der Ort glücklicherweise ein zweites Standbein. Nach einem kurzen Knick nach der Wende – die FDGB-Urlauber fielen weg – stiegen die Besucherzahlen wieder stetig an. Diese positive Entwicklung war auch an den Häusern zu merken. Es war erfreulich zu sehen, dass hier nicht der allgemeine Verfall zu beobachten war, den ich mit Erschrecken in den anderen Städten des Harzes festgestellt hatte. Im Gegenteil: viele der Häuser waren renoviert, schmückten sich mit frisch gestrichenen Fenstern und neu verputzen Fassaden. Ich hielt mich jedoch in Tanne nicht auf, hatte ich doch noch heute einen weiten Weg vor mir. Ich folgte nicht weiter der Bundesstraße nach Trautenstein und Hasselfelde, sondern bog vor der Brücke über die Warme Bode nach links Richtung Königshütte ab. Nach wenigen hundert Metern sah ich ein Hinweisschild: „Radweg nach Königshütte“. Das konnte doch nur die ehemalige Bahnstrecke sein, die einmal von Walkenried über Braunlage nach Tanne und weiter nach Königshütte führte. Dort bestand Anschluss an die Rübelandbahn nach Blankenstein.

Ich kämpfte mich einen steilen Schotterweg hinauf. Das war natürlich noch nicht die einstige Eisenbahntrasse. Erst nach einiger Zeit erreichte den glatten Radweg. Der alte Schotter war entfernt worden, nur an den Rändern der Strecke sah ich noch die großen, schwarzen Brocken. Ansonsten bestand der Belag aus sehr feinsandigem, fest gestampften, schwarzen Material, auf dem es sich wunderbar fahren ließ. Weil ich der abwärts fließenden Bode folgte und eben einer Eisenbahntrasse, führte der Weg zwar nicht steil, aber ständig bergab. Lediglich an den Straßeneinmündungen, über die früher Brücken führten, die längst abgerissen waren, musste ich kurze Gefälle und Steilstrecken bewältigen. Es war eine wunderbare Fahrt, vorbei an den weiten Wiesenflächen und dunklen Wäldern des Bodetales. Im Gegensatz zu den meisten Flüssen war der Lauf der Bode nicht reguliert, sondern durfte noch ihrem mäandernden Flussbett folgen. Die Bode war hier zwar nur fünf bis sechs Meter breit, das flache Tal des Urstroms erstreckte sich jedoch bis zu zweihundert Metern von einem Berghang zum anderen. Und die Wiesen waren voller Sommerblumen. Ich fühlte mich fast in die geliebten Alpen versetzt. Weil die Trasse nicht den Steigungen und Gefällen der parallelen Straße folgte, sondern sich allmählich dem Ort Königshütte zuneigte, konnte ich ständig das Tal überblicken und war einfach nur begeistert. Hier herrschte nicht die Monokultur des Westharzes vor, sondern Mischwälder, Bergwiesen und flache Weidegründe im Tal bestimmten das Bild. Die Bergflanken waren von vielen Seitentälern weit eingekerbt. Auf meiner Seite musste ich nicht den Höhenlinien folgen. Hohe Bahndämme überbrückten die Einschnitte. So konnte ich in weiten Bögen das Tal hinunter fahren. Die Autostraße unter mir verlief weitaus kurvenreicher. Aus einem der Seitentäler waberte weißgrauer Dampf herunter. Die gegenüber liegenden Bäume waren nur noch schemenhaft zu sehen. Es bot sich mir ein Bild wie auf einer verwaschenen, japanischen Tuschezeichnung mit verwischten Farben. War die Ursache tatsächlich noch ein Köhlermeiler? Ich glaubte mich zu erinnern, irgendwo gelesen zu haben, dass es tatsächlich noch einige wenige Meiler im Harz gab, die selbstverständlich nicht mehr zur kommerziellen Herstellung von Holzkohle genutzt wurden, sondern aus Museums- und Demonstrationszwecken betrieben wurden.

Kurz vor Königshütte verließ der Radweg die alte Bahntrasse, und ich musste wieder auf der Straße fahren. Es machte mir nicht viel aus, war der Verkehr doch äußerst gering. Auf der rechten Seite, am Ufer der Warmen Bode, erstreckte sich eine langgezogene, gepflegte Parkanlage entlang. Bänke und Tische luden zum Verweilen ein. Ich wollte jedoch keine Pause machen – ich wollte weiter radeln. Kurz vor dem Zusammenfluss der beiden Bodequellflüsse sah ich rechts oben die Ruine der Königsburg. Ruine ist eigentlich zu hoch gegriffen. Ich erkannte nur schemenhaft den Rest des ehemaligen Bergfrieds. Die Anfang des 14. Jahrhunderts erbaute Anlage wurde in den Annalen erst wieder dreihundert Jahre später wieder erwähnt. Zu dem Zeitpunkt war die Burg bereits zur Ruine zerfallen. Ich hielt mich nicht auf, sondern fuhr an der Vereinigung der beiden Bodearme vorbei, radelte nicht nach Königshütte hinein, sondern bog vorher nach rechts zum Ortsteil Königshof ab. Der Ort Königshütte entstand 1936 aus dem Zusammenschluss der Ortsteile Rothehütte und Königshof. Während im ehemaligen Rothehütte die Hüttenwerke standen, wohnten in Königshof die besser gestellten Beschäftigten der Verarbeitungsbetriebe. Davon zeugten die teilweise recht aufwändig gebauten Wohnhäuser. Nach einer Armeleutesiedlung sah das nicht aus.

Ich folgte weiter dem Fluss, der jetzt den profanen Namen Bode trug. Nach kurzer Strecke erreichte ich auf einer Betonstraße die Überleitungssperre Königshütte. Dieser sehr abgelegene Stausee wurde nur von äußerst wenigen Touristen aufgesucht. Und die Betonstraße, die ich erwähnte, bestand tatsächlich aus großen Betonplatten, deren Stoßfugen dick mit Teer ausgegossen waren. Entsprechend holprig gestaltete sich das Überfahren dieser Fugen. Schlimmer waren jedoch die an den Nahtstellen vorhandenen Abbruchkanten, bei denen die Betonsohle teilweise mehrere Zentimeter versetzte. Dort musste ich besonders vorsichtig steuern. Die Oberflächenbeschaffenheit minderte jedoch in keiner Weise die unbändige Freude am Fahren. Dafür war die Landschaft einfach zu schön. Grüne Laubwälder säumten die Ufer, die Straße wand sich in vielen Kurven durch die hügelige Landschaft, und die Luft war erfüllt von Vogelstimmen. Mir begegnete nicht ein einziges Auto. Einzelne Spaziergänger sah ich lediglich auf dem Wanderweg am anderen Ufer. Meine Seite war menschenleer. Auf einer idyllisch positionierten Bank auf einer kleinen Landzunge machte ich eine Pause, trank einen Becher Tee und rauchte zwei Zigaretten. Ich blickte den Stausee zurück. Von Königshütte und Königshof war nichts mehr zu sehen. Ich entdeckte nicht ein einziges Gebäude in der Umgebung. Es herrschte eine wunderbare Stille. Im seichten Wasser standen zwei Angler in hüfthohen Stiefeln, die geduldig auf Beute warteten. Auch von ihnen hörte ich keinen Laut. Wie es eben bei richtigen Anglern so üblich ist. Während der halben Stunde, die ich dort saß, fingen sie nicht einen einzigen Fisch.

Ich fuhr weiter. Nach einigen Kilometern sah ich einige wenige Wohnhäuser mit schmucken Vorgärten an der Straße liegen. Ich hatte die kleine Siedlung am Staudamm erreicht. Das Wasser stand an der bogenförmigen Mauer fast bis zum Rand. Unterhalb des Betonwalls wirbelten drei Bulldozer riesige Staubwolken auf. Ich hatte keine Ahnung, was die dort eigentlich planierten. Etwa einhundert Meter weiter flussabwärts sprudelte das Wasser der jetzt vereinten Bode mit viel Gischt aus einem Überlaufstollen, ehe es weiter das Tal abwärts floss. Neben dem Fluss führte ein breiter Fahrweg entlang. Ich überlegte kurz, diese Route zu nehmen, entschied mich dann aber doch dagegen, weil ich nicht wusste, wie ich auf dieser Strecke nach Rübeland kommen sollte. Meine ansonsten sehr detaillierte Karte konnte darüber auch keinen Aufschluss geben. Ich nahm an einer kleinen Sitzgruppe am Rand der Staumauer Platz und schaute den See entlang zurück zum Brocken und Wurmberg. In der glasklaren Luft waren die beiden nebeneinander liegenden Gipfel deutlich zu sehen. Im Zusammenwirken mit den grünen Wäldern, dem tiefblauen See und dem azurfarbenen Himmel ergab es ein Bild, das ich mir nicht schöner vorstellen konnte. Ich brauche keine Südsee, keinen mit Palmen bestandenen Strand, um mich an der Landschaft begeistern zu können. Eine derartig harmonische Mittelgebirgslandschaft reicht mir vollkommen. Die Natur muss für mich nicht spektakulär sein, sie muss mir nur gefallen.

Nach der genussreichen Zigarettenpause machte ich mich auf den weiteren Weg. Ich erklomm einen steilen Waldweg, der mich durch dicht stehende Bäume führte. Auch hier freute ich mich wieder am alten Mischwald. Aber steil war der Weg, verdammt steil! In engen Windungen kämpfte ich mich bergauf. An einer Engstelle hatte ich erhebliche Mühe, an einem Baumfällfahrzeug vorbei zu kommen, das mir den Weg versperrte. Dieses Ungetüm war wohl zu fast allen Tätigkeiten in der Lage, die im Rahmen der Waldarbeit zu erledigen waren. Was waren dort für Antriebswellen und Maschinen zu sehen! Das Gerät war offensichtlich in der Lage, Saaten auszubringen, Setzlinge einzupflanzen, Bewässerungsgräben auszuheben, Kronen zu beschneiden, Stämme zu fällen, die Stämme zu zerteilen und zu entrinden und zur Not daraus auch noch Möbel zu bauen. Zwei Waldarbeiter saßen auf der Bank im Führerhaus und waren offensichtlich stolz auf ihr technisches Wunderwerk. Der Kaffee, an dem sie nippten,war wahrscheinlich auch von dieser Maschine gebrüht worden. Mit großzügiger Lässigkeit winkten sie mich an ihrem Monstrum vorbei. Dass sie schon einigen Arbeitseinsatz hinter sich hatten, sah ich an den zerfurchten Spuren im Waldboden. Auch einige flach gelegte Stämme zeugten davon. Ich war angenehm überrascht, dass hier kein Kahlschlag erfolgte, sondern offensichtlich gezielt ausgesuchte Exemplare zur Verwertung geschlagen wurden. Erst als ich wesentlich weiter oben eine ausgeprägte Kahlfläche erreichte, wurde mir wieder bewusst, dass nicht nur der Mensch, sondern auch die Naturgewalten dem Wald erhebliche Schäden zufügen konnten. Es war deutlich zu sehen, dass hier der Wind, vielmehr der Sturm wahre Vernichtungsschneisen geschlagen hatte. Ein Trümmerfeld von übereinander liegenden toten Baumstämme lag links meines Weges. Hier, an der Weggabelung musste ich nach rechts zum Susenberg abbiegen, um endlich nach Rübeland gelangen zu können. Auch hier lag die Ruine einer alten Burg. Ich wusste jedoch, dass lediglich ein Teil einer Treppe davon zu sehen war. Sollte ich mir das ansehen? Nein. Nach noch einigen hundert Metern mäßigen Anstiegs durfte ich endlich wieder abwärts rollen. Der Schotterweg wandelte sich zu einer befestigten Fahrstraße, planiert mit kleinen, s-förmigen Pflastersteinen, die erstaunlich gut zu befahren waren. Völlig überraschend fand ich mich in einer Siedlung wieder, bestehend aus einstöckigen Reihenhäusern. Es war Susenburg, der Wohnort der Arbeiter der um Rübeland gelegenen Kalkabbaubetriebe, das Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts angelegt wurde. Seit der Wende waren ausreichend Jahre vergangen, um die ehemals eintönig grau verputzten Fassaden wieder zu Leben zu erwecken. Diese Siedlung machte auf mich den Eindruck eines wahren Schmuckstücks. Allerdings eines toten Kleinods. Ich sah nicht einen einzigen Menschen auf der Straße. Geschäfte, Kneipen, Restaurants, Bars, Cafés? Fehlanzeige. Ein klein wenig war ich froh, diesen Geisterort wieder zu verlassen. Bei der anschließenden Abfahrt hatte ich einen guten Blick auf die riesigen Abraumhalden, die Rübeland umgaben und Abfallprodukte des intensiven Kalkabbaus in dieser Gegend waren.

Auf dem kurzen, asphaltierten Weg nach Rübeland hinein kam ich an einer Wegkreuzung vorbei. Ein Hinweisschild mit dem Text „Überleitungssperre Königshütte“ zeigte einen steilen Schotterweg bergauf. Ich hätte also doch den Fahrweg der Staumauer nehmen können. Es ging zwar arg heftig hinauf, aber ich wäre ja hier herunter gekommen. Es hätte also nicht sehr schlimm sein können. Bevor ich in Rübeland eine weitere Rast machen konnte, musste ich noch einmal die Bode auf einem schmalen Steig überqueren. Der Lichtraum zwischen den seitlichen Geländern war so eng, dass ich das Rad nicht schieben konnte, obwohl ich es gern getan hätte. Ich musste im Sattel sitzen und mich an den Handläufen des Geländers vorwärts hangeln. Der anschließende Tunnel unter dem Damm der Rübelandbahn war kaum breiter. Wenigstens konnte ich dort das Rad schieben. Zu Fahren traute ich mich nicht: es war dort drinnen dunkel wie im Arsch einer Kuh. Die Helligkeit im Freien blendete mich ungemein. Ich war mitten in Rübeland. Nach Überqueren einiger Industriegleise der Rübelandbahn rollte ich ein kurzes Stück die Straße hinunter und erreichte das Zentrum des Ortes. Der verlassene Bahnhof lag still da. Der Personenverkehr auf dieser Strecke nach Elbingerode war leider eingestellt. Auf der Trasse verkehrten nur noch die Güterzüge zum und vom großen Kalkwerk nordwestlich der Stadt. Es gibt zwar Bestrebungen, den Personenverkehr wieder aufzunehmen, aber ob daraus etwas wird, steht in den Sternen. Einige Leute schienen jedenfalls daran zu glauben: das Bahnhofsgebäude wurde offensichtlich gepflegt und in Schuss gehalten.

Rübeland ist berühmt geworden durch seine beiden Kalksteinhöhlen. Die älteste bekannte Höhle Deutschlands ist die Baumannshöhle, die bereits im 16. Jahrhundert entdeckt wurde. Entstanden ist sie selbstverständlich wesentlich früher, nämlich im Devon, vor ungefähr vierhundert Millionen Jahren. Die Höhle wurde schon kurz nach der Entdeckung für Besucher geöffnet, einer der prominentesten Gäste war Johann Wolfgang von Goethe. Nach ihm ist sogar eine Kaverne benannt, in der in unregelmäßigen Abständen Konzerte und Theateraufführungen stattfinden. Die andere Höhle ist die Hermannshöhle. Sie wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts bei Straßenbauarbeiten entdeckt. Die Besonderheit dieser Stätte sind die blinden Grottenolme, die aus der Adelsberger Grotte (Postojna Jama) in Istrien hier her gebracht wurden. Der Fortbestand ist allerdings nicht gesichert: vor kurzem wurde festgestellt, dass ausschließlich männliche Exemplare ausgesetzt worden waren. Ob weitere Grottenolme aus Slowenien importiert werden können, ist zur Zeit ungewiss. Die Verwalter der Grotte in Postojna hüten ihren Bestand mit Argusaugen; schließlich ist der Bestand dort der einzige weltweit – bis auf den der Hermannshöhle natürlich.

Ich wollte heute jedoch nicht die Höhlen besuchen, mich verlangte es nach einer Stärkung. Ich überquerte wieder die Bode, um dem Lärm der Bundesstraße zu entgehen. Am Eingang der Hermannshöhle lag ein kleines Schnellrestaurant mit Garten. Thüringer Knacker mit Kartoffelsalat und ein Becher heißer Kaffee. Schön. Ich benötigte auch den Kaloriennachschub, denn ich wollte jetzt zur Rappbodetalsperre. Dafür musste ich tüchtig hinauf klettern. Die steile Straße bergauf hatte ich bereits im Blick. Nach etwa fünfhundert Metern verschwand sie in einer Rechtskurve. Ich ließ mich jedoch nicht entmutigen und machte mich auf den Weg. Es wunderte mich nicht, dass ich den kleinsten Gang benutzen musste. In Schweiß kam ich jedoch noch nicht. Erst, als ich die erwähnte Kurve erreichte, wurde es anstrengend. In Serpentinen kämpfte ich mich hinauf. Ich ließ die letzten Häuser von Rübeland hinter mir und nahm die ungefähr einen Kilometer lange Steilstrecke in Angriff. Ich hasse lange gerade Steigungen. Sie sind anstrengend und meistens langweilig. Wegen der geringen Geschwindigkeit kann ich dann nur in Schlangenlinien fahren und muss sehr auf die Straße achten. Blicke auf die Landschaft sind nur sporadisch möglich. Serpentinen sind einfacher und kurzweiliger. Rechter Hand erstreckte sich ein langgezogenes Kalkabbaugebiet mit elektrisch betriebenen Güterbahnen. Auch dafür hatte ich kaum einen Blick. Ich sehnte mich nach dem Ende der Steigung.

Endlich hatte ich die Höhe erreicht. Die Straße machte eine Rechtskurve und führte nun fast geradeaus und eben zur Rappbodetalsperre. Nach einem Drittel des Weges passierte ich die Einmündung von „Die Lange“. Dieses ist ein fast schnurgerader Fahrweg, der von Benneckenstein bis nach Rübeland führt. Diesen Weg wollte ich in den nächsten Tagen auch einmal fahren. Ich durchquerte einen Tunnel und fand mich unvermittelt auf der Staumauer der Rappbodetalsperre wieder. Von dort hatte ich einen herrlichen Blick auf die verzweigten Arme der größten Talsperre des Harzes. Der wolkenfreie Himmel sorgte für ein dunkelblau schimmerndes Wasser. Und nach links konnte ich von der höchsten Staumauer Deutschlands weit hinunter zur Talsperre Wendefurth sehen. Das auch als Badesee genutzte Becken war von zahlreichen Besuchern bevölkert. In der Rappbodetalsperre war das Baden nicht erlaubt, weil sie als Trinkwasserreservoir für die östlich des Harzes gelegenen Städte, sogar bis nach Leipzig, dient. Selbstverständlich war auch das Bootsfahren nicht gestattet. An den geschwungenen Ufern war nicht ein Deut von Bebauung zu entdecken. Es lag eine wunderbare Ruhe über dem See. Ich wollte mich jedoch nicht lange aufhalten, denn ich hatte noch einen weiten Weg vor mir. Wenn ich nun glaubte, von der Höhe der Staumauer einfach hinunter rollen zu können, hatte ich mich getäuscht. Ich musste zunächst weiter hinauf. Hinauf zur Kreuzung mit der Bundesstraße 81, die nach Blankenburg führte. Aber dann ging es wirklich hinunter! Bei einem Gefälle von 13 Prozenterreichte ich eine Geschwindigkeit von über siebzig Kilometern in der Stunde. Bei der rasenden Fahrt verpasste ich prompt die Abzweigung in das Bodetal. In Wendefurth, diesem winzigen Nest, rollte ich noch einmal hundert Meter bergauf, ehe ich zum Stehen kam. Vorsichtig fuhr ich zurück, um nicht wieder die schmale Einfahrt auf den Schotterweg am Flussufer zu übersehen.

Ich wendete und bog auf einen Naturweg ein, der mich für die nächste Stunde entlang der Bode leitete. Es war eine wundervolle Route. Die Bode, hier noch ein recht junger Fluss, floss teilweise in ruhigem Stil über flaches Kiesbett, dann aber sprang sie auch munter über große Felsbrocken. Ich radelte durch dichten Laubwald. An manchen Ecken luden gefasste Quellen zum Verweilen ein. Und dann Altenbrak und Treseburg! Diese Orte im tiefen Bodetal waren von außerordentlicher Schönheit. In Altenbrak spielte eine Schar Kinder an einer Furt durch den Fluss, die mit den typischen, gelöcherten Betonplatten befestigt war, die auch ein Charakteristikum der ehemaligen Deutsch/Deutschen Grenze waren. Wurde diese Furt tatsächlich noch genutzt? In Treseburg knickte das Bodetal um neunzig Grad nach Osten ab. In einem engen Talkessel lag dieses Dorf, beeindruckend durch die vielen Gebäude aus der Gründerzeit. Ausgerechnet an der idyllischsten Stelle war ein gebührenpflichtiger Parkplatz eingerichtet. Ich musste natürlich keinen Obolus entrichten. Ich fand einen schönen Platz am Flussufer und betrachtete bei einer Zigarettenpause die Häuser von Treseburg, die teilweise an den Hang geklebt wirkten. Ein wunderbares Bild.

Mein nächstes Ziel war Thale. Ich wusste, dass die Stadt am Rand des Harzes lag, also auf ungefähr zweihundert Metern Höhe. Ich freute mich also auf ein entspanntes Fahren. Auch meine Fahrradkarte zeigte ein Gefälle. Leider war die Information falsch. Die Fahrt ging nur noch bergauf und bergauf. An manchen Stellen waren jetzt verborgene Eingänge von ehemaligen Bergwerksstollen, durch Gebüsch verdeckt und nur zu erkennen, wenn ich eines der typischen Harzer Hinweisschilder entdeckte, die auf einen Bergbaubetrieb hin wiesen. Ich wunderte mich darüber, wie klein die Eingangslöcher waren. Waren die Menschen damals wirklich so klein, oder wurden aus rationellen Gründen die Bergleute dazu gezwungen, nur in gebückter Haltung durch die Stollen zu ihren furchtbar anstrengenden Arbeitsplätzen zu gelangen? Schließlich wurden damals die Gänge noch mit Hammer und Schlegel voran getrieben. Ein Bergmann schaffte immerhin zwanzig bis dreißig Zentimeter am Tag. Das Silber, Kupfer und Blei waren es offensichtlich wert. Interessanter Weise wurden beim Bau des Oberharzer Wasserregal andere Wege beschritten: um die unterirdischen Wasserläufe so schnell wie möglich voran zu treiben, wurde dem weicheren Gestein gefolgt. Deshalb machen die Wasserläufe so manche merkwürdige Kurve. Erst mit dem Einsatz des Sprengpulvers konnte auch in hartem Gestein der Weg etwas schneller gebahnt werden. Als die Steigung endlich ihr Ende erreichte, gabelte sich die Straße. In der einen Richtung ging es nach Thale, in der anderen zur Rosstrappe. Rosstrappe, Rosstrappe, da hatte ich doch schon etwas von gehört. Ein Freund erzählte mir davon. Ich hatte aber keine Ahnung mehr, welche Bewandtnis es damit hatte. Ich wollte es wissen. Ich bog ab und folgte einer abschüssigen Straße zur besagten Rosstrappe. So einfach war es denn doch nicht. Ich musste eine Eintrittsgebühr entrichten. Ich wusste zwar nicht, wofür, aber ich tat es dennoch. Ich bat allerdings die Kartenverkäuferin, sorgfältig auf mein Rad und die darauf geschnallten Sachen zu achten. Sie versprach es mir. Den folgenden Weg hätte ich auch auf keinen Fall mit dem Rad zurück legen können. Zu steinig war der Weg, zu große Brocken waren zu überwinden. Tja, dann war ich an der Rosstrappe, einer hufeisenförmigen, kleinen Mulde im Fels. Es gibt eine Sage um diesen Abdruck: der Riese Bodo verfolgte die Königstochter Brunhilde. Na, was wollte er bloß von ihr? Sie heiraten, sie wollte aber nicht. Sie floh zu Pferd vor ihrem ungeliebten Galan. Plötzlich tat sich vor ihr ein Abgrund auf. Mit einem tollkühnen Sprung erreichte sie die andere Seite. Wo das Pferd auftraf, befindet sich jetzt die besagte Mulde, eben die Rosstrappe. Interessanter Weise ist diese Stelle im Fels tatsächlich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht natürlichen Ursprungs, sondern könnte der Rest eines germanischen Opferbeckens sein. Dieser blöde Abdruck erweckte natürlich nicht mein Interesse, sondern die fantastische Aussicht über das Bodetal und den gegenüber liegenden Hexentanzplatz. Tief unten lag die Teufelsbrücke. Dort sollte der Riese bei der Verfolgung in die Bode gefallen sein, weil er den weiten Sprung über den Abgrund nicht schaffte. Es war einfach ein wunderbarer Platz. Ich riss mich dann doch los, auch heute wollte ich noch wieder nach Braunlage zurück kommen.

Bevor ich mich nach Thale hinunter rollen ließ, musste ich erst einmal den Aufstieg von der Rosstrappe zur Hauptstraße hinter mich bringen. Es ging aber relativ leicht. Leider war die Abfahrt nicht der erhoffte Genuss. Die Oberflächenbeschaffenheit der Straße war einfach nur erbärmlich. Ich konnte höchstens zwanzig Kilometer in der Stunde fahren, mehr war auf Grund der Schlaglöcher und anderer Fehlstellen im Asphalt nicht möglich. Die Hauptaufgabe während der Fahrt bestand für mich im heftigen Zerren an den Bremsen. Ich war sogar froh, endlich wieder ebenes Gelände zu erreichen und wieder normal fahren zu können.

Thale ist nun nicht so groß, dass ich endlos die durch Stadt fahren musste, um das Zentrum zu erreichen. Im Zentrum lag auch der Bahnhof. Ich hatte bereits wieder Hunger. Am Bahnhof gab es ein türkisches Restaurant. Wunderbar. Ich bestellte Adana-Kebab mit Reis und Salat. Ich saß im Garten des Restaurants und freute mich einfach über das gute Essen. Zunächst musste ich erst einmal aus Thale heraus kommen. Wieso können in einer Stadt Straßen denn so steil sein? Sie waren es. Und dann auch noch mit Kopfsteinen gepflastert. Es war aber überhaupt nichts gegen die Straße hinauf zum Hexentanzplatz. Meine Gangschaltung wurde meines Erachtens an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gebracht. Hier musste ich etliche Kilometer empor stampfen. Der Blick hinunter auf die alte Stadt Thale entschädigte mich für die Anstrengung. Endlich hatte ich die Abzweigung erreicht und konnte entspannter zum Tanzplatz fahren. Es erwartete mich ein billiger Rummelplatz. Es gab zwar auch ein Museum, ein Naturtheater, einen Zoo und ein Hotel mit Restaurant, beherrschender aber waren die vielen Souvenirbuden, in denen der kitschigste Schnickschnack über Hexen, Teufel und Kobolde feil geboten wurde. Und Imbissstände mit zugegebenermaßen anständiger Bratwurst, an dem jedenfalls, an dem ich eine aß. Ich war recht enttäuscht, war der Platz doch angeblich ein uralter, sächsischer Kultort. Seinen Namen hat er von der Sage, dass die fränkischen Soldaten, die das Gelände bewachten, von als Hexen verkleideten Sachsen vertrieben wurden. Mich vertrieb das touristische Brimborium. Mein bleibender Eindruck von diesem Ort war der fantastische Blick hinunter in das dicht bewaldete Bodetal und die gegenüber liegende Rosstrappe.

Bevor ich weiter nach Friedrichsbrunn fuhr, machte ich doch noch einen Abstecher zum „Harz-Coaster“. Als ich Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts das letzte Mal in Thale war, gab es diese Einrichtung noch nicht. Es ist eine Art Achterbahn mitten im Wald mit Einzelbobs, die auf den Schienen zwangsgeführt sind und nicht aus der Spur kippen können. Die einzige Einflussmöglichkeit auf die Fahrt ist ein Bremshebel, der bei zu hoher Geschwindigkeit und ängstlichen Gemütern betätigt werden kann. Ich muss zugeben, dass mir das Rasen durch den dichten Wald ungeheuren Spaß machte. Natürlich passte dieses Konstrukt überhaupt nicht in diese Landschaft. Durch meinen Boykott wäre es auch nicht verschwunden. Ich setzte sogar noch einen drauf: ich wiederholte die Fahrt noch zwei Mal. Bei den Wiederholungen verzichte ich völlig auf das Betätigen der Bremse. Am Ende der Fahrt rauschte ich durch einen Lamellenvorhang und wurde abrupt durch eine automatische Bremse gestoppt. Ein Fangarm griff in ein Zugseil, und der Bob wurde steil bergauf gezogen. Für die erneuten Fahrten musste ich nicht einmal das Gefährt verlassen. Die Kassiererin rief mir zu: „Du kannst hinterher bezahlen!“

In bester Stimmung fuhr ich weiter. Und immer noch führte die gewundene, leicht aufwärts strebende Straße durch dichten Mischwald. Es dauerte etwa dreißig Minuten, ehe ich die Straße am Südausgang von Friedrichsbrunn erreichte. Vor etwas über zehn Jahren fragte ich an dieser Stelle einen Waldarbeiter nach dem Weg zum Campingplatz am Bremer Teich. Seine Antwort war fantastisch. Einmal, weil ich glaubte, er spräche die Sprache von einem anderen Stern, und dann weil er eine höchst ungewöhnliche Beschreibung gab. Erst nach mehrmaligem Nachfragen bekam ich heraus, wovon er eigentlich sprach. „Gescht erscht den Weg mit den Fichten lang, triffst auf einen Ameisenhügel und wendest dich nach rechts, an dem Fels mit dem Aussehen eines Hasens gescht vorbei, nach hundert Schritt kommscht an eine große Buche. Dort nimmscht den linken Weg, hältscht dich immer an der Buschreihe, bis du zwischen zwei Fichten einen Berggipfel siehscht. Dort gehscht wieder links und bist nach zweihundert Schritt am Teich!“ Und das in einer Mundart, die ich noch nie gehört hatte. Und das Wunder geschah: ich fand den Weg auf Anhieb!

Heute wollte ich jedoch nicht zelten, sondern ich wollte zurück nach Braunlage. Deshalb rollte ich die stark geneigte Hauptstraße von Friedrichsbrunn hinunter, immer in der glasklaren Luft den Brocken und den Wurmberg vor Augen. Auf der langgestreckten Straße hatte ich nicht einmal zu treten. Sogar der weitere Weg nach Allrode war höchst entspannend. Weil ich mich nicht mehr zwischen dicht stehenden Bäumen bewegte, sondern auf einer weiten Hochfläche radelte, hatte ich wunderbare Ausblicke auf Harzlandschaft östlich des Brockens. Allrode lag in einem weiten Talkessel. Die Häuseransammlung zentrierte sich wie der Abfluss eines Waschbeckens an der tiefsten Stelle des Tales. So war es kein Wunder, dass ich anschließend wieder tüchtig bergauf strampeln musste. An einer Stelle waren sogar einige Serpentinen zu bezwingen. Jetzt radelte ich auch wieder durch dichten Wald. In der Nähe von Stiege traf ich auf die Harzhochstraße. Nicht nur das: bis Hasselfelde begleitete mich auch die Selketalbahn. Diese wollte ich ebenfalls während meines Aufenthaltes im Harz noch fahren. Jetzt aber radelte ich entlang eines ausgedehnten Waldgebietes durch eine hügelige Landschaft. In der Ferne konnte ich bereits die ersten Häuser von Hasselfelde erkennen. Ich musste noch einen Hügel erklimmen, der mir eine wundervolle Aussicht auf die höchsten Gipfel des Harzes ermöglichte. Dann schoss ich in die Ortschaft hinein, um an der Kirche nach links abzubiegen. Ich war überrascht, eine lebhafte Straße mit vielen Cafés und Gaststätten vor zu finden. Die Leute saßen auf den Terrassen und genossen das schöne Wetter. Auch ich hatte Lust auf ein leckeres Eis. Ich hatte jedoch heute am Morgen gesehen, dass es in Tanne ein Eiscafé gab. Dort wollte ich mir eine tüchtige Portion gönnen.

Der Weg nach Trautenstein führte mich über eine recht eintönige Hochebene. Dennoch war es nicht eine Spur langweilig, hatte ich doch immer Wurmberg und Brocken vor den Augen, die langsam, aber stetig näher kamen. Ich hatte den dringenden Wunsch, endlich wieder in der Wohnung zu sein. Ich war bereits rechtschaffen erschöpft. Ich war eben nicht mehr so trainiert wie noch vor wenigen Jahren, als ich mit dem Rad bis hinauf auf die Lofoten fuhr. Deshalb war ich äußerst froh, die letzten drei Kilometer nach Trautenstein hinein nicht treten zu müssen, sondern mich das beeindruckende Gefälle hinab rollen lassen zu können. An der Tankstelle am Ortsausgang hielt ich es doch nicht mehr aus: ich musste mir ein Wassereis kaufen, das Capri von Langnese. Ich finde es immer noch köstlich. Dabei ist es doch wirklich nur Wasser mit ein wenig Aroma. Jetzt wurde die Fahrt wieder anstrengender – die Abfahrt hatte ihren Preis. In vielen Kurven kletterte ich erneut hinauf. Und wieder begleitete mich der dichte Wald. Kurz vor der erneut sehr steilen Abfahrt nach Tanne passierte ich wieder „Die Lange“ - dann ging es in rasender Fahrt hinab. Das Eiscafé in Tanne lag wieder ein Stück bergauf. Ich musste nicht einmal treten, einen solchen Schwung hatte ich genommen. Der Lohn für die Anstrengungen des Tages war ein riesiger Erdbeerbecher, selbstverständlich mit einer fetten Haube aus Sahne. Die Schlagsahne in diesem Café wurde noch geschlagen und nicht mit den Druckkartuschen hergestellt. Und das wirkliche Besondere an dieser Sahne war die Tatsache, dass sie mit Vanillezucker gesüßt war. Ich erlebte einen wirklichen Hochgenuss.

Der restliche Weg zurück nach Braunlage war ein entspanntes Radeln auf der glatten Bundesstraße und anschließend dem Schotterweg entlang der Bode. In Braunlage, in der Herzog-Wilhelm-Straße, machte ich erst einmal in dem kleinen, sympathischen Café Station, dass so verführerisch mit leckerem Kuchen lockte. Eine Lübecker Nusstorte mit Marzipan und eine Russische Schokobuttercremetorte mussten es schon sein. Mehr schlecht als recht quälte ich mich die Herzog-Johann-Albrecht-Straße hinauf: ich war erschöpft und pappesatt. Dennoch machte ich mir in der Wohnung noch ein ausladendes Abendessen mit Hexenbrot und verschiedenen Aufschnittsorten. Die Stullen schnitt ich in mundgerechte Stücke, hörte mir die fünfte Sinfonie von Tschaikowsky an und las endlich die Zeitung. Nachdem ich aufgegessen hatte, schlief ich auf dem Sofa ein. Erst die Ruhe nach Beendigung der Sinfonie ließ mich aufwachen. Doch lieber ins Bett.

 

IX. Diesmal ein ganzer Brocken

Heute wollte ich aber wirklich auf den Brocken hinauf. Das Wetter versprach, schön zu werden, nicht anders als in den letzten Tagen. Ich machte mir ein reichhaltiges Frühstück, bereitete mir ausreichend Proviant und Tee zu und schnürte meinen Ranzen. Ich wollte mir nicht zu viel zumuten und nahm nicht den gesamten Hin- und Rückweg unter die Füße. Ich war faul und bestieg zunächst den Bus nach Torfhaus. Von dort wollte ich den berühmten Goetheweg zum Gipfel nehmen. Als ich in Torfhaus aus dem Bus stieg, verspürte ich bereits wieder Hunger. Das konnte doch nicht sein! Es war aber so. Nun machte ich etwas Perverses! In Torfhaus gibt es furchtbare Gaststätte mit dem Namen „Bavaria Alm“. Sie ist entsetzlich kitschig eingerichtet, wie sich eben die unwissenden Preußen Bayrisches Ambiente vorstellen. Aber von der Terrasse hatte ich einen wunderbaren Blick auf den Brocken, der sich unverhüllt und klar zeigte. In einer Almwirtschaft ist es einfach Pflicht, am Vormittag ein Paar Weißwürste zu sich zu nehmen. Auf das traditionelle Weizenbier verzichtete ich – ich wollte während der Wanderung nicht übermüdet einschlafen. Als Ersatz nahm ich ein Haferl Kaffee. Er nannte sich tatsächlich so. Es gab keinen Becher, es gab ein Haferl. Ausnahmsweise auf der Terrasse nicht nur Kännchen. Zu meiner freudigen Überraschung waren die Weißwürste exzellent und würzig, der Kaffee stark und aromatisch. Jetzt konnte ich die Wanderung in Angriff nehmen.

Ich folgte zunächst dem Abbegraben, einem der vielen Kunstbauten des Oberharzer Wasserregals, diesem Jahrhunderte alten Zeugnis überragender Ingenieurskunst. In heutiger Zeit wird er nicht mehr als Energiequelle für den Bergbau genutzt. Nützlich ist er dennoch immer noch. Das Wasser des Abbegrabens wird über den Dammgraben der Okertalsperre zugeleitet und sorgt dort, wenn auch in bescheidenem Umfang für die Stromerzeugung. Weiterhin wird das Wasser zur Trinkwasseraufbereitung genutzt.

Am Anfang des Weges traf ich noch sehr viel andere Wanderer, die sich jedoch im Lauf der Strecke zu anderen Zielen als meinem verteilten. In kurzen Abständen standen an den Wegkreuzungen große Unterstandhütten mit vielen Bänken und Tischen im Freien davor. Schon hier waren viele Plätze belegt. Die Leute waren ja schlimmer als ich! Na, ja, vielleicht kamen sie bereits von weiter her als von Torfhaus. Der Abbegraben wirkte mit seinem ruhig fließenden Wasser ungemein beruhigend auf mich. Es war einfach schön, am grasbesäumten Wasserlauf entlang zu wandern, die hier noch gesunden alten Bäume zu bewundern und die Ruhe zu genießen. Von der Bundesstraße war schon nach kurzer Zeit nichts mehr zu hören. Die einzigen nicht natürlichen Geräusche waren das Pfeifen und Schnaufen der Dampflokomotiven der Brockenbahn. Mich als alten Eisenbahnfreak störte es nun überhaupt nicht. Mich hätte es gestört, wenn ich diese Geräusche nicht hätte wahr nehmen können, wenn ich beim Wandern mit Kopfhörern über einen Walkman oder MP3-Player Musik gehört hätte. Ich höre selbst gern Musik. Aber dann höre ich eben Musik, intensiv und konzentriert. Wenn ich Mahlers Titan beim Wandern konsumiere, kann ich doch nicht die Vögel singen, nicht das Wasser plätschern und nicht die Bäume rauschen hören! Also bleiben die Kopfhörer zu Hause.

Allmählich stieg der Weg stärker an. Ich durchquerte das Brockenfeld, das Quellgebiet von Bode, Ecker und Bode. Welch entsetzlicher Anblick bot sich mir! So weit das Auge reichte, sah ich abgestorbene und umgestürzte Bäume. Die kreuz und quer liegenden Stämme waren weitestgehend von Schädlingen befallen. Hier hatte der saure Regen ein fürchterliches Werk vollbracht. Bei meiner Wanderung durch das Odertal hatte ich zwar auch eine Menge umgestürzte Bäume gesehen. Aber dort hatte ich nicht den Eindruck einer Schädigung durch die vergewaltigte Umwelt. Vielmehr hatte ich den Anblick als Ausdruck eines normalen Naturvorganges empfunden. Ganz anders hier oben im Brockenfeld. Die hier herrschenden Stürme und Orkanböen hatten auf Grund der vorherigen Schädigung durch den sauren Regen reiche Ernte halten können. Aber vielleicht trug der Verfall des Waldes auch wieder zur Humusbildung bei, und in hundert oder zweihundert Jahren würde vielleicht wieder frisches Grün sprießen. Auf mich machte das Erscheinungsbild jedenfalls einen depressiven Eindruck. Ich war froh, endlich diese Stätte der Verwüstung wieder zu verlassen und auf dem steilen Panzerweg zum ehemaligen Bahnhof hinauf zu klettern. Dort setzte ich mich auf einen von der Sonne gewärmten Stein, genoss in vollen Zügen mein Picknick und freute mich über den weiten Ausblick hinüber nach Torfhaus und in das Harzvorland jenseits von Bad Harzburg. Inzwischen war der Goetheweg lebhaft bevölkert. Wieder war ich erstaunt, in welcher Kluft die Leute teilweise ihre Wanderungen unternahmen. Ich will ja gar nicht von den offenen Schnürsenkeln und den tiefen Hosenhintern der Jugendlichen reden, nein, ich meine reife und erwachsene Leute, deren Schmerbäuche weit über die viel zu engen Shorts hingen, an den Füßen Sandalen oder gar Latschen und mit Rucksäcken ausgestattet, die schlabberig am Rücken herab hingen und so überhaupt nicht den Eindruck von Bequemlichkeit machten. Die Leute, die den sich Plattenweg hinauf kämpften, machten bereits in großer Zahl einen recht fertigen Eindruck. Sicher bietet eine Wanderung auf den Brocken keine großen bergsteigerischen Herausforderungen, aber immerhin sind dabei doch etliche Kilometer zu bewältigen. Mir war es unbegreiflich, warum sich Menschen einer solchen Qual unterzogen, statt sich vernünftig zu informieren und zweckmäßig anzuziehen. Vielleicht sollte ein untrainierter Fettwanst vorher ein paar leichtere Wanderungen unternehmen, um ein wenig Erfahrung zu sammeln, bevor er sich auf stundenlanges Tippeln einlässt. Na, ja, diese Dilettanten hatten ja die Gewissheit, auf dem Brockengipfel in die nächste Bahn zu steigen oder in einer Kutsche Platz zu nehmen, um sich bequem wieder nach unten transportieren zu lassen. Habe ich mich vor ein paar Tagen über meine schmerzenden Gliedmaßen nach der ersten langen Wanderung beklagt...

Nachdem ich genug geschaut und ausreichend im Geiste gelästert hatte, machte ich mich weiter auf den Weg zum Gipfel. Ich wanderte den Goetheweg parallel zur Bahnstrecke entlang und ärgerte mich über die zahlreichen Mountainbiker, die mit erstaunlicher Rücksichtslosigkeit den Weg entlang preschten. Was kümmerte diese Rabauken ein Verbot? Es war eigentlich eine Selbstverständlichkeit, auch ohne behördliche Maßgabe verantwortungsvolles Verhalten auf einem viel begangenen und engen Wanderweg zu zeigen. Jedenfalls erreichte ich ohne Karambolage mit einem Radfahrer die Brockenstraße mit dem großen Rastplatz. Ich hielt mich nicht lange auf, trank nur einen Becher Tee und stieg die steile Asphaltstraße weiter hinauf. Stärkung würde ich oben auf dem Brocken ausreichend bekommen. Das Treiben auf der Brockenstraße nahm inzwischen beängstigende Ausmaße an. Neben den Heerscharen von Wanderern tummelten sich etliche Radfahrer und Pferdekutschen auf dem Weg herum. Sagte ich eben etwas über Rücksichtslosigkeit? Die Gedankenlosigkeit der Kutschenpassagiere ärgerte mich fast noch mehr. Um nichts in der Welt wäre ich in ein solches Gefährt gestiegen, um mich von abgerichteten und gequälten Tieren den Berg hinauf ziehen zu lassen. Wenn ich nicht mehr selbst dazu in der Lage war, einen solchen Berg hinauf zu gehen, muss ich eben Maschinen in Anspruch nehmen – oder es sein lassen. Gemessenen Schrittes ging ich durch die Mengen hindurch und erreichte nach erstaunlich kurzer Zeit den Bahnhof Brocken. Es herrschte ein unübersichtliches Gewusel. Heute war Sonntag, und an einem solchen Tag fuhren vierzehn Züge den Brocken hinauf. Leer waren die Waggons beileibe nicht. Die Mehrzahl der Leute, die eine Tour wandern wollten, nahm die leichtere Alternative und ließ sich hinauf karren, um dann gemütlich abzusteigen. Wanderer, die zu Fuß auf den Brocken kamen, gingen auch meistens wieder per Pedes zurück. Deshalb wunderte es mich nicht, dass die talwärts fahrenden Züge deutlich lichter besetzt waren als die zu Berg fahrenden. Sehr viele der Brockentouristen nutzten allerdings die Bahn, um sagen zu können „Ich war auf dem Brocken!“, um damit angeben zu können. Sie stiegen oben am Bahnhof aus, machten einen kleinen Rundgang, aßen oder tranken etwas, enterten wieder den Zug und legten den Weg nach Schierke, Drei Annen-Hohne oder Wernigerode sitzend zurück.

In der Laden- und Budenzeile am Bahnhof suchte ich nach einer Essgelegenheit. Die Gulaschkanone mit der angebotenen Erbsensuppe mied ich tunlichst. Vor einigen Jahren hatten Dagmar und ich, nachdem wir den Berg mit fünfzig Kilo Gepäck hinauf geradelt waren, zur Stärkung dort jeder eine Erbsensuppe bestellt und hatten sie fast unberührt wieder zurück gehen lassen. Nach meinem Geschmack hatte sie fast ausschließlich aus Bindemitteln bestanden und war bereits nach kurzer Zeit von einer unappetitlichen Haut überzogen gewesen. Heute hatte ich mehr Glück: bei einem anderen Stand wurden meine geliebten Thüringer Knacker angeboten. Heute mussten es drei Stück sein. Leider gab es keinen Kartoffelsalat. Aber das frische Bauernbrot statt der ansonsten üblichen, labberigen Weizenbrötchen tat es auch. Anschließend machte auch ich einen Rundgang um die Bergkuppe. Schön ist dieser kahle Flecken Erde wahrlich nicht. Der Gipfel dieses eigentlich wunderschönen Berges ist durch einige Gebäude regelrecht verschandelt worden. Der dreibeinige Sendemast ist eindeutig das beherrschende Bauwerk und bietet keinen sehenswerten Anblick. Nun, er ist eben – zweckmäßig. Auch die Wetterstation verleitet nicht zu euphorischen Ausbrüchen ob der gelungenen Gestaltung. Der größte Schandfleck ist jedoch das Brockenhaus, die sogenannte „Stasi-Moschee“. Hier waren zu sozialistischer Zeit die Abhöranlagen des Ministeriums für Staatssicherheit untergebracht. Jetzt ist hier ein Informationszentrum untergebracht. Als Reminiszenz an alte Zeiten sind in der Kuppel des Gebäudes die alten Antennenanlagen ausgestellt. Weil das Wetter auf dem Brocken besonders im Winter höchst tückisch werden kann, ist sogar eine ständig besetzte Bergwachtstation dort untergebracht. Die restlichen Gebäude auf dem Gipfel bestehen aus den Bahnhofsanlagen und teilweise dilettantisch zusammen genagelten Verpflegungsbuden. Die Krönung der Unsensibilität ist jedoch der Erdhaufen in der Mitte der Kuppe. In den Karten und Enzyklopädien wurde die Brockenhöhe immer mit 1.142 Metern angegeben. In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde der Berg erneut ausgemessen. Und, oh Schreck! Die exakte Höhe betrug lediglich 1.140,7 Meter! Das ging doch nun gar nicht. Sollten den sämtliche Karten, Lexika und Lehrbücher geändert werden? Nein, da war es doch einfacher, den Berg aufzuschütten, um wieder die verzeichnete Höhe zu erreichen. Um dem Ganzen noch einen drauf zu setzen, wurde auf den künstlichen Hügel auch noch ein Stein gesetzt, in dem eine Markierung die genaue Meterzahl angibt.

Ich will jedoch nicht nur Schlechtes über die Brockenkuppe erzählen. Während ich die Höhe umrundete, konnte ich nach allen Richtungen weit in das Land blicken. Ich beginne im Norden. Die Stadt Bad Harzburg war zwar nicht zu erkennen, wohl aber der große Steinbruch nördlich davon. Und natürlich das Harzvorland mit seinen von Ost nach West verlaufenden, dicht bewaldeten Höhenrücken. Die weiter entfernt liegende Tiefebene konnte ich wegen des leichten Dunstes im Norden nicht ausmachen. Torfhaus lag zum Greifen nah, die rotweißen Sendemasten von der Sonne grell beleuchtet. Zwischen Torfhaus und Achtermannshöhe hindurch sah ich zur Stieglitzecke hinüber, diesem markanten Bergvorsprung, der den Eingang zum Acker markierte. Ich wusste, dass ich in diesem Urlaub auch dort noch einmal hin fahren würde. Die hässliche Sendeanlage auf dem Jagdkopf an der Odertalsperre erkannte ich ebenso wie den Wurmberg mit der markanten Sprungschanze bei Braunlage. Der schönste Blick war jedoch der hinunter zur bunten Stadt, nach Wernigerode. Davor lag der Ottofelsen, dessen Aussichtsplattform ich auch noch aufsuchen wollte. Hinter Wernigerode sah ich Quedlinburg (ein weiteres meiner Ziele) und Halberstadt. Sogar die weißen Qualmwolken des neuen Braunkohlekraftwerks bei Helmstedt sah ich. Ich setzte mich auf eine niedrige Steinmauer abseits des Massentrubels und genoss einen weiteren Becher Tee. Ein älterer Mann setzte sich neben mich. „Das hat schon was hier oben, nicht?“ meinte er zu mir. Ich erwiderte „Deshalb gehst du täglich hier hinauf. Ich kann dich verstehen, Benno“ Er schaute mich verwundert an. „Woher kennst du meinen Namen?“ fragte er mich. Es war Benno Schmidt aus Wernigerode, der seit der Grenzöffnung 1989 fast jeden Tag auf den Brocken hinauf ging. Ich hatte über ihn einen Bericht in der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen und mir das markante Gesicht gemerkt. Mit seinen jetzt vierundsiebzig Jahren sah er noch unglaublich jung und fit aus. Ich fragte ihn, ob er denn häufig auf sein Hobby angesprochen werden würde. Nein, ich wäre der erste, meinte er. Ich konnte es fast nicht glauben. Wir klönten noch eine Weile über die Schönheit des Harzes und den wunderbaren Weg von Wernigerode auf den Gipfel. Auch er fand die Gipfelkuppe recht abstoßend; für ihn war eben der Weg das Ziel. Benno war mir äußerst sympathisch. Er erzählte gern von seiner Heimat, wie sehr er sie liebte, ohne dabei hochtrabend und aufschneiderisch zu werden. Er bat mich, ihm meine Adresse aufzuschreiben, weil er mir einmal schreiben wollte, wie es ihm weiter erging. Er gab mir auch seine Anschrift. Ich habe nie einen Brief von ihm bekommen, und auch ich habe mich nicht bei ihm gemeldet. Seine Adresse habe ich irgendwann verloren.

Ich überlegte, wieder nach Torfhaus zurück zu gehen und den Bus nach Braunlage zu nehmen. Ich schalt mich ein Weichei und beschloss, zu Fuß nach Braunlage zu gelangen. Ich folgte also dem Goetheweg bis zum gleichnamigen Bahnhof, trank dort meinen letzten Tee, nahm den alten Plattenweg zum Dreieckigen Pfahl und setzte meinen Weg zu Tal auf vorerst bekannten Pfaden fort. Erst an dem Rastplatz, auf dem ich vor einigen Tagen auf dem Weg zum Bahnhof Goetheweg eine Pause gemacht hatte, nahm ich eine andere Route zurück. Ich folgte jetzt rechtsseitig der Warmen Bode, dem Quellarm mit ausgesprochenem Wildbachcharakter. Auf meiner Karte waren sogar zwei Wasserfälle eingezeichnet. Ich war gespannt. Die Fälle, die ich bisher im Harz gesehen hatte, waren von geradezu bestürzender Lächerlichkeit, weil sie künstlich angelegt waren und jede Natürlichkeit entbehrten. Nun, die Bodefälle waren auch nicht spektakulär: es waren einfach nur Sturzbäche mit einer maximalen Fallhöhe von etwa einem Meter. Ich sah jedoch, dass sie natürlichen Ursprungs waren und sich harmonisch in die Umgebung einfügten. Am unteren Bodefall setzte ich mich auf einen umgestürzten Baumstamm und aß meinen letzten im Rucksack verblieben Proviant. Eine saftige Birne. Es quälte mich brennender Durst. Mein Wasser und meinen Tee hatte ich bereits zur Neige geleert. Ich schaute mir die Kaskaden der Warmen Bode an. War dort irgendwo Schaum, der dort nicht hin gehörte? Nein, ich entdeckte keine verräterischen Flocken. Außerdem wusste ich, dass auf dem Brockengebiet keine Weidewirtschaft betrieben wurde, also auch keine Gülle auf die Wiesen gekippt wurde. Ich glaubte, das Wasser unbesorgt trinken zu können. Ich beugte mich an den Flussrand und schöpfte mit beiden Händen das erfrischende Nass. Gierig trank ich und trank ich. Das Wasser schmeckte einfach köstlich. Es stellten sich auch später keine unangenehmen Nachwirkungen ein.

Jetzt war es nur noch ein kurzes Stück bis Braunlage. Ich erreichte den großen Parkplatz an der Wurmbergbahn und kam an Puppe am Brunnen nicht vorbei. Ich setzte mich unter einen schattigen Baum und bestellte wieder den großen Brotzeitteller. Ich hatte nämlich heute keine Lust zum Kochen. Wieder aß ich alles ratzekahl auf. Zurück in der Wohnung verbrachte ich noch eine Stunde auf der Terrasse mit dem Schreiben des Tagebuchs, ehe ich redlich erschöpft in die Federn fiel.

 

X. Fahrt zu bekannten Stätten

Terrassenfrühstück – die Rostbratwürstchen von Aldi sind einfach unübertroffen! Hexenbrot mit Rührei und Schinken. Den anderen Bewohnern des Hauses muss das Wasser im Mund zusammen gelaufen sein, als sie die Gerüche von meinem Balkon wahr nahmen. Ich packte mir wieder reichlich Proviant zusammen und verstaute ihn zusammen mit dem Werkzeug und Regenkleidung in der Fahrradtasche. Ich sah keine Wolke am Himmel. Aber sicher war sicher. Heute war keine Wanderung angesagt, heute wurde Rad gefahren! Ich wollte die Orte besuchen, an denen ich schon mehrfach war und an die ich nur die besten Erinnerungen hatte.

Ich fuhr weiter die Johann-Herzog-Albrecht-Straße hinauf und war innerhalb kürzester Zeit im Wald. Ich querte die Bundesstraße und nahm den Waldweg parallel zur Straße Richtung Norden. Diese Strecke war selbstverständlich viel schöner als das Asphaltband weiter oben. Sehr häufig konnte ich weit in das Odertal hinunter blicken – wenn die Bäume nicht so dicht standen, dass sie die Sicht verdeckten. Kurz vor dem Oderteich stieg der Talgrund schnell an, und die noch junge Oder verkleinerte sich zu einem springendem Gebirgsbach. Diesmal machte ich keine Pause an der Köhte neben dem Damm. Ich fuhr die Harzhochstraße weiter Richtung Stieglitzecke. Wegen des geringen Verkehrs und weil die Asphaltdecke gerade neu geteert worden war, erlebte ich ein äußerst entspanntes und leichtes Fahren, zumal die Fahrt überwiegend bergab führte. Die erste Pause wollte ich an der Stieglitzecke einlegen. Als ich dort eintraf, waren die Tische und Bänke bereits von einer Vielzahl von Motorradfahrern besetzt. Sie machten überwiegend einen sehr unsportlichen Eindruck. Die Schmerbäuche wurden von viel zu engen Lederkombinationen eingezwängt, fette Hintern balancierten auf spindeldürren Beinen. Einer der Möchtegernrocker sprach mich und fragte, wie weit es denn zur Hanskühnenburg wäre. Als ich ihm sagte, dass es ungefähr acht Kilometer wären, wehrte er erschrocken ab und rief „Da gehe ich doch nie zu Fuß hin! Können wir denn nicht näher heran fahren?“ Doch, das konnten sie. Von Sieber aus waren es lediglich fünf Kilometer. Als ich aber hinzufügte, dass dann ein Höhenunterschied von ungefähr fünfhundert Metern zu bewältigen wäre, verzichteten die Naturfreunde auf die Hanskühnenburg. Die Wirtsleute dort konnten es sicher verschmerzen. Die laute Bande vertrieb mich nach kurzer Zeit von dem eigentlich schönen Platz. Von dort konnte ich nämlich bis nach Clausthal-Zellerfeld blicken. Ich verließ die Bundesstraße und schwenkte in einen Waldweg ein. Nicht den zur Hanskühnenburg, sondern weiter das Tal hinunter Richtung Kamschlacken. Ich passierte auf der Abfahrt den Sösestein, eines der vielen Naturdenkmäler im Harz. Es war ein steiles Rasen einen groben Schotterweg hinunter. An einer Spitzkehre mit Sitzgelegenheit machte ich endlich eine ruhige Pause. Gegenüber lagen die Hammersteinklippen, von denen, wenn ich denn dort oben gewesen wäre, eine tolle Aussicht ins Sösetal gehabt hätte. Hätte, hätte.

Weit unter mir lag ein kleiner aufgestauter Teich, an dessen Rand es sich einige Familien gemütlich gemacht hatten. Kinder plantschten im Wasser herum. Hier wurde ein Teil des Wassers der Großen Söse abgezweigt. Unterhalb des minimalistischen Dammes wurde das Wasser in einem der typischen Gräben des Oberharzer Wasserregals den Höhenlinien folgend weiter geleitet. Parallel zu diesem Graben, dem Morgenbrotsgraben, wollte ich wieder zur Bundesstraße und nach Altenau gelangen. Zunächst musste ich aber weiter hinunter, vorsichtig und unter stetem Einsatz der Bremsen. Der grobe und lose Schotter erlaubte keine hohe Geschwindigkeit. Behutsam schob ich mein Rad am Stausee zwischen den Familien hindurch. Dann konnte ich bei ganz leichtem Gefälle ungestört meinem Ziel entgegen radeln. Es war eine wunderbar entspannte Fahrt mit weiten Ausblicken Richtung Südwesten. Im Gegensatz zum östlichen Teil des Harzes herrschte hier strenge Monokultur vor. Ausschließlich Nadelbäume bedeckten die Hänge. Es wurde mir dennoch nicht langweilig. Dafür war die Fahrt doch zu abwechslungsreich. Schließlich kam ich noch an zwei weiteren interessanten Felsformationen vorbei, nämlich der Siebenwochenklippe und der Henkopferklippe. Während die Siebenwochenklippe am gegenüber liegenden Hang voll in meinem Blickfeld lag und ich sie ausreichend bewundern konnte, versteckte sich die Henkopferklippe über mir. Ich konnte lediglich ein paar vorspringende Felsen ausmachen.

Ich erreichte wieder die Harzhochstraße beim Sperberhaier Dammhaus genau an der Abzweigung nach Altenau. Das Gebäude diente nicht mehr dem ursprünglichen Zweck. Es wurde damals als Baubüro für die Errichtung des Sperberhaier Damms gebaut und fungierte bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts als Unterkunft für die diensthabenden Grabenwärter. Über den Graben wurde das Wasser des Bruchberges zur Hochebene um Clausthal-Zellerfeld geleitet. Bei der Planung hatten die Ingenieure übersehen, dass auf dem Weg eine Senke ein fast unüberwindliches Hindernis darstellte. Aber doch nicht für die Macher des Oberharzer Wasserregals! Sie überwanden diese Hürde einfach mit einem Damm, über den das Wasser, die Energiequelle der Bergwerke, dirigiert wurde. Jetzt ist das Dammhaus ein beliebtes Ausflugslokal. Ich wollte jedoch nicht einkehren, sondern den bevorstehenden Trip nach Altenau genießen. Das wurde vielleicht eine Fahrt! In vielen Kurven wand sich die abschüssige Straße durch dicht stehende Bäume. Durch die Stämme blitzten im einem Hochmoor ähnlichen Gebiet kleine Seen und Teiche. Ich musste nur leicht treten, um in schneller Fahrt zu bleiben. Ein Stück weit begleitete mich der Dammgraben, einer bedeutendsten Leitungen des Wasserregals. Es war keine Überraschung, dass ich bereits nach kurzer Zeit Altenau erreichte. Die Stadt machte einen erstaunlich lebhaften Eindruck auf mich. Im Gegensatz zu St. Andreasberg und Braunlage sah ich keine geschlossenen Geschäfte und leer stehende Gastronomiebetriebe. Auf den Gehsteigen herrschte ein Fußgängerverkehr wie auf dem letzten Stück der Brockenstraße. Als Jugendlicher war ich im Rahmen einer Klassenreise in Altenau gewesen und hatte die Stadt genau so in Erinnerung. Natürlich erkannte ich die Geschäfte nicht wieder. Aber ich hatte genau die gleiche Empfindung wie früher: Urlaub und Tourismus. Allerdings wollte ich nicht daran teil nehmen, wollte nicht eines der zahlreichen, einladenden Lokale aufsuchen. Ich verspürte zwar bereits wieder Hunger, kannte allerdings auf dem Weg zur Okertalsperre ein Schnellrestaurant am Wegesrand, das laut meiner Erinnerung ein hervorragende Currywurst und Pommes Frites von gleicher Qualität im Angebot hatte. Ich fand sogar einen freien Platz auf der Terrasse. Natürlich bestellte ich das erwähnte Gericht. Es war sogar besser, als ich erwartet hatte. Selbstverständlich würde ein Wolfram Siebeck vernichtende Worte zu diesem Fraß finden. Aber ich bin eben nicht Wolfram Siebeck, sondern Michael Dauk, der Currywurst mit Pommes und Mayo einfach geil findet. Die Mehrzahl der Gäste bestand aus Motorradfahrern - Fahrern, die ich bereits an der Stieglitzecke getroffen hatte. Sie begrüßten mich äußerst freundlich. Im Gegensatz zur ersten Begegnung verhielten sie sich jetzt ruhig und zurückhaltend.

Nach dem köstlichen Mahl war es nicht mehr weit zur Okertalsperre. Zunächst eigentlich nur zur Vorsperre, an der ein idyllischer Campingplatz lag, den Dagmar und ich in der Vergangenheit mehrfach aufgesucht hatten. Die Stellplätze lagen direkt am Wasser und waren durch einen Damm und dichte Buschreihen von der Straße getrennt. Die parzellierten Flächen waren viel schöner als die Zeltwiese, daher leisteten wir uns gern den etwas erhöhten Tagessatz, um den Platzvorteil genießen zu können. Allerdings mussten wir dafür einen Nachteil in Kauf nehmen: während der Untergrund der Zeltwiese aus weichem Rasen bestand, in den die Häringe leicht einzutreiben waren, kampierten wir auf der Parzelle auf einer steinharten Basis. Wir hatten keine Chance, unsere Erdnägel aus Aluminium in den Boden zu treiben. Es bestand die Möglichkeit, an der Rezeption sogenannte „Harznägel“ zu erstehen, von denen garantiert wurde, dass sie sich mit einem Hammer wirklich in das Gestein schlagen ließen. Nun, wir hatten keinen Hammer (wir drückten die Häringe in der Regel mit der Schuhsohle in den Grund), und außerdem sollte ein solcher Nagel zwei Mark und fünfzig Pfennige das Stück kosten! Da verzichteten wir lieber. Wir suchten uns schwere Steine am Ufer, schleppten sie zu unserem Platz und vertäuten die Zeltschnüre daran. Es funktionierte! Und noch einen Nachteil hatte dieser Platz, vom jedoch auch die Zeltwiese betroffen war: es trieb sich ein diebischer Fuchs auf dem Gelände herum. Er war auf der Suche nach essbaren Resten. Wir wurden von den Verwaltern zwar gewarnt, keinen Abfall vor und im Zelt liegen zu lassen, sondern sämtliche Reste in den dafür vorgesehenen Containern zu entsorgen, dachten jedoch im Traum nicht daran, dass der Fuchs es auch auf Kochgeräte abgesehen haben könnte. Eines nachts wachte ich durch ein lautes Geschepper vor dem Zelt auf. Ich leuchtete mit der Taschenlampe hinaus und blickte genau in die erstaunten Augen eines Fuchses, der nicht einmal einen halben Meter vor mir kauerte und die Trangia-Pfanne mit dem alten und erkalteten Bratfett im Maul hielt. Ich ließ die Pfanne stets nach Gebrauch außerhalb des Zeltes. Der Fuchs war wohl erheblich erschrockener als ich, denn ergriff sofort die Flucht, die Pfanne noch zwischen den Zähnen und verschwand Richtung Ufer. Am nächsten Morgen suchten wir die gesamte Umgebung ab, vergeblich – die Pfanne fanden wir nicht wieder. Dieser Fuchs war beileibe nicht der einzige auf Harzer Campingplätzen. Am Wiesenbeker Teich bei Bad Lauterberg wurden wir von einem Exemplar heimgesucht, das es auf den Müll und Schuhe abgesehen hatte. Ja, Schuhe. Von dieser Gefahr wussten wir, nicht aber, dass er unseren Müll in weitem Umkreis verteilen würde. Es war eine verteufelte Mühe, den ganzen Kram wieder zusammen zu klauben.

Ich wollte von der Okertalsperre einen Waldweg hinauf nach Torfhaus fahren. Diese Route kannte ich gut. Ich war sie in der Vergangenheit einige Male gefahren. Sie war nicht übermäßig steil, bestach durch eine faszinierende Wegführung und hatte als besonderes Bonbon leckere Erfrischungen in Form von reich bestückten Himbeerbüschen zu bieten. Ich überquerte den Damm der Vorsperre, um auf dem autofreien Asphaltweg auf der Ostseite des Sees zur Abzweigung zu gelangen. Dort bog ich an einer schmalen, aber tiefen Bucht ab und fand mich unvermittelt mit einem ungeheuren Holzstapel konfrontiert, der vollständig den Weg versperrte. Ein großes Schild wies unmissverständlich darauf hin, dass dieser Weg gesperrt sei. Ich sah zwar einige Wanderer, die den Holzstapel umgingen und dem Pfad weiter aufwärts folgten, wollte jedoch ihrem Beispiel nicht nacheifern, weil ich keine Lust hatte, nach vielleicht drei Vierteln des Weges unverrichteter Dinge wieder umkehren zu müssen. Deshalb fuhr ich den Uferweg weiter. Ich wusste, dass nach einigen Kilometern ein weiterer Weg abzweigte, der ebenfalls hinauf nach Torfhaus führte.

Das kurvenreiche Asphaltband erlaubte häufige Ausblicke auf den See und das gegenüber liegende Ufer mit der exponiert liegenden Ortschaft Oberschulenburg. Die Okertalsperre diente unter anderem zur Trinkwasserversorgung der südlichen Norddeutschen Tiefebene. Um so verwunderter war ich, dass auf dem See Motorboote zugelassen waren. Sogar ein Passagierschiff kreuzte auf der Oberfläche herum. Nein, ich war eigentlich nicht mehr verwundert. Schließlich wusste ich um diese Tatsache bereits seit meiner Kindheit, als wir im Rahmen einer Klassenreise auch die Okertalsperre besuchten und unser Klassenlehrer sich furchtbar darüber aufgeregt hatte, dass durch die stinkenden Dieselmotoren das Wasser verpestet würde, wie er sich ausdrückte. Trotz der hier nicht her gehörenden Vehikel genoss ich die Fahrt – dafür war die Landschaft einfach zu schön. Und das strahlende Wetter tat ein übriges. Es war einfach wunderbar, durch einen Tunnel von grünen Laubbäumen zu radeln, sich dabei kaum anzustrengen und das Leben zu genießen. Als ich das Ende der weit eingeschnittenen Bucht erreichte, wo der Aufstieg nach Torfhaus begann, schaute ich noch einmal auf die Karte: der Weg nahm fast die direkte Linie hinauf, fast rechtwinklig zu den Höhenlinien. Und er war für den zu bewältigen Höhenunterschied verdammt kurz. Ich überlegte kurz und entschied dann, mir die Anstrengung zu ersparen und das Okertal nach Oker hinunter und dann nach Bad Harzburg zu fahren. Dort wollte ich den Bus nach Braunlage nehmen. Ich wusste, dass bei dieser Linie die Möglichkeit der Fahrradmitnahme bestand. Ich fuhr also den leichten, ebenen Weg zur bogenförmigen Staumauer der Okertalsperre. Ich freute mich schon auf die Bratwurst an dem kleinen Restaurant. Ich hatte sie in bester Erinnerung. Doch wie enttäuscht war ich, nachdem ich den ersten Bissen herunter geschluckt hatte: keine Würze, kein Kräuteraroma, keine krosse Kruste. Eine schlabberige, nichtssagende, fade Füllung in einer weichen und ekligen Pelle. Ich warf die Wurst in den Papierkorb. Die Verkäuferin am Grillstand nahm es regungslos zu Kenntnis. Vielleicht kannte sie diese Reaktion schon.

Anschließend donnerte ich die steile Abfahrt zum Tal der Oker hinunter. Als es wieder flacher wurde stand ich vor einer geradezu lächerlichen Inszenierung: vor mir erhob sich das „kleinste Königreich der Welt“. Ein ehemaliger Jagdsitz König Georgs des fünften von Hannover wurde auf die schamloseste Weise touristisch ausgeschlachtet. Selbstverständlich existierte dieses Königreich überhaupt nicht. Es wurde halt eben nur behauptet. Gegenüber dem kitschig heraus geputzten Gebäude zerstäubte der höchste Wasserfall des Harzes. Bezeichnenderweise hat er keinen natürlichen Ursprung, sondern König Georg hatte Mitte des 19. Jahrhunderts das kleine Flüsschen Romker kanalisieren und zu einer Felsenklippe leiten lassen, damit er sich von seinem Jagdsitz aus an einem Wasserfall erfreuen konnte. Immerhin erreicht der Romkerhaller Wasserfall die stattliche Höhe von 64 Metern. Von der Straße aus konnte ich gut die Steinfassung erkennen, über deren Kante die Romker hinab stürzte. Ich weiß nicht, von Stürzen konnte eigentlich keine Rede sein. Das Wasser rieselte mehr herunter. Als ich mich auf den weiteren Weg machen wollte, fiel mir ein, dass die Strecke von Oker nach Bad Harzburg nicht sonderlich reizvoll war. Ich war sie in den vergangenen Jahren zwei Mal gefahren. Ich machte kehrt und strampelte wieder zur Staumauer hinauf, überquerte den Damm und fuhr auf der schönen Straße zurück zur Bucht, an der der Weg nach Torfhaus begann. Ich wollte mich nun doch der Herausforderung stellen. Ich muss zugeben, dass ich scheiterte. Nicht dass ich umkehren musste, nein, so groß war die Schmach nicht, aber ich musste doch etliche hundert Meter schieben. Ich und mein Rad schieben! Ich konnte von Glück sagen, dass mir niemand entgegen kam und mich kein Mensch überhole. Ich war auf der einsamen Strecke mutterseelenallein. Wieder hörte ich keinen unnatürlichen Laut, nur das Zwitschern und Singen der Vögel, das Rauschen der Baumwipfel und das Plätschern des kleinen Flüsschens, das mich begleitete. Allerdings hatte diese Strecke doch noch eine angenehme Überraschung für mich parat: auch hier fand ich reich bestückte Himbeerbüsche! Mir lief der Saft aus den Mundwinkeln. Bei meinen Tagestouren hatte ich stets eine Rolle kleiner Müllbeutel dabei, damit ich meinen Dreck wieder mitnehmen konnte. Ich füllte drei davon mit den dunkelrosa Beeren und freute mich schon auf den abendlichen Nachtisch mit eiskalter Milch. Da fiel mir das elendige Schieben schon erheblich leichter.

Ich erreichte die B4 etwas südlich von Torfhaus, hatte also noch einmal ein tüchtiges Stück mit einer zehnprozentigen Steigung zu überwinden. Ich fuhr an den Fressbuden auf dem Gipfel vorbei, Ich wollte mir ein luxuriöses Abendessen bereiten. Voller Vorfreude raste ich die Autostraße nach Braunlage hinunter, gönnte mir in meinem Lieblingscafé noch ein Stück russische Torte, kaufte im Supermarkt am Ortsende ein und schlängelte mich anschließend zur Wohnung hinauf. Dann machte ich mich ans Werk. Während der Reis kochte, schnitt ich Möhren, Paprika, Tomaten Sellerie und Zwiebeln, blanchierte grüne Bohnen und bereitete eine pikante Hackfleischmischung. Während ich das Hack anbriet, wickelte ich dünne Scheiben durchwachsenen Specks um die Bohnenbündel und legte die Röllchen mit in die Pfanne und wendete sie gleichmäßig. Als der Reis gar war, mischte ich das Gemüse darunter und briet die Menge in der von Hack und Bohnen befreiten Pfanne kräftig an. Weil mir nur zwei Kochplatten und kein Backofen zur Verfügung standen, bedurfte die Abfolge einiger Überlegung. Ich fing an zu schlemmen und schrie meine Freude über den Geschmack kaut heraus. Die anderen Bewohner des Hauses mussten denken, hier wäre ein Verrückter eingezogen. Als Nachtisch gab es die selbst gepflückten, gezuckerten Himbeeren, schwimmend in eiskalter Milch. Anschließend war ich so satt und träge, dass ich entweder etwas unternehmen musste oder zu Bett gehen konnte. Nein, dafür war der Abend doch noch zu schön. Ich startete einen ausgedehnten Spaziergang ein kleines Stück den Wurmberg hinauf und über die Skiwiese wieder zurück. Wieder in der Wohnung, ging es mir schon erheblich besser. Ich goss mir eine Kanne Tee auf, hörte mir Mahlers Auferstehungssinfonie an und schrieb das Tagebuch auf der Terrasse, bis ich mir endlich das Buch von Stieg Larsson vornahm. Auf was hatte ich mich da eingelassen! Ich las und las und las, bis mit gegen halb vier die Augen zufielen. Mir fehlten noch vierzig Seiten.

 

XI. Ein Kloster – und Nordhausen besteht nicht nur aus Plattenbauten

Heute wollte ich einmal an den Südrand des Harzes. Dort war ich zuletzt vor 44 Jahren im Rahmen der erwähnten Klassenreise gewesen. Im Gegensatz zu fast allen meinen Mitschülern war ich vom Kloster Walkenried unglaublich fasziniert. Besonders die Kreuzgänge hatten es mir angetan. Ich weiß auch nicht, warum ich mich als Vierzehnjähriger für die Harmonie der Bögen hatte begeistern können. Es war eben so. Anschließend wollte ich weiter nach Nordhausen. Von dieser Stadt hatte ich schon so viel Negatives gehört, dass ich mir unbedingt selbst ein Bild machen wollte. Ein Ort konnte doch nicht nur schlecht sein!

Ich kam leider nicht so früh los, wie ich eigentlich wollte. Ich musste mir doch unbedingt die restlichen Bände der Larsson-Trilogie besorgen! Punkt neun Uhr stand ich vor dem Bücherladen in der Herzog-Wilhelm-Straße und bestellte den zweiten Band. Sie hatten ihn nicht auf Lager, und der dritte Teil war noch gar nicht als Taschenbuch aufgelegt. Ich gab mich also mit dem einen Buch zufrieden und konnte ihn es am nächsten Tag abholen.

Ich hatte vor, mich heute unterwegs in Cafés, Restaurants und Imbissbuden zu verpflegen, packte zur Vorsicht aber noch einige Stullen und natürlich die Thermoskanne mit heißem Tee ein. Ich benutzte zunächst die alte Bahntrasse von Braunlage nach Walkenried, die teilweise zum Wander- und Radweg ausgebaut war. Diese kurvenreiche und abschnittsweise sehr steile Strecke wurde bis Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts noch für den Personenverkehr genutzt. Die Verbindungsstrecke bis Sorge und Tanne zur Harzquerbahn aus verständlichen Gründen lediglich bis Ende des Zweiten Weltkrieges. Vom ehemaligen Bahnhof Braunlage, der jetzt als Busstation dient und leider dem Verfall preisgegeben ist, fuhr ich zunächst keineswegs bergab, wie zu vermuten gewesen wäre. Nein, es ging steil bergauf. Die Ausläufer des Hasselkopfes mussten überwunden werden. Erst nach Überqueren eines großen Holzlagerplatzes konnte ich das Rad rollen lassen. Die Schotterstrecke war glatt und prima in Schuss. An einem Parkplatz sah ich ein Hinweisschild „Kartoffeldenkmal“. Es handelte sich um einen Gedenkstein für Johann Georg von Langen, der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts südlich von Braunlage den Kartoffelanbau im Harz einführte. Mir stand jedoch nicht der Sinn nach Denkmälern, ich wollte radeln. Ich rollte weiter den Weg hinab und erreichte nach kurzer Zeit den ehemaligen Bahnhof Brunnenbachsmühle. Hier zweigte früher die Verbindung zur Harzquerbahn ab. Jetzt steht auf dem Gelände ein viel genutztes und beliebtes Jugendwaldheim. Hier war auch leider der Radweg auf der ehemaligen Bahntrasse zu Ende. Ich wechselte also auf die Straße. Schlecht war diese Alternative nicht: ich sah kaum ein Auto, der Asphalt war extrem glatt und eben – und ich fuhr wieder einmal durch dichten Wald. Aussicht gab es lediglich auf die sich über mir erhebenden Berghänge. Ich überquerte einen Bach mit dem kuriosen Namen Petersilienwasser auf einer Brücke, die ausgerechnet Polterbrücke hieß. Es erfolgte jedoch kein Poltern, ich fuhr fast lautlos hinüber. An einer Straßengabelung, bezeichnet als Nullpunkt, folgte ich weiter der alten Südharzstrecke und machte mich auf den Weg nach Wieda. Nach langem Fahren durch fast unberührte Natur war ich über das Städtchen überrascht. Kilometerweit erstreckte sich der Ort entlang des gleichnamigen Flusses, ebenfalls begleitet von der ehemaligen Eisenbahntrasse, die hier wieder zum Radweg ausgebaut war. Ich blieb allerdings auf der Straße – ich wollte mir Wieda ansehen. Nicht, dass die Stadt einen sehr reizvollen Eindruck machte. Vor 44 Jahren waren wir mit dem Bus hier durchgefahren, und ich hatte überhaupt keine Erinnerung daran. Es waren genau sieben Kilometer, die sich die Besiedlung hin zog. Die Bebauung konzentrierte sich ausschließlich auf die beiden Flussufer. Es war auch kein Wunder, zu steil stiegen die Berghänge rechts und links an. Leider war auch in Wieda das Zurückgehen des Tourismus deutlich zu merken: das große Hotel „Zur Grünen Tanne“ war offensichtlich seit langem geschlossen und zeigte deutliche Spuren des Verfalls. Vielleicht die Hälfte der Einzelhandelsgeschäfte lag dunkel und verschlossen da. Einen Supermarkt gab es ohnehin nicht in Wieda. Die nicht einmal 1.400 Einwohnen mussten entweder nach Walkenried, Bad Sachsa oder gar Braunlage fahren, um Großeinkäufe tätigen zu können. Dabei waren sie fast zwingend auf ein Auto angewiesen, weil die einzige Buslinie nur an Werktagen sporadisch verkehrte. Wie bereits erwähnt, gab es die Bahnlinie schon lange nicht mehr, die in Wieda immerhin vier Haltepunkte aufwies. Auch von der einstigen wirtschaftlichen Bedeutung für das Kloster Walkenried war nichts mehr zu spüren. Die Schmelzhütte hatte bereits im dreißigjährigen Krieg ihre Existenzberechtigung verloren. Das Gelände wurde später zur Produktion von Öfen genutzt, brannte aber in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts vollständig nieder. Jetzt war es ein Kurpark mit Tennishalle.

Letztendlich war ich froh, diesen etwas deprimierenden Ort wieder zu verlassen. Hinter dem Ortsausgang weitete sich das Tal der Wieda, und ich fuhr auf der westlichen Hangseite auf der schnurgeraden ehemaligen Bahntrasse weiter Richtung Walkenried. Hier gab es auch wieder landwirtschaftlich genutzte Flächen. Schwarzweiß gefleckte Kühe kauten auf grünen Wiesen wieder, ausgedehnte Maisfelder flankierten den Radweg, und die unvermeidlichen Kartoffelfelder strahlten mit ihren weißen Blüten. Walkenried selbst hatte ich viel größer in Erinnerung. Eigentlich war es lediglich ein kleines Dorf, das seine Bedeutung ausschließlich durch das Zisterzienserkloster aus dem 12. Jahrhundert erlangte. Die einzigartige Umgebung von Walkenried wird durch die Fischteiche geprägt, die die Mönche vor Jahrhunderten angelegt hatten. Heute sind allerdings nur 50 Teiche erhalten, von angeblich ursprünglichen 365. Angeblich wurde diese große Zahl angestrebt, um für einen jeden Tag des Jahres einen Teich zum Abfischen zu haben. Jetzt sah ich in Walkenried an jeder Ecke ein Hinweisschild auf das Kloster. Selbstverständlich wollte ich es heute besuchen. Über einen idyllischen Platz erreichte ich das Klostergelände. Sofort fiel die Klosterruine auf. Ich hatte dieses Gebäude aus der Kindheit noch als erhalten in Erinnerung, hatte mich in der Zwischenzeit über die Geschichte jedoch informiert. Als ich 1962 hier war, existierte die Ruine bereits mehrere Jahrhunderte. Ich machte mich auf die Suche nach dem in die Erinnerung eingebrannten Kreuzgang. Ich fand ihn nach erstaunlich kurzer Zeit. Das Prunkstück ist der nördliche Flügel, der sogenannte Lesegang. Er ist als doppelter Kreuzgang ausgebildet mit Pfeilern in der Achsenmitte, die die Kreuzrippengewölbe tragen. Ich stand am Anfang des Ganges und konnte es kaum fassen: genau so hatte ich dieses Schmuckstück gotischer Baukunst in Erinnerung. Es war mir, als wäre ich gerade einmal gestern hier gewesen. Ich bewunderte das Blätterwerk an den Kapitellen, die harmonische Gestaltung des Innenhofes, die Symmetrie der Kreuzbögen. Ich war unendlich froh, hierher gefahren zu sein. Ich konnte mir das Gefühl oder das Empfinden der Mönche vorstellen, die hier entlang gewandelt waren und in der Heiligen Schrift gelesen hatten. Heute bestand nicht die Gefahr, die Klosterbrüder in ihrer Versunkenheit zu stören. Das Kloster wurde bereits Mitte des 17. Jahrhunderts aufgelöst. Die wirtschaftliche Not dieser Gegend wird durch die Tatsache untermauert, dass das Klostergebäude für fast zwei Jahrhunderte als Steinbruch diente. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts bewirkten Pioniere des Denkmalschutzes, dass der weitere Abriss gestoppt wurde. Aus diesem Grunde war der heutige Tag ein Höhepunkt meiner diesjährigen Harzreise. Ich stand einfach nur am Anfang des Leseganges und konnte mich nicht satt sehen. Sehr langsam wandelte ich unter den Kreuzbögen entlang und freute mich einfach nur. Ich bin wirklich kein religiöser Mensch. Ich respektiere jedoch jedwede Religion und bewundere Sakralbauten, wenn sie auch teilweise der Einschüchterung dienten, wie als bestes Beispiel die mächtigen, gotischen Kathedralen mit ihren den Menschen zum armseligen Würstchen machen wollenden Portalen Zeugnis davon geben. Wie prächtig sind doch die islamischen Moscheen, wie beeindruckend die Riesenbuddhas von Bamyan (leider waren sie es ja nur), wie spaßvoll die Tempel von Bharatpur, wie zu Tränen rührend die Wieskirche oder die Klosterkirche von Ottobeuren, wie unfassbar die Tempel der Maya und die ägyptischen Pyramiden. Leider wird in der Geschichtsschreibung zu häufig behauptet, Papst soundso, Kaiser wasweißich, Fürst schießmichtot hätten bedeutende Bauten errichtet. Nichts haben sie gemacht – sie haben beauftragt, nichts weiter. Diese Gedanken hatte ich jedoch nicht im Kloster Walkenried. Wie gesagt, ich freute mich einfach nur.

Es war nicht ungewöhnlich, dass ich nach Verlassen des Klosters Hunger verspürte. Ich griff nicht auf meine Reserven zurück, sondern suchte in Walkenried ein kleines Café auf, um als zweites Frühstück in Kuchen und Torte zu schwelgen. Die junge Verkäuferin wunderte sich über die Menge von süßen Gebäck, das ich auf der Terrasse verzehrte. Sie dachte, ich wollte es für daheim für meine Familie haben. Nein, ich wollte es hier und jetzt.

Gut gestärkt fuhr ich weiter. Ich nahm nicht den direkten Weg nach Nordhausen, sondern fuhr ein Stück Richtung Norden, auf Zorge zu, um jedoch dann nach Osten abzubiegen. Ich wollte nicht mehr durch Wald fahren, der mir den weiten Ausblick verweigerte, ich wollte einmal richtig schauen können. Auf autofreier Straße radelte ich nach Ellrich. Nicht, dass die Strecke für Kraftfahrzeuge gesperrt war, nein, der Verkehr war einfach nicht existent! Ich rollte über eine waldfreie Fläche, konnte also weit hinauf in den Südharz blicken. Manchmal ist es eben schöner, sich außerhalb eines Gebietes zu befinden, weil es dann besser überblickt werden werden kann. Genau so ging es mir zwischen Walkenried und Ellrich. Dass während der Fahrt ein leichter Regen einsetzte, störte mich überhaupt nicht. Es war abzusehen, dass in kurzer Zeit wieder die Sonne scheinen würde. Ich fuhr einen kleinen Hang hinauf, um auf einer alten Holzbank einfach die Landschaft zu genießen. Meine Güte, hatte ich es gut! Ich konnte Urlaub machen, durfte meinen Lieblingsbeschäftigungen, dem Radfahren, Wandern, Lesen, Musik Hören und Schreiben nachgehen. Und dann konnte ich mich in die Sonne setzen und einfach das Leben genießen. Wie wunderbar.

Ellrich war dann ein kleines Dorf mir einer etwas düsteren Geschichte. Hier waren während der Nazizeit zwei Außenlager des Konzentrationslager Mittelbau Dora eingerichtet. Im Dorf selbst war davon nichts zu sehen, weil die Lager außerhalb des Ortes gelegen waren. Etwas überraschend war die Größe der St. Johannes-Kirche, die mir für die knapp 6.000 Einwohner völlig überdimensioniert schien. Durch enge und gewundene Dorfstraßen schlängelte ich mich wieder hinaus. Weiter radelte ich über die Ebene. Ich wollte doch endlich nach Nordhausen gelangen.

In Niedersachswerfen traf ich wieder auf die B4. Die langgestreckte Hauptstraße mit ein- oder zweistöckigen Wohnhäusern wirkte unbelebt. Wohnten hier überhaupt Menschen? Es schien jedenfalls so, denn an den Fenstern hingen gewaschene und geraffte Gardinen. Erst, als ich auf der Bundesstraße nach Süden abbog, hatte ich den Eindruck von Leben. Nicht wegen des des starken Verkehrs, nein, ich sah Gastronomiebetriebe und Geschäfte. Ich folgte allerdings nicht weiter der B4 – der Verkehr war mir doch zu stark -, sondern nahm den Radweg parallel zur Harzquerbahn. Oder soll ich sagen, der Straßenbahn von Nordhausen. Doch dazu komme ich später noch. Mich begleitete das Flüsschen Zorge. Noch war ich zwar nicht in Nordhausen, ich hatte aber bisher nicht den Eindruck, von Plattenbauten umgeben zu sein, wie mir über die Außenbezirke der Stadt berichtet wurde. Auch als ich mich der Innenstadt näherte, fielen mir zunächst die ausgedehnten Parkanlagen auf, die den Weg begleiteten. Ja, wo waren denn die Plattenbauten? Je näher ich dem Zentrum kam, um so mehr sah ich Wohnblocks, gebaut im Stil der dreißiger und vierziger Jahre, wie ich sie aus Hamburg kannte. Plattenbauten? Fehlanzeige! Was hatten die Leute mir denn erzählt? Auch, als ich das eigentliche Zentrum erreichte, wunderte ich mich nicht, eine keineswegs gesichtslose Stadt zu sehen. Obwohl Nordhausen im Zweiten Weltkrieg durch alliierte Luftangriffe zu 74 Prozent zerstört wurde und beim anschließenden Wiederaufbau in keiner Weise Rücksicht auf die historische Bausubstanz und die ursprüngliche Anlage der Stadt genommen wurde, hatte ich jedoch nicht den Eindruck eines seelenlosen Kunstprodukts. Zwar waren regelrecht neue Schneisen geschlagen worden, neue Häuserzeilen waren entstanden, die Menschen jedoch schienen die Gegebenheiten akzeptiert zu haben und lebten mit ihrer Stadt, weil sie eben da war. Und sie schienen das Beste daraus zu machen. In der Haupteinkaufsstraße, die vom Hauptbahnhof schnurstracks nach Norden führte, durften nur die Straßenbahn und Lieferfahrzeuge fahren. Die zahlreichen Menschen strebten kreuz und quer über die Fahrbahn, die nicht einmal von Bürgersteigen begrenzt wurde. Fußgänger- und Fahrzeugbereich gingen ineinander über. Die Führer der Straßenbahnen mussten heftig die Klingel betätigen, um sich freie Fahrt zu schaffen. Die vielen Straßencafés waren gut belegt. An einer Brücke über die Zorge, am Rande eines Parks, entdeckte ich einen Imbissstand. Der gehörte mir! Leider gab es keine Thüringer Knacker. Dafür stand auf der Karte „Thüringer Bratwurst“. Ich wunderte mich zunächst, bis mir bewusst wurde, dass ich mich ja tatsächlich in Thüringen befand und nicht mehr in Niedersachsen oder Sachsen-Anhalt. Also konnte ich ohne Bedenken ein solches Exemplar bestellen. Und ich wurde nicht enttäuscht. Sie schmeckte eben, wie eine Thüringer Bratwurst schmecken musste. Der dazu georderte Kaffee war genau so gut. Der Geschmack war gefiel mir so gut, dass ich mir eine zweite Wurst bestellte. Der über und über tätowierte Imbissheini sagte zu mir „Tja, solche Würste habt ihr nicht in Hamburg!“ Woher wusste er denn, dass ich aus Hamburg kam? Ich fragte ihn. Er hatte vor etlichen Jahren für längere Zeit bei Blohm & Voss auf der Werft gearbeitet, in Eimsbüttel gewohnt, dort seine spätere Frau kennengelernt und sich das Hamburger Idiom genau eingeprägt. Natürlich fragte ich ihn, warum er denn nicht in Hamburg geblieben wäre. „Liebst du denn deine Stadt?“. „Ja“. „Müssen wir weiter reden?“ Ich konnte ihm nur recht geben. Als ich bezahlte und mich verabschiedete, gab er mir einen bemerkenswerten Wunsch auf den Weg: „Wer auch immer möge dich beschützen!“ War er Agnostiker? Ich hatte doch kaum mit ihm geredet, er wusste doch nichts von mir. War ich denn nur deshalb sympathisch, weil ich seine Esswaren toll fand? Ich hatte jedenfalls das Gefühl, willkommen zu sein. Das reichte doch schon.

Ich wollte noch nicht aus Nordhausen heraus, ich wollte endlich die Plattenbauten sehen. Und was passierte mir? Ich geriet in die Altstadt. Ich fuhr durch enge mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen, teilweise erstaunlich steil. Ich sah keine Plattenbauten, ich sah den Dom zum Heiligen Kreuz mit seinen zwei Türmen. Die Stadt war zwar niemals Bischofssitz, nannte aber die Hauptkirche Dom. Vielleicht lag es daran, dass angeblich hier eine Reliquie aufbewahrt wurde, ein Splitter des Kreuzes, an dem Jesus angenagelt wurde. Es wurden in der Türkei auch Teile des Trojanischen Pferdes an Touristen verkauft, wie ich selbst feststellen konnte. Jedenfalls passte das Gebäude zum Ensemble des Zentrums von Nordhausen, es fügte sich harmonisch ein. Doch ich wollte allmählich weiter, hatte ich doch noch einen weiten Weg vor mir. Ich kreuzte ein wenig durch die Straßen von Nordhausen, ärgerte mich über die beiden Nachbildungen der riesigen Kornflaschen, die teilweise das Stadtbild beherrschten. Der Korn war eben ein wichtiger Wirtschaftsfaktor der Stadt am Südharz.

An einer Hauptstraße war eine Eisenbahnschranke geschlossen. Nicht, weil ein Zug auf der Durchfahrt war, nein, ein Güterzug wurde zusammen gestellt. Und weil die Rangiergleise über die Straße hinaus reichten, die kleine Diesellok emsig die Waggons hin und her schob, war für mindestens dreißig Minuten die Straße blockiert. Ich hatte keine Lust, länger zu warten und nahm einen kleinen Feldweg neben den Gleisen unter die Räder. Nach kurzer Zeit erreichte ich eine kleine Bahnstation einer meterspurigen Strecke. Ich schaute auf den Fahrplan. In zehn Minuten sollte ein Zug zur Alsfelder Talmühle kommen. Ich lehnte mein Rad an das Wartehäuschen und beschloss, den größten Teil des Rückweges mit der Bahn zurück zu legen. Ich setzte mich auf die Bank und dachte über Nordhausen und seine Geschichte nach. Als ich von Norden in die Stadt hinein fuhr, kam ich auch an der Gedenkstätte Mittelbau Dorau vorbei. Ich sah sie mir nicht an. Ich hatte unendlich viel darüber gelesen. Wenn ich dort hinein ging, wollte ich nicht im Schnelldurchlauf die Dinge, die dort ausgestellt waren, im Vorbeigehen wahrnehmen. Ich wollte mich dann wirklich mit dem Geschehenen beschäftigen. Allein – dafür hatte ich keine Zeit. Ich musste doch irgendwie wieder zurück nach Braunlage kommen. Deshalb saß ich jetzt auf dieser verlassenen Bahnstation. Pünktlich nach zehn Minuten kam tatsächlich der Zug. Der Zug? Es war ein einzelner, schaukelnder Dieseltriebwagen, der jeden Moment aus den Schienen zu kippen drohte. Die Straßenbahn von Nordhausen hatte eine Besonderheit: im Stadtgebiet wurde die Antriebsenergie aus Oberleitungen bezogen, während auf der Strecke nach Ilfeld und weiter zur Eisfelder Talmühle Dieselantrieb angesagt war. Es gab viele Hybridfahrzeuge der Nordhäuser Straßenbahn, die diese Strecke befuhren. Ich erwischte natürlich einen Dinosaurier. Ich ging nach vorn zum Lokomotivführer und erstand eine Fahrkarte nach Sorge. Ich musste gerade einmal vier Euro dafür entrichten! Selbstverständlich war auch für mein Fahrrad ausreichend Platz. Ich war nicht der einzige Fahrgast im Waggon. Eine Gruppe von Jugendlichen lümmelte sich im vorderen Bereich herum und frotzelte mit dem Zugführer. „Digger, Alder, weissu, eyh Alder, Digger, Boh Eyh, hassu sehn, weissu, krass, oh Mann!“ Krass, oh Mann!

In Niedersachswerfen stieg die Gruppe aus dem Wagen. Jetzt war ich tatsächlich der einzige Fahrgast. In erholsamer Ruhe konnte ich die Landschaft betrachten, die langsam an mir vorbei zog. Wirklich langsam. Der betagte Motor brachte das schwerfällige Gerät auf eine Geschwindigkeit von höchstens dreißig Kilometern in der Stunde. Eine schnellere Fahrt hätte mich auch bedenklich gestimmt. Dafür kippte mir der Wagen viel zu sehr von einer Seite auf die andere. Auch so hatte ich in manchen Momenten die Befürchtung, gleich von den Schienen zu poltern. Eine Spurweite von 1.000 Millimetern erlaubte zwar enge Kurvenradien, war jedoch einer stabilen Fahrweise nicht förderlich. So schaukelte ich zunächst noch weiter durch recht flaches Gebiet nach Ilfeld. Der Ort ist nicht so groß, dass unbedingt eine Straßenbahnlinie bis hierher eingerichtet werden musste. In der ehemaligen Klosterschule befindet sich jedoch ein bedeutendes Krankenhauses des Südharzes, die Neanderklinik Harzwald. Allein schon wegen der vielen Beschäftigten dieser Einrichtung, die hauptsächlich in Nordhausen wohnten, lohnte sich der Straßenbahnbetrieb. Jetzt war es auch wieder vorbei mit dem relativ flachen Land. Die Bere, ein Zufluss der Zorge, hatte sich ein tief eingeschnittenes Tal in den Südharz gegraben. Parallel zur B4, sie auch manches Mal kreuzend, stieg die Bahnstrecke bergan. Dichter Waldbestand reichte bis an den Talgrund. Ein romantisch gelegenes Waldbad fast direkt neben der Trasse war von vielen Badegästen besucht.

Nach vielen Kurven erreichten wir den nächsten Halt. Es war kaum ein Bahnhof, es war mehr eine Waldgaststätte mit einem Gleiskörper mit dem schönen Namen Netzkater. Einen Bahnsteig gab es nicht. Jetzt wurde die Fahrt wirklich wildromantisch. Die Strecke war in den steilen Hang geschlagen und führte stetig bergauf. Ich fragte mich, ob das asthmatische Gefährt, in dem ich saß, wirklich diese Steigung bewältigen würde. Die Passagierschaukel schaffte es und rollte schließlich in den Bahnhof Eisfelder Talmühle ein. Die Bezeichnung hat nichts mit einem der Kälte ausgesetzten Tal zu tun. Ein Carl-Heinz Eisfeld erbaute hier Mitte des 19. Jahrhunderts eine Schrotmühle, mehr nicht. Bedeutung hat der Bahnhof lediglich durch die Tatsache, dass sich hier die Strecke teilte. Der nördliche Zweig führt nach Wernigerode, der nordöstliche über Stiege nach Gernrode am Ostrand des Harzes. Als ich im Bahnhof eintraf. Standen zwei mit Dampflokomotiven bespannte Personenzüge zur Abfahrt bereit. Auf einem weiteren Gleis wurde gerade ein Güterzug zusammengestellt, der das Material aus dem nahen Steinbruch Unterberg nach Nordhausen bringen sollte. Hier war eine Diesellok das Zugfahrzeug. Ich stieg in den Zug nach Wernigerode um und musste dabei mein Rad in einen angehängten Güterwaggon laden. Der Zugbegleiter fragte mich, wo ich denn aussteigen wollte. Er wollte in Sorge dann die Tür des Wagens öffnen und mir beim Ausladen helfen.

Auf der Fahrt zur Eisfelder Talmühle hatte ich mir Gedanken gemacht, wie denn die Harzquerbahn in aller Welt profitabel arbeiten sollte, wenn das Fahrgastaufkommen dermaßen gering war. Ich musste mir keine Sorgen machen: die altertümlichen Waggons des Dampfzuges waren gut belegt. Vorn und hinten hatte jeder Wagen eine überdachte Plattform, von der die Aussicht selbstverständlich erheblich besser war als aus dem inneren Fahrgastraum. So war es auch kein Wunder, dass sich die Passagiere auf diesen Plätzen drängten. Es war auch etwas besonderes zu sehen: die beiden Züge setzten sich gleichzeitig und parallel in Bewegung. Etliche hundert Meter fuhren die Lokomotiven dicht nebeneinander, dabei dichte Dampfwolken ausstoßend und immer schneller werdend. Unser Gleis beschrieb eine Linkskurve, der Zug überquerte die Bundesstraße, und ich verlor die Bahn nach Stiege aus den Augen. Jetzt musste sich unsere Lokomotive mächtig anstrengen. Die Strecke wurde noch steiler und kurvenreicher. Mit erstaunlich hoher Geschwindigkeit wackelten die Waggons durch die Kehren. Ich hatte den Eindruck, dass die wackere Lok den Berg nur mit dem nötigen Schwung schaffen konnte – sie musste dieses Tempo aufnehmen, um nicht an den steilsten Stellen einfach kraftlos stehen zu bleiben. Dazu fauchte es in schnellem Rhythmus aus dem Schornstein und den Ventilen der Antriebszylinder. Weißblaue Rauchschwaden verteilten sich in den Baumwipfeln.

Ein Schild huschte vorbei. „Tiefenbachmühle“. Es war tatsächlich ein Haltepunkt. Kein Stationsgebäude, kein Bahnsteig, keine irgendwie gearteten Bahneinrichtungen wiesen darauf hin. Es gab einfach nur das Schild auf einer kleinen Waldlichtung. Der Zug verringerte nicht einmal die Geschwindigkeit. Begleitete uns bisher noch die Bundesstraße nach Stiege auf der rechten Seite, die im Übrigen höchst wenig befahren war, änderte sich dieses abrupt hinter der Tiefenbachmühle. Ein scharfer Linksschwenk, und wir waren nur noch von dichtem Wald umgeben. Und immer noch ging es bergauf. Die Baumstämme und auch teilweise der Fels waren auf der Hangseite mit den Händen zu greifen. So manches mal zogen die Fahrgäste auf den Plattformen die Köpfe erschrocken zurück, wenn ein Stamm all zu dicht vorbei sauste. Viele hatten auch nicht den Blick für ihre Umgebung. Sie konnten auch nicht darauf achten, weil sie die Okulare ihrer Videokameras und Fotoapparate fest an die Augen gepresst hatten. Wieder sah ich fast nur in den Augenwinkeln ein weiteres Schild: „Sophienhof“. Wieder ratterten wir ohne Halt daran vorbei. Zwei ältere Frauen in zünftiger Wanderkleidung liefen aufgeregt zum Zugbegleiter und riefen „Hier wollten wir raus! Wir wollten hier doch raus!“ In aller Ruhe zog der Bahnbedienstete sein Handy aus der Tasche und klingelte den Lokomotivführer an mit der Bitte, doch nach Sophienhof zurück zu fahren. Der Zug hielt und setzte zurück, bis er an dem erwähnten Schild zum Halten kam. Auch hier war nicht die Spur von Bahnanlagen zu sehen, wie sie sonst an Bahnhöfen und Haltepunkten vorhanden sind. Die beiden Frauen stiegen aus und verschwanden auf einem von Norden die Schienen kreuzenden Wanderweg im Wald. Ich fragte den Schaffner, was das denn hier für eine Station sei. Etwa einen Kilometer südlich lag eine kleine Ansammlung von Häusern, unter anderem auch ein beliebter Gasthof und Hotel. Für die Besucher dieser Stätte gab es diese Station. Ruckartig setzte sich der Zug wieder in Bewegung und gewann schnell an Fahrt. Fast hatte ich den Eindruck, dass der Lokführer die überraschende Verzögerung wieder einholen wollte.

Es folgte eine schier endlose Fahrt durch die Wälder des Südharzes. Die Strecke war jetzt nicht mehr so steil, und der Zug nahm ordentlich Geschwindigkeit auf. Ich hatte das Gefühl, durch einen grünen Tunnel zu rasen. Erst bei Erreichen der Rappbode wichen die Bäume zurück und wir fuhren auf die Hochebene von Benneckenstein. Langsam dampfte der Zug durch die ersten Häuser und hielt schließlich an dem mir schon bekannten Bahnhof. Hier gab es Bahnsteige, Nebengleise, Signalanlagen, Weichen, Bahnhofsgebäude, Lagerschuppen, Verladerampen – und einen schlechten Imbiss. Nicht ein Mensch stieg ein oder aus. Weiter ging es in weitem, weiten Bogen nach Sorge. Schon weit vor dem Dorf sah ich auf der rechten Seite den Waldweg, den ich vor einigen Tagen in entgegengesetzter Richtung gefahren war. Es kam mir endlos lange her vor. Im liebevoll gestalteten und gepflegten Bahnhof von Sorge stieg ich aus und ging zum Gepäckwagen. Der Zugbegleiter hatte bereits die Schiebetür geöffnet und reichte mir mein Rad entgegen. „Komm gut nach Haus!“ rief er mir noch nach. Das wollte ich wohl. Ich nahm die Bundesstraße unter die Räder, folgte wieder der Warmen Bode zur Weißen Brücke und war bald in Braunlage. Jetzt stand ich vor der Frage: Essen gehen oder kochen? Ich machte es anders. Ich holte mir bei Puppe am Brunnen ein frisches Hexenbrot und noch einige Wurstspezialitäten und machte mir auf dem Balkon ein zünftiges Abendbrot. Die Sprungschanze auf dem Wurmberg wurde von den letzten Strahlen der Abendsonne beleuchtet.

Den Stieg Larsson las ich in Rekordzeit zu Ende.

 

XII. Quedlinburg und Selketal

Ich stand heute sehr früh auf, frühstückte und packte eine große Picknickportion zusammen. Ich hatte eine Gewalttour vor mir, das wusste ich. Ich donnerte die Bismarckstraße hinunter, bog im Zentrum Richtung Elend ab und kämpfte mich aus Braunlage heraus. Ich wollte nach Elend und weiter nach Drei Annen Hohne. Und dann immer weiter, immer weiter...

Ich war die B27 vor etwa dreizehn Jahren aus Richtung Wernigerode kommend gefahren und hatte mich über den erschreckend holprigen, schlechten, von vielen Wurzeln und Steinen durchsetzten Radweg geärgert, der mich schließlich auf die Straße getrieben hatte. Und jetzt? Ein breites, glattes Asphaltband wand sich abseits der Fahrbahn zwischen den Bäumen hindurch. Der Nachteil bestand darin, dass der Radweg dem Geländeverlauf folgte und nicht wie die Straße auf den Kuppen eingeschnitten und in den Senken aufgeschüttet war. Also stärkere Steigungen und Gefälle. So manches Mal musste ich in den kleinsten Gang schalten. Es war jedoch die helle Freude, in vielen Kurven abwärts zu rasen. Teilweise hatte ich dann das Gefühl eines Slalomlaufes. Es waren jedoch keine flexiblen Stangen, sondern standfeste Baumstämme zu umkurven. Ein wenig Vorsicht war also angebracht. Der Weg führte mich tüchtig bergauf und bergab. Um das bereits in Sachsen-Anhalt liegende Hochmoor zu schützen, war eigens für die Radfahrer ein mehrere hundert Meter langer aufgestelzter Bohlenweg angelegt worden, der beim Befahren ein dumpfes Dröhnen hören ließ. Durch die Bretterfugen konnte ich das schwarz schimmernde Wasser erkennen.

Sachsen-Anhalt? Ja, ich befand mich bereits in der ehemaligen DDR. An der Brücke über die Bremke, dem damaligen Grenzbach der beiden deutschen Staaten, jetzt zweier Bundesländer, war ein kleines Ehrenmal errichtet, das mit seinem im unteren Bereich gespaltenen Felsbrocken an die Teilung gemahnte. Flussabwärts sah ich noch Teile des ehemaligen Kolonnenweges der DDR-Grenztruppen mit den typischen mit Aussparungen versehenen Betonplatten. Ansonsten sah ich bis kurz vor Elend ausschließlich dichten Wald, nur manchmal durchbrochen durch kreuzende Forstwege. An einem dieser Wege stand ein typischer Harzer Wandererunterstand, daneben eine große Gulaschkanone. „Kukkis Erbsensuppe“. Ich verspürte bereits wieder Appetit. Aber nein, noch wollte ich nichts essen. Ich wusste, dass Kukki auch am Bahnhof Drei Annen-Hohne einen Verkaufsstand hatte. Dort wollte ich mich hinsetzen, mir seine Köstlichkeiten schmecken lassen und den Eisenbahnbetrieb anschauen. Ein wenig Eisenbahnbetrieb bekam ich bereits auf der Bundesstraße mit. Kurz vor Elend lichtete sich der Wald, und ich konnte einen flachen Wiesenhang hinab schauen. Weiter unten am Waldrand dampfte ein Personenzug dem Ort entgegen. Ich sauste die abschüssige Straße nach Elend hinunter und fuhr unter der alten Eisenbahnbrücke hindurch, während der alte Zug über mich hinweg rollte.

Das Dörfchen Elend mit seinen nicht einmal 500 Einwohnern hatte ich in recht armseliger Erinnerung. Düster wirkende Fassaden, abbröckelnde Farbe, verwitterte Holzverkleidungen an den Balkons, dunkle Fensterhöhlen wie Zahnlücken, leer stehende Geschäfte und Gastronomiebetriebe hatten fast den Eindruck einer Geisterstadt vermittelt. Und heute, dreizehn Jahre später? Frisch angestrichene Häuser, herausgeputzt wie zur Hochzeitsfeier, überall Blumen auf Banketten und neuen Mittelstreifen, großzügige Grünanlagen, offensichtlich prosperierende Restaurants und Cafés, ein renoviertes Waldbad, ein nagelneuer Kreisverkehr im Zentrum des Ortes (weiß der Geier wofür), das wieder eröffnete Bahnhofsrestaurant mit Terrasse zu den Gleisen. Es ging im Harz also nicht überall bergab. Waren früher die Holzverarbeitung und ein Hüttenwerk die Grundlagen der Wirtschaft, ist es heute allein der Tourismus – und Kukki, der Erbsensuppenmacher. Immerhin beschäftigt er bereits zehn Mitarbeiter. Der Ortsname Elend hat übrigens nichts mit einer Eigenschaft des Dorfes zu tun. Der Name tauchte zuerst im frühen 17. Jahrhundert in einer Vogteirechnung des Amtes Elbingerode auf. Die Einnahme hatte nämlich eine Vorgeschichte: das Geld stammte von einem Sägewerk, das Bäume verarbeitete, die zum Elend des Forstes gefällt worden waren. Ja, war denn der damalige Kanzleischreiber ein Grüner? Als Flurbezeichnung wurde nach einer Geschichtsschreibung bereits zwanzig Jahre vorher der Name „unter dem elendischen Wege“ genannt.

Nun aber genug der ollen Kamellen. Ich strampelte die steile Bahnhofsstraße bergan, überquerte die Gleise – ja, es waren deren zwei – und bog sofort in einen Waldweg ein. Die Straße nach Drei Annen-Hohne kannte ich bereits. Ich fand sie nicht sonderlich reizvoll. Deshalb also die Variante durch den Wald. Sofort wurde ich mit einer der größten Exportartikel des Harzes konfrontiert. Rechts und links erhoben sich mehrere Meter hohe Stapel von gefällten Stämmen. Leider hatten die Fahrzeuge, die der Holzwirtschaft dienten, den Naturweg teilweise in eine Kraterlandschaft verwandelt. Es war nicht leicht, in den tiefen Furchen das Gleichgewicht zu halten. Es fiel mir auf, dass hier die Bäume nicht selektiv gefällt, sondern gleich ganze Lichtungen in den Wald geschlagen wurden. Auch die Stümpfe waren gerodet. Diese Bereiche sahen aus wie eine Sandwüste. Aber ich wusste: in zehn, zwanzig Jahren würden auch hier wieder Bäume wachsen. An einer solchen Lichtung kreuzten die Gleise der Harzquerbahn den Weg. Wie verbogen und ausgeschlagen waren denn die Gleise? Es wunderte mich, dass die Züge mit einer solchen Geschwindigkeit darüber fuhren, ohne ernsthaften Schaden zu erleiden. Ich machte nämlich an diesem Bahnübergang (Bahnübergang? Gleise über den Weg!) eine längere Pause. Ich wollte unbedingt eine Bahn vorbei fahren sehen. Meine Geduld wurde belohnt. Schon von Weitem kündigte sich der Express an. Ein langgezogenes, gellendes Pfeifen erfüllte den Wald. Die Bahnübergänge waren selbstverständlich nicht mit Schranken ausgerüstet, auch Signalanlagen fehlten. Die Lokführer mussten also akustisch auf sich aufmerksam machen. Dieses Pfeifen der Dampflokomotiven war ein typisches Geräusch im gesamten Ostharz. Und ich liebte dieses Geräusch. Sogar auf dem Balkon der Ferienwohnung konnte ich bei günstigem Wind die Signale der Brockenbahn hören.

Nach etlichen weiteren Windungen und einigen Steigungen erreichte ich kurz vor Drei Annen-Hohne wieder die Straße. Ich rollte am großen Hotel, den Bahnhofsanlagen vorbei und bog auf den großen Parkplatz ein. Denn dort war eine weitere Station von Kukki aufgebaut. Wieder ein typischer Unterstand mit etlichen Freiplätzen und der unvermeidlichen Gulaschkanone. Diesmal suchte ich mir einen freien Platz und bestellte mir eine Erbsensuppe mit Knacker. Thüringer Knacker. Sie schmeckte mir wie erwartet – einfach großartig. Ich hatte in meiner Reisebeschreibung von 1993 bereits diesen Geschmack beschrieben. Damals wusste ich noch nichts über Kukki. Jetzt schon. Kukki ist mit seiner Erbsensuppe groß heraus gekommen. Der ehemalige NVA-Grenzsoldat verdiente nach der Wende zunächst sein Geld damit, dass er DDR-Bürger in den Westen karrte, damit sie ihr Begrüßungsgeld abholen konnten. Gegen Provision, versteht sich. Als dann noch viele andere Leute auf diesen Trichter kamen und der Verdienst immer geringer wurde, sattelte er um. Er erwarb von einem ehemaligen Kameraden eine alte Gulaschkanone aus Heeresbeständen, kaufte in Supermärkten Erbsensuppe in Dosen und pries sie als hausgemacht an. Erstaunlicherweise hatte er damit Erfolg. So viel Erfolg, dass er beschloss, die Erbsensuppe tatsächlich selbst zu kochen. Dies gelang ihm so gut, dass seine Suppe ein regelrechter Verkaufsschlager wurde. So vergrößerte er sich nach und nach. Jetzt hat er bereits zehn Angestellte und vertreibt sogar seine Produkte weltweit über das Internet. Kukkis Erbsensuppe war aber nicht der Hauptgrund, warum ich in Drei Annen-Hohne einen Halt einlegte. Mich interessierte der Bahnbetrieb. Hier zweigte von der Harzquerbahn, also der Strecke zwischen Wernigerode und Nordhausen, die Brockenbahn ab. Teilweise gab es einen Pendelverkehr zwischen Drei Annen-Hohne und dem Brocken, teilweise starteten die Züge bereits in Wernigerode. Häufig standen drei von Dampflokomotiven gezogene Züge im Bahnhof: der Zug aus Wernigerode mit Weiterfahrt nach Nordhausen, der Pendelzug zum Brocken und der Gegenzug aus Nordhausen. Die Strecke von Wernigerode auf den Brocken war so lang und erforderte so viel Energie, dass die Loks hier im Bahnhof den Wasservorrat auffüllen mussten. Die Lokomotive wurde abgekuppelt und fuhr zu einer an einem Nebengleis stehenden altertümlichen Befüllungsanlage. Der schwarzeiserne Arm wurde über den Füllstutzen geschwenkt, und in mächtigen Stößen schoss das Wasser in den Kessel. Diese Prozedur nahm insgesamt ungefähr dreißig Minuten in Anspruch. Die wartenden Fahrgäste nutzten die Zeit, um ausgiebig zu fotografieren und zu filmen. Es lohnte sich ja auch. Die drei Züge waren natürlich die beliebtesten Motive. Das malerische Bahnhofsgebäude und die faszinierende Umgebung erhielten auch gebührende Aufmerksamkeit.

Meine Pause war vorbei. Ich war gesättigt und benötigte unbedingt Bewegung. Ich verließ Kukkis Küche und fuhr die Straße nach Elbingerode hinunter. Wieder stellte ich mit Freude fest, wie waldreich der Harz war. In einer Umfrage aus dem Jahr 2010, also vier Jahre nach der hier beschriebenen Tour, wurde er sogar zu beliebtesten Waldgebiet Deutschlands erklärt, noch vor dem Schwarzwald.

Das Radeln nach Elbingerode war wenig anstrengend, führte die Straße doch fast ausschließlich in vielen Kurven bergab. Ich hielt mich in der Stadt nicht auf, sondern nahm den Weg nach Rübeland unter die Räder. Zwischen den beiden Städten lag eine große Freifläche, die vom Kalkwerk im Nordwesten Rübelands beherrscht wurde. Auch hier passierte ich den Ort, ohne mich aufzuhalten. Ich hatte nur einen kurzen Blick auf das beeindruckende, vor sich hin rostende Viadukt der Rübelandbahn kurz hinter der Stadt. Darunter erkannte ich noch einige Fragmente einer ehemaligen Schmalspurbahn: von Gestrüpp überwucherte Gleise, einige Radsätze, kreuzweise hingeworfene Eichenschwellen. Hätte ich vorher genauer auf die Karte gesehen, hätte ich gewusst, dass ich nun zunächst tüchtig bergauf musste. So war ich einigermaßen überrascht, dass die Steigung überhaupt kein Ende zu nehmen schien.

Kurz vor Hüttenrode sah ich an der linken Straßenseite ein Schild „Blauer See“. Blauer See? Davon hatte ich im Harz noch nie etwas gehört. Ich war selbstverständlich neugierig und fuhr einen schmalen Sandweg entlang. Nach wenigen hundert Metern erreichte ich den See. Er war tatsächlich blau! Und erstaunlich klar. Einige Familien hatten es sich am Ufer bequem gemacht. Kinder badeten unter Gekreisch und Gelächter. Der See ist beim Anlegen der Bergbaugruben entstanden und verdankt seine leuchtend blaue Farbe dem hohen Kalkgehalt. Wie schön, dass es Informationstafeln gibt. Ich fuhr weiter und durchquerte Hüttenrode, eine für mich reizlose Ortschaft. Sie hatten den einzigen Vorteil, dass hier die Abfahrt nach Blankenburg begann. In weiten und engen Schwingungen sauste ich bergab. Jetzt gab auch wieder dichten Wald. Ich freute mich schon auf Blankenburg. Ich hatte allmählich einen Bärenhunger und wollte in der Stadt etwas essen. Ich erreichte das Zentrum auf einer großen Ausfallstraße. Schnell machte ich den Marktplatz aus. Blankenburg gefiel mir zunächst außerordentlich gut. Das auf einer Bergkuppe stehende Schloss war das beherrschende Gebäude. Dort wollte ich jedoch nicht hinauf. Ich schlenderte durch die schmalen Gassen, bewunderte einige erstaunlich pompöse Villen und freute mich über historischen gut erhaltenen Bauten. Allmählich wurde meine Stimmung jedoch immer schlechter. Blankenburg war tot, einfach tot. Nicht nur, dass ich kaum einen Menschen auf den Straßen sah, nein die Cafés und Gaststätten waren geschlossen. Sie standen nicht leer, waren nicht aufgegeben worden, nein, die Öffnungszeiten passten nicht zu meiner Anwesenheitszeit. Und wenn tatsächlich einmal ein Restaurant geöffnet war, saß niemand darin. Das wollte ich dann auch nicht. Mit knurrendem Magen verließ ich die Stadt. Ich wollte dann in Thale etwas essen.

Ich wollte nicht die Hauptstraße nach Thale nehmen. Ich stieg eine steile Nebenstraße hinauf und fuhr auf einer Kreisstraße weiter, die den Namen Knüppelpfad verdient hatte. Sie war zwar asphaltiert, war jedoch von einer unübersehbaren Zahl von Schlaglöchern gespickt. Wenn sie denn einmal geflickt waren, dann auf höchst rustikale Weise. Einen großen Klacks Reparaturasphalt ins Loch geschmissen, einmal drauf gekloppt – und fertig. Es war genau so erschütternd, über die ausgebesserten Löcher zu fahren wie über die unbehandelten. Die Straße hatte jedoch ein Gutes. Ich fuhr am Rande der Teufelsmauer entlang. Ich hatte den Namen auf meiner Karte gelesen und konnte damit nichts anfangen. Ich befand mich doch eigentlich im Harzvorland. Hier konnte es doch keine Felsformationen geben, die einen solchen Namen rechtfertigten. Doch, es gab sie. Die Teufelsmauer ist ein etwa zwanzig Kilometer langes Gebilde, das sich zwischen Blankenburg und Ballenstedt dahin zieht. Sie besteht aus sehr hartem Sandstein, deren Schichten beim Heben des Harzes in aufrechte Stellung gekippt wurden. Die anschließende Erosion des umliegenden, weicheren Gesteins ließ die Teufelsmauer wir künstlich hingesetzt hervor treten. Zurück weichende Gletscher und andere Naturereignisse hatten die Mauer an etlichen Stellen durchbrochen. Es ist also keine durchgehende Formation, sondern sie tritt einzeln zu Tage, was ihr noch mehr Fremdartigkeit verleiht. Aus der Ferne betrachtet wirkt die Teufelsmauer noch erheblich bizarrer als direkt unter ihr. Ich konnte es nämlich anschließend in der Nähe von Thale sehen. Zunächst jedoch fuhr ich weiter diese schreckliche Straße hinunter. Zum Glück ging es leicht bergab, also war wenigstens das Fahren selbst nicht anstrengend. Das den Kratern auf der Fahrbahn Auszuweichen war es schon. Weil ich mich noch in höherer Lage bewegte, hatte ich einen wunderbaren Blick zum Harz hinüber, sah genau den Einschnitt vom Bodetal und die schluchtartige Einbuchtung bei Gernrode. Dort wollte ich wieder in den Harz hinein, durch das Selketal zurück nach Braunlage.

Erst galt es jedoch, den quälenden Hunger zu stillen. Ich rollte nach Thale hinein, diesmal nicht aus dem Bodetal kommend, sondern von der entgegengesetzten Seite. Dadurch kam ich in den zweifelhaften Genuss, das neu gestaltete Stadtzentrum kennen zu lernen. Ein moderner Rathausbau, baumlose Freiflächen, Steine und Beton. Nein, das war nicht nach meinem Geschmack. Ich fuhr weiter zum Bahnhof, wollte aber nicht wieder türkisch essen und bewegte mich weiter durch Thale. Ich gelangte an die Talstation der Seilbahn zum Hexentanzplatz. Du meine Güte, herrschte dort ein Trubel! Kioske, Imbissbuden, Andenkenläden, Eisstände, sogar ein großes Selbstbedienungsrestaurant gab es auf dem weiten Platz. Im Restaurant waren heute Rindsrouladen mit Rosenkohl und Salzkartoffeln die Attraktion. Na, das war doch etwas für mich! Ich holte mir eine Portion an der Theke und setzte mich im Freien an einen Tisch unter einer alten Kastanie. Welche Enttäuschung erlebte ich! Die Rouladen völlig zerfasert, nüchtern und nur halbwarm. Die Gewürzgurke fehlte vollständig. Das Gemüse war wässrig, leicht bitter und bar jeglichen sonstigen Geschmacks. Und zu allem Überdruss hatten die Kartoffeln vom langen Liegen eine zähe Haut. Welchen Hunger ich hatte, war daran zu ermessen, dass ich die Portion zu drei Vierteln auf aß. Den Rest musste ich aber wirklich zurück gehen lassen. Die Servicefrau schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, als ich das Tablett in den Geschirrwagen schob. Mochte sie doch denken, was sie wollte. Ich suchte mir einen Bratwurststand und bestellte erst einmal eine dicke Krakauer. Im Gegensatz zu dem eben erhaltenen Fraß ein regelrechter Genuss! Um aus Thale heraus zu gelangen, musste ich wieder an der Talstation vorbei. Ich mag keine Seilbahnen. Ich finde, dass sie die Natur verschandeln und somit nicht in die Landschaft gehören. Ich weiß, dass mein Urteil höchst subjektiv und undifferenziert ist. Habe ich den je ein schlechtes Wort über die Schmalspurbahnen im Harz verloren? Selbstverständlich sind sie genau so wenig ein Teil der Natur wie die Lifte. Ich stehe jedoch zu meiner einseitigen Meinung.

Hinter Thale folgte ich zunächst dem Radweg R1, dem mit dem Hexensymbol. Auf halber Höhe zwischen Bergen und Tal gelegen, erlaubte er weite Aussichten Richtung Nordosten, nach Quedlinburg und sogar Halberstadt. Die schroffen Formationen der Teufelsmauer zeichneten sich klar gegen den blauen Himmel ab. Auf einem kleinen Wirtschaftsweg verließ ich den Harzer Radrundweg. Ich strebte Quedlinburg zu. Ich war sehr gespannt, wie sich die Stadt in den dreizehn Jahren, die seit meinem letzten Besuch vergangen waren, verändert hatte. Als ich 1993 bei meiner ersten Reise mit Zelt und Rad durch Quedlinburg fuhr, war ich teils fasziniert, teils erschrocken. Fasziniert darüber, welch unsagbar großen Bestand diese Stadt an historischen Fachwerkhäusern hatte. Erschrocken darüber, wie weit diese Gebäude dem Verfall preisgegeben waren. Später las ich, dass in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts die DDR den Fachwerkbestand, also die historische Altstadt, vollständig abreißen und durch weite Plätze und Plattenbauten ersetzen wollte. Es waren keineswegs verantwortungsvolle Köpfe in leitenden Gremien, die diesen brachialen Plan verhinderten. Nein, es fehlte der DDR ganz einfach das nötige Geld, um dieses Verbrechen durchzuführen. Im Nachhinein war ich nur froh, dass es der DDR zu damaligen Zeiten wirtschaftlich so schlecht ging. Was wäre der Welt verloren gegangen! Ein Jahr nach meinem damaligen Besuch wurde Quedlinburg von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt, und es erfolgte eine umfassende Sanierung der historischen Bausubstanz. Schließlich hat die Stadt mehr Fachwerkhäuser als Wernigerode und Halberstadt zusammen! Mit vor Staunen offen stehendem Mund schob ich mein Rad durch die engen, verwinkelten Gassen. Von den kleinen Plätzen der Altstadt hatte ich immer wieder einen Blick auf den Schlossberg mit dem hoch gelegenen Schloss und der zweitürmigen romanischen Stiftskirche. Immer wieder blieb ich vor einem der prächtigen Häuser stehen, um den reichhaltigen Zierrat und die Ausgewogenheit des Baues zu bewundern. Aber es gab ja nicht nur Fachwerkhäuser in Quedlinburg, es gab die Reste der alten Stadtbefestigung mit den teilweise erhaltenen Wehrtürmen, das Schloss, die Stiftskirche, die weiteren gotischen Kirchen, den Quedlinburger Domschatz, die Lionel-Feiniger-Galerie, das Modellbahn- und Spielzeugmuseum und, und, und... Leider musste ich mich auf einen einstündigen Besuch Quedlinburgs beschränken. Ich hatte noch eine sehr weite Rückfahrt vor mir. Ich wollte möglichst nicht im Dunkeln heimkehren. Bevor ich die Stadt verließ, schaute ich noch beim Bahnhof vorbei. Ich musste doch noch eine Thüringer Bratwurst essen! Gab es den Stand noch, an dem es mir vor dreizehn Jahren so gut geschmeckt hatte? Nein, es gab ihn nicht mehr. Er war einer Laden- und Gaststättenzeile moderner Art gewichen. Aber die Thüringer schmeckte mir trotzdem. Der Bahnhof von Quedlinburg wies eine Besonderheit auf: als vor zwei Jahren die Deutsche Bahn AG die regelspurige Bahnstrecke nach Gernrode stillgelegt hatte, ergriffen die Harzer Schmalspurbahnen kurzerhand die Initiative, erwarben die Trasse, bauten sie auf Meterspur um und verlängerten die Selketalbahn über Gernrode hinaus nach Quedlinburg. Diese Maßnahme war ein voller Erfolg. Zuvor mussten Fahrgäste, die die Selketalbahn benutzen wollten und mit der Bahn anreisten, sowohl in Quedlinburg als auch in Gernrode umsteigen. Jetzt war die Anfahrt erheblich bequemer.

Ich wollte jetzt schnell wieder in den Harz zurück. Ich benutzte keine ausgewiesenen Radrouten, sondern fuhr auf der Hauptstraße in Richtung Gernrode. Ich hatte Glück: es herrschte kaum Verkehr, und ein kräftiger Rückenwind schob mich an. War bis Gernrode die Strecke noch recht flach, begannen bereits dort im Stadtgebiet die Steigungen, und das nicht zu knapp! Häufig musste ich in den kleinsten Gang schalten. Auch hinter Gernrode ging es zunächst in Serpentinen weiter tüchtig bergauf. Die Abschnitte waren glücklicherweise recht kurz und daher nicht so quälend wie lange gerade Steigungen. Auch nachdem ich die Harzhöhen erklommen hatte, konnte von entspanntem Radeln keine Rede sein. Sehr hügelig ging es weiter. Wenn ich sage, dass es nicht entspannt war, sollte dieses keine negative Wertung sein. Im Gegenteil – die Fahrt war unglaublich faszinierend! Wieder diese abwechslungsreichen Mischwälder, vereinzelt sogar einige Bergweiden. Ich fühlte mich zwar nicht in die Alpen versetzt, hatte aber ähnliche Empfindungen. An einer großen sich weit hinauf ziehenden Lichtung kreuzte die Selketalbahn die Straße. Ein kleiner Haltepunkt war hier eingerichtet. Von weitem hörte ich schon das Stampfen und Schnaufen einer bergwärts fahrenden Lokomotive. Ich stellte mein Rad an einem kleinen Parkplatz ab und harrte der Dinge. Eine sehr alt aussehende Mallet-Lokomotive zog immerhin acht altertümliche Waggons und noch einen Güterwagen. Diese Lokomotivenart ist gerade auf Bergstrecken mit engen Kurvenradien von Vorteil. Sie besitzt zwei voneinander getrennte Fahrwerke. Das hintere ist fester Bestandteil des Lokomotivrahmens, währende das vordere drehbar gelagert ist und dadurch die Zugmaschine besser durch scharfe Kurven leitet als ein einzelnes großes Fahrwerk. Weil niemand auf dem mit Gras überwachsenen Bahnsteig stand und wohl auch niemand aussteigen wollte, fuhr der Zug durch den Bahnhof durch. Die Maschine hatte mächtig zu kämpfen, die Steigung am schrägen Hang empor zu kommen. Viele Menschen standen auf den Plattformen und fotografierten, was das Zeug hielt. Ich schaute auf meine Karte: die nächste Station, sie hieß Mägdesprung, lag nur ungefähr drei Kilometer entfernt. Dort wollte auch ich in den Zug steigen und nach Hasselfelde fahren. Immerhin hatte ich bereits fast einhundert Kilometer hinter mir und fühlte mich schon leicht erschöpft. Ich stieg wieder in den Sattel und fuhr weiter. Schon nach fünfhundert Metern hielt ich wieder an. Ich hatte das Sternhaus erreicht. Wie der Name zeigt, zweigten an dieser Stelle sternförmig acht Wege und kleine Straßen ab, die zwar jetzt nur als Wanderwege von Bedeutung waren, in früheren Zeiten jedoch durchaus Bedeutung für die Forstwirtschaft und das Jagdwesen hatten. Am Ausgangspunkt dieser Wege stand das erwähnte Sternhaus, früher eine Forstmeisterei, jetzt ein einladendes Gasthaus mit großem Garten und Tischen unter alten schattigen Bäumen. Ich konnte nicht widerstehen, mir stand der Sinn nach Kuchen. Ich setzte mich unter die ausladenden Äste einer alten Eiche und bestellte mir zwei Stück Streusel-Apfelkuchen mit Sahne. Und einen Becher Kaffee. Köstlich, köstlich. Gut gestärkt fuhr ich weiter. Es dauerte nicht lange, und ich erreichte die B185 von Ballenstedt. Jetzt wurde der Verkehr ein wenig dichter. Wieder kreuzten die Schienen die Fahrbahn, und noch einmal. Ich rollte auf den Bahnhof von Mägdesprung. Hier erreichte ich auch endlich das Selketal. Die Selke floss keineswegs durch Gernrode, sie verließ den Harz wesentlich weiter östlich. Ich schaute auf den Fahrplan, der bei der angeschlossenen Gaststätte hing. Der letzte Zug nach Hasselfelde war genau der, den ich am Haltepunkt Wellbach hatte vorbei fahren sehen. Also hatte ich keine Chance mehr, die Fahrradfahrt abzukürzen. Ich musste demgemäß aus eigener Kraft nach Braunlage zurück.

Ich wusste ja nicht, dass sich die Anstrengung so lohnte! Diese Straße das Selketal hinauf war einfach überwältigend! Hinter dem Bahnhof Mägdesprung verschwand die Bahnlinie zunächst im Wald, um nach kurzer Zeit sich wieder mit der Straße zu vereinigen. In sehr engen Windungen folgte ich dem Lauf der Selke. Am gegenüber liegenden Ufer war in wahrhaft abenteuerlichen Kurven und Steilstücken die Selketalbahn trassiert. Zwischen den dicht stehenden Bäumen konnte ich am anderen Ufer eine kleine Haltestation mit dem urigen Namen Drahtzug erkennen. Auf einer kleinen Hügelkuppe, die sich wie eine Landzunge in den Fluss hinein schob, war ein idyllischer Rastplatz erbaut. Vom dazu gehörigen, steinernen Grillofen stiegen verführerische Düfte in meine Nase. Eine vielköpfige Familie hatte es sich dort gemütlich gemacht. Die sich anschließende Einhundertachtzig-Grad-Kehre ließ mich die Szenerie auch noch von der anderen Seite betrachten.

Kurz vor Alexisbad bedeutete mir ein rotes Blinklicht zu halten. Die Schienen überquerten wieder die Straße, und ein Triebwagen, noch älter als der in Nordhausen, schaukelte mit beängstigenden Seitwärtsbewegungen auf mich zu. Mit einem schrillen Kreischen neigte er sich in die Kurve und kreuzte die Fahrbahn. Ein gleichmütiger Lokführer schaute gelassen aus dem Seitenfenster. Im Bahnhof von Alexisbad wartete ein abfahrbereiter Dampfzug. Leider war es kein Zug nach Hasselfelde, sondern nach Harzgerode, und das hätte mich noch weiter von meinem Ziel entfernt. In dem Moment, indem ich am Bahnsteig entlang radelte, hob der Bahnhofswärter die grüne Kelle, und der Zug setzte sich fauchend in Bewegung. Er fuhr noch ungefähr zweihundert Meter geradeaus, ehe er in einer scharfen Linkskurve im Wald verschwand. Die umfangreichen Bahnhofsanlagen waren für den Ort ungewöhnlich. Schließlich hatte er nicht einmal fünfzig ständige Einwohner. In grauer Vorzeit, als auch Carl Maria von Weber hier zur Kur weilte und Karl Friedrich Schinkel für die Gestaltung des Kurortes verantwortlich zeichnete, war Alexisbad ein beliebtes und belebtes Ziel für Erholungssuchende. Sogar ein Spielkasino existierte eine Zeit lang. Jetzt lebt das Dorf ausschließlich vom Tourismus. Einige Kuranlagen sind erhalten geblieben und werden als Hotels und Gaststätten genutzt. Alexisbad versprühte den abbröckelnden Charme einer längst vergangenen wilhelminischen Epoche.

Hinter Alexisbad verließ ich die Bundesstraße und bog auf eine wenig befahrene Landstraße ein. Die Bahnlinie schlängelte sich auf der anderen Seite des Flusses entlang. Das Tal war jetzt nicht mehr so schroff wie noch vor Alexisbad. Dem entsprechend waren auch die Steigungen erheblich flacher. Es kam mir sehr zu Gute, denn meine Kraftreserven näherten sich dem Ende. Ich passierte eine ehemalige Schneidemühle, von der jedoch nur noch Fundamentreste zu sehen waren. Den richtigen Verfall sah ich aber kurz vor der Ortschaft Silberhütte. Das Dorf verdankt seinen Namen der ehemaligen Silberhütte aus dem 17. Jahrhundert, die zwischen den beiden Weltkriegen stillgelegt wurde und nun dem totalen Niedergang preisgegeben ist. Die Fabrikationshallen waren größtenteils eingestürzt, aus den zertrümmerten Dächern wucherten Unkraut und Baumstämme. Überall auf dem Gelände lagen verrostete Maschinenteile herum. Es war ein deprimierender Anblick. Und dann die Überraschung: Ein moderner Zaun mit Natodraht auf der Krone, eine Schrankenanlage in strahlendem Weiß und Rot, ein Pförtnerhäuschen mit einer lebendigen Kreatur darin. Dieser Teil des Werkes war nicht stillgelegt und wurde instand gehalten. Hier wurden Feuerwerkskörper produziert. Warum die schrecklich aussehende Brache dann nicht wenigstens platt gemacht wurde, war mir ein Rätsel. Ach ja, ich vergaß das Geld... Die Ortschaft selbst war uninteressant, lediglich ein „Forsterlebnispark“ am Bahnhof wirkte interessant. Es war jedoch schon spät, und wollte endlich wieder nach Hause kommen. Die Straße wurde jetzt noch enger und kurvenreicher. Auf der anderen Flussseite folgte auch die Bahntrasse den engen Windungen der Selke. Hier zeigte sich der Vorteil einer Schmalspurbahn. Ein Zug auf Regelspur hätte niemals diese geringen Radien bewältigen können. Kurz nach Verlassen von Silberhütte fuhr ich an einer ehemaligen Sägemühle vorbei, die sogar noch ein Anschlussgleis der Selketalbahn besaß. Es wurde natürlich nicht mehr genutzt. Auch diese Mühle war längst stillgelegt und gammelte vor sich hin. Nach einem viertelstündigen Radeln durch dichten Wald, bei dem ich keiner Menschenseele begegnete, tauchten wieder Häuser auf. Ich hatte Straßberg erreicht. Ich war sehr über den ausgesprochen aufgeräumten Eindruck des Ortes überrascht. Die Gebäude waren gut erhalten und renoviert, die Vorgärten gepflegt und voller Blumen. Auf einem freien Platz stand noch eine gut erhaltene Mauer mit großen Torbögen, die einmal zum hier ansässigen Hüttenwerk gehörte. Die fast quadratische Kirche mit in Fachwerkbauweise errichteten Turm war ein wahres Schmuckstück. Auch der Bahnhof, der sich am Dorfausgang befand, glänzte durch Instandhaltung. Hier verließ ich nun die Straße und fuhr auf einem gut zu befahrenden Schotterweg weiter. Auf meiner rechten Seite zogen sich ein gutes Stück weit langgestreckte, parzellierte Gärten hin, die an eine Kleingartenanlage erinnerten. Es schien sich jedoch um gewerblich genutzte Felder zu handeln.

An einem Rastplatz für Wanderer fand ich den Nachbau eines Kohlenmeilers, der als Unterstand diente. Eine Hinweistafel machte auf die Tradition der Holzkohleherstellung im Unterharz aufmerksam. Es war klar, dass der Meiler an einem Fluss errichtet worden war, Wie sollte er früher sonst gelöscht werden? Schade nur, dass der Unterstand von gedankenlosen Wanderern als Mülldeponie missbraucht wurde. Ich fuhr auf dem sanft ansteigenden Waldweg weiter. Rechts begleitete mich wieder dichter Wald. Auf der anderen Flussseite sah ich zwischen den Bäumen zuweilen die Schienen der Selketalbahn im Sonnenlicht blinken. Ich erreichte einen kleinen Stauweiher, den Elbingstalteich, der früher als Energiequelle für den im Harz allgegenwärtigen Bergbau diente. Durch die dicht stehenden Bäume am Ufer wirkte das Wasser fast schwarz. Zwei alte Männer mit einem kleinen Kuppelzelt hielten schweigend ihre Angelruten ins Wasser. Auf meinen Gruß hin erntete ich nicht einmal ein Kopfnicken.

Der Wald lichtete sich allmählich, das Tal wurde breiter. Die ersten Häuser von Güntersberge tauchten auf. Die Besiedelung war noch sehr spärlich. Dieses änderte sich schlagartig, als ich wieder die Bundesstraße erreichte und den Waldweg verließ. Längs einer mörderisch steilen Dorfstraße standen ein- und zweistöckige Wohnhäuser dicht an dicht. Es waren die typischen Harzhäuser mit den schindelverkleideten Wetterseiten. Der Anstieg wurde noch dadurch erschwert, dass die Fahrbahn eine einzige Baustelle war und ich auf einen sehr holprigen Gehweg ausweichen musste. Erst oben an der Kirche hatte das Gestampfe ein Ende. Ich war dann völlig überrascht, am Ausgang des Dorfes auf einen Bergsee zu treffen, der lebhaft von Badenden bevölkert wurde. Während ich am Wasser entlang radelte, dampfte auf der anderen Wasserseite ein Zug zu Tal. Das war wohl der Zug, den ich in Mägdesprung verpasst hatte und jetzt auf dem Rückweg nach Quedlinburg war. Ich war sehr froh darüber, dass die Straße jetzt einigermaßen eben verlief. Mir taten bereits von der Anstrengung die Beine weh. Einige Steigungen musste ich dennoch erklimmen. Hinter einer solchen tat sich eine weite Hochfläche auf, die Wüstung Selkenfelde. Hier hatte ich auch endlich wieder einmal einen Blick auf Wurmberg und Brocken, die noch unendlich weit fern schienen. Ich freute mich auf Stiege, denn von weitem sah ich schon den See unter mir liegen. Endlich wieder einmal ein unangestrengtes Rollen! Obwohl der Ort lediglich knapp über eintausend Einwohner hat, wirkte er doch weitaus belebter. Sogar ein Eiscafé gab es – den Blick auf das gegenüber liegende Jagdschloss inbegriffen. Mir kam eine Pause gerade recht. Ich setzte mich auf die sonnenbeschienene Terrasse und gönnte mir einen großen Erdbeerbecher mit Sahne. Das Eis und die Früchte waren sehr gut, nur die Sahne kam wieder einmal aus einer dieser modernen Maschinen. Ich war eben nicht in Tanne.

Kurz hinter Stiege vereinigte sich die Bundesstraße mit der Straße aus Friedrichsbrunn. Ich fuhr also jetzt auf bekannten Wegen. Über Hasselfelde, Trautenstein, Tanne (am Eiscafé fuhr ich vorüber) und Sorge erreichte ich den Schotterweg im Tal der Warmen Bode, passierte die Weiße Brücke und kam im letzten Büchsenlicht vor der Wohnung an. Ich war völlig erschöpft und hundemüde. Schließlich hatte ich weit mehr als 150 Kilometer hinter mir. Dennoch kochte ich mir noch eine große Portion Spaghetti Bolognese mit einer derart scharfen Sauce, dass am nächsten Tag den Kanalarbeitern die Augen gebrannt haben mussten. Schade nur, dass ich noch nicht den zweiten Band von Stieg Larsson beginnen konnte. Als ich in Braunlage ankam, war der Buchladen längst geschlossen.

 

XIII. Und noch einmal der Brocken

Heute wollte ich auf keinen Fall ein Fahrrad anfassen. Die gestrige Tour hatte mich einfach fertig gemacht. Ich frühstückte früh, rüstete den Rucksack mit ausreichend Picknickvorrat aus und nahm, nachdem ich Punkt neun Uhr mein Buch abgeholt hatte, den Bus nach Wernigerode. Ich wollte wieder einmal auf den Brocken. Diesmal jedoch nicht auf eigenen Sohlen, sondern mit der Harzer Schmalspurbahn. Der Bus brachte mich direkt zum Bahnhof Westerntor, ich kaufte eine Fahrkarte. Stolze achtzehn Euro durfte ich dafür berappen! Dieser Preis galt von sämtlichen Bahnhöfen der Harzer Schmalspurbahnen mit dem Ziel Brocken, gleichgültig, wie weit der Zusteigepunkt vom Ziel entfernt war. Die Fahrt auf den Brocken kostete also stets achtzehn Euro, ob von Quedlinburg als weitest entfernter Bahnhof oder von Schierke als nächstgelegener. Ich hielt mich heute also nicht lange in Wernigerode auf. Ich wollte der Stadt in den nächsten Tagen einen umfangreicheren Besuch abstatten. Bis zur Abfahrt des Zuges hatte ich noch etwas Zeit und verbrachte sie mit einem zweiten Frühstück im glücklicherweise bereits geöffneten Bahnhofscafé. Ich musste am Vortag erhebliche Energie verbraucht haben. Als sich der trotz der frühen Stunde gut gefüllte Zug in Bewegung setzte, war ich sehr gespannt auf die Fahrt. Selbstverständlich saß ich nicht in einem der Waggons, sondern stand der besseren Aussicht wegen auf einer der offenen Plattformen. Zunächst dampften wir langsam durch das sich kilometerweit hinziehende Hasserode, bis die Gleise in den Wald schwenkten und die Steigung begann. In kurvenreicher Strecke schleppte die Lokomotive die immerhin zehn Waggons aufwärts. Teilweise waren die Kurven so eng, dass ich von meinem an der Zugspitze befindlichen Standpunkt fast gegenüber die letzten Wagen erblicken konnte. Die erste Station außerhalb Wernigerodes war Steinerne Renne. In dieser Gegend hatte ich mich vor dreizehn Jahren mit einer völlig ungeeigneten Übersetzung den Schotterweg hinauf gekämpft, nicht wissend, ob ich überhaupt mein Ziel, damals Elbingerode, erreichen würde. Jetzt war es natürlich deutlich einfacher. Die Steinerne Renne ist ein kaskadenförmiger Wasserfall der Holtemme, der sich über mehrere hundert Meter in unzähligen Stromschnellen entlang zieht. Was Wunder, dass dort seit langem auch ein viel besuchtes Gasthaus und Hotel entstand. Ich stieg jedoch nicht aus, sondern genoss weiter die Fahrt. Genau wie bei der Harzquerbahn von Nordhausen hatte ich den Eindruck, dass die Lokomotive ordentlich Schwung holen musste, um die Steigungen bewältigen zu können. Langsam arbeiteten wir uns am Hang des Berges höher. Dabei hatte ich eine tolle Aussicht auf die Dächer von Wernigerode, deren farbliche Vielfalt Hermann Löns zum Ausspruch verleitete: „Wernigerode – die bunte Stadt“. Nachdem wir in einen Tunnel – übrigens der einzige der Harzer Schmalspurbahnen – in einer scharfen Rechtskurve durchquert hatten, gab es keinen Blick mehr zurück ins Harzvorland. Wir näherten uns Drei Annen-Hohne. Mit einer letzten Anstrengung, schnaufte sich die Lok zum Bahnhof empor und fuhr direkt an Kukki´s Bude vorbei. Hier musste der Wasserkessel aufgefüllt werden. Ich wusste, dass diese Prozedur etwa dreißig Minuten in Anspruch nehmen würde. Reichte die Zeit, schnell zu Kukki zu eilen und eine Thüringer Knacker herunter zu schlingen? Ich probierte es: die Zeit war ausreichend. Erneut standen drei Züge auf den Gleisen. Unser Zug auf den Brocken, ein Schaukelwagen nach Nordhausen und ein weiterer Dampfzug nach Wernigerode. Im Triebwagen nach Süden saßen gerade einmal zwei Leute, während der Brockenzug in Drei Annen-Hohne noch einmal kräftigen Zulauf bekam. Wir verließen als Letzte den Bahnhof. Unter lautem Pfeifen setzte sich der Zug in Bewegung. Wir kreuzten die vielbefahrene Straße von Wernigerode nach Braunlage. Der unbeschrankte Bahnübergang erforderte diese Warnsignale.

Jetzt war die Aussicht durch die dicht stehenden Bäume sehr eingeschränkt. Dennoch war die Fahrt keineswegs uninteressant. Die Gleise führten nicht ein einziges Mal geradeaus. Die Trasse schlängelte sich geradezu durch den Wald. Erst am Bahnhof Schierke öffnete sich eine Lichtung. Der Ort selbst lag ein gutes Stück unterhalb des Bahngeländes und so war der Bahnhof ein beliebtes Ziel für eine kurze Wanderung oder einen ausgedehnten Spaziergang geworden. Die Bahnhofsgaststätte besaß eine große Terrasse, die gut belegt war. Von einem im Freien aufgestellten Grill drang der verlockende Geruch garender Bratwürste herüber. Hier war der Aufenthalt leider nur kurz bemessen, ich hatte also keine Zeit, mir eine der Köstlichkeiten zu holen. Anderenfalls hätte ich es tatsächlich getan! Die Frist reichte gerade, dass die Brockenbesucher den Zug entern konnten. Und der wurde jetzt wirklich voll. Aber ich hatte ja meinen Platz auf der Plattform, den ich tapfer verteidigte. Denn jetzt wurde die Fahrt noch interessanter. Nachdem wir wieder einmal einige Zeit durch den Wald gekurvt waren, wurde der Hang so steil, dass ich über die Baumwipfel hinweg Richtung Torfhaus und Bad Harzburg blicken konnte. Ein makellos blauer Himmel wölbte sich über den Bergen. Am Betriebsbahnhof Goetheweg dampften wir ohne Halt vorüber. Der Gegenzug stand bereits auf dem Abstellgleis. Der jetzt parallel zu den Gleisen verlaufende Neue Goetheweg war dicht von vielen Wanderern bevölkert. Die meisten strebten, wie schon beim vorherigen Mal beobachtet, zu Tal. Ein greller Pfiff, und wir überquerten die Brockenstraße. Der Zug vollführte jetzt eine vollständige 360°-Kurve, und der Baumbestand wurde immer lichter. Dabei waren wir doch nur knapp über eintausend Meter hoch! Das unwirtliche Klima und nicht zuletzt die Umweltverschmutzung hatten zu diesem Phänomen beigetragen. Für mich war natürlich von Vorteil, dass die Sicht nicht eingeschränkt war und ich vom Gipfel des Harzes in alle Richtungen blicken konnte.

Nachdem der Zug in den Bahnhof eingelaufen war, machte ich, dass ich fort kam. Ich hatte inzwischen genug von so vielen Menschen. Ich wanderte ein Stück die Brockenstraße hinunter, bog auf den Neuen Goetheweg ein, stolperte den steilen Plattenweg hinunter und machte erst beim Dreieckigen Pfahl Halt. Auch hier war der Rastplatz stark frequentiert. Ich setzte mich auf eine abseits gelegene Bank und zelebrierte ein ausgedehntes Picknick. Ich war noch keineswegs erschöpft – wovon auch?, - aber ich hatte einfach Lust auf eine leckere Vesper im Freien. Dazu gehörten selbstverständlich wieder heißer Tee, diverse Stullen mit verschiedenen Belägen, Tomaten und Zwiebeln. Diesmal hatte ich mir etwas Besonderes eingepackt: bei Puppe am Brunnen hatte ich vor einigen Tagen eine Art Braunschweiger Mettwurst mit Kümmel gekauft, die mir die Verkäuferin sehr ans Herz gelegt hatte. Dazu empfahl sie mir Birnensenf. Birnensenf! Hatte ich noch nie in meinem Leben gegessen. Ich hatte ein halbes Hexenbrot dabei, schnitt mir einige Scheiben ab, bestrich sie nicht zu knapp mit Butter, schmierte oder vielmehr drückte die Mettwurst darauf, versah das Ganze mit einer tüchtigen Portion Birnensenf und streute noch fein gehackte Zwiebeln darüber. Es war ein ungeheurer Genuss, in diese mächtige Schnitte zu beißen und die Geschmacksexplosion im Mund zu spüren. Anschließend brannte mir jedoch derartig der Gaumen, dass ich meinen gesamten Teevorrat zur Linderung verbrauchte. Ich beschloss daher, nicht nach Braunlage zu wandern, sondern den Weg nach Schierke einzuschlagen. Die Strecke war erheblich kürzer, und ich wusste, dass ich bald mörderischen Durst bekommen würde. Ich benutzte den Oberen Königsberger Weg, der auf ungefähr achthundert Metern Höhe fast genau den Höhenlinien folgte. So hatte ich fast bis Schierke den Wurmberg mit seiner markanten Sprungschanze vor Augen. Kurz vor dem Ort endete der Weg an der asphaltierten Brockenstraße. Glücklicherweise ist sie für den öffentlichen Verkehr gesperrt. So kamen mir lediglich wenige Versorgungsfahrzeuge, viele Radler und die bedauernswerten Kreaturen entgegen, die die Pferdefuhrwerke empor zerrten. Beim ersten Kiosk in Schierke kaufte ich mir eine Literflasche Mineralwasser, die ich fast in einem Zug leerte. Die Stadt machte einen viel lebendigeren Eindruck auf mich als Braunlage. Ich schlenderte ein wenig durch die Straßen. Genau wie St. Andreasberg gab eine Ober- und eine Unterstadt. Die meisten gastronomischen Einrichtungen lagen in der Oberstadt, weil dort auch die Straße von Wernigerode und Braunlage ankam. Jetzt merkte ich aber doch die Anstrengung des gestrigen Tages. Ich hatte keine Lust mehr, noch nach Braunlage zu wandern. Wegen der vielen Wanderer sind die Ortschaften im Harz gut durch viele Buslinien verbunden. Ich bestieg den nächsten Wagen nach Braunlage und war bereits am frühen Nachmittag wieder zurück. Das passte mir sehr gut, hatte ich doch am Vortag keine Energie mehr gehabt, mein Tagebuch zu führen. Dieses holte ich bei Kaffee und Kuchen in meinem Lieblingscafé nach. Die Bedienung fragte mich, ob ich denn einen Roman schriebe. Als ich ihr sagte, was ich dort tat, wollte sie unbedingt, dass ich es nicht nur im Tagebuch festhielt, sondern in irgend einer gedruckten Form ihr zukommen ließ. Ich konnte es ihr nicht versprechen.

Der Abend war wieder einmal wunderschön. Sitzend auf dem Balkon blickte ich auf den Wurmberg, war vom rustikalen Abendbrot gut gesättigt, hörte Beethovens Pastorale über Kopfhörer und las im zweiten Band der Trilogie von Stieg Larsson. Von der Musik bekam ich nicht viel mit, dafür nahm mich das Buch viel zu sehr gefangen.

 

XIV. Wernigerode und Ilsenburg

Der gestrige kurze Aufenthalt in Wernigerode hatte mir bereits so gut gefallen, dass ich heute wieder dort hin wollte. Aber nicht mit dem Bus, nein, ich fühlte mich so gut erholt, dass ich mit dem Rad dort hin fahren wollte. Heute verzichtete ich auf das Vorbereiten eines Picknicks, ich wollte mich unterwegs in Gaststätten und Imbissen verpflegen. Solche Gelegenheiten gab es ja ausreichend im Harz. Zu gewohnt früher Stunde verließ ich die Wohnung und nahm die Straße nach Wernigerode unter die Räder. Und ein Wunder geschah: in Drei Annen-Hohne fuhr ich an Kukki´s Imbiss vorbei! Ich folgte nicht weiter der Straße, sondern bog in einen Waldweg ein. Ich wollte einen ganz besonderen Aussichtspunkt besuchen. Auf glatten Wegen rollte ich in einem verwirrenden Zickzackkurs bergab, bis ich den Ottofelsen erreicht hatte. Das letzte Stück dort hin musste ich das Rad schieben, weil der Weg stark mit heraus ragenden Felsbuckeln übersät war. Am Ziel stellte ich mein Gefährt ab und machte mich an den Aufstieg. Na, ja, ein wirklicher Aufstieg war es nicht, es war lediglich das Besteigen einer Stahltreppe. Die war allerdings sechsunddreißig Meter hoch, eben so wie der Ottofelsen. Dieser freistehende Felsblock ist nach Otto von Stolberg-Wernigerode benannt. Warum, weiß der Geier. Als ich auf der Spitze stand, war ich reinweg begeistert! Ich konnte auf den Brocken blicken, sah Wernigerode unter mir liegen und erkannte weit im Harzvorland Halberstadt und Quedlinburg. Und dort sollte ich vorgestern mit dem Rad gewesen sein? Es war mir im Nachhinein kaum vorstellbar. Wieder hatte ich ein unglaubliches Glück mit dem Wetter. Der für Regen berüchtigte Harz zeigte sich während meiner Urlaubstage von seiner sonnigsten Seite. Ich musste eine halbe Stunde dort oben verweilen und die Aussicht genießen. Allmählich verspürte ich schon wieder Hunger. Ich hätte doch bei Kukki Halt machen sollen. Ich nahm den kürzesten Weg zur Straße nach Wernigerode und ließ mich einfach nur abwärts rollen. Allerdings trieb mich die lange Ausfallstraße in Hasserode fast zur Verzweiflung. Selten hatte ich eine asphaltierte Fahrbahn in einem solch katastrophalen Zustand erlebt. Ein Schlagloch reihte sich an das nächste, der Belag wies tiefe Risse und starke Verwerfungen auf, und an etlichen Stellen trat das alte Kopfsteinpflaster hervor. Ich musste höllisch aufpassen, um nicht Schiffbruch zu erleiden.

In Wernigerode stieg ich am Westerntor ab, denn ich wollte die Stadt genießen und nicht einfach hindurch radeln. Das Westerntor ist ein Teil der alten Stadtbefestigung und das größte Tor gewesen. In seiner steinernen Trutzigkeit war es noch heute sehr beeindruckend. Ich schob mein Rad hindurch und schlenderte die Straße Richtung Marktplatz und Rathaus entlang. Wie in Quedlinburg war ich von den vielen gut erhaltenen Fachwerkhäusern begeistert. Ich hatte die Stadt bereits kurz nach der Wende zum ersten Mal besucht. Schon damals war ein eklatanter Unterschied zu anderen historischen Stadtkernen der ehemaligen DDR zu erkennen. Wernigerode wurde vergleichsweise gut erhalten und in gewissem Rahmen gepflegt. Es war eben eine Vorzeigestadt. Ein Vorhaben wie in Quedlinburg, wo die historische Altstadt platt gemacht werden sollte, stand hier niemals zur Diskussion. Wie auch anderenorts üblich, hatten sich inzwischen viele Einzelhandelsgeschäfte wie Boutiquen, Buchhandlungen und Andenkenläden in den Erdgeschossen der Häuserzeilen breit gemacht. Aber hier gab es noch wenigstens Wohnbestand. Mit Sicherheit nicht so viel wie noch zur sozialistischen Zeit, aber immerhin, es gab ihn noch. Eine große, gut sortierte Buchhandlung kam mir gerade recht. Ich hatte gestern Abend das Buch von Stieg Larsson ausgelesen und benötigte unbedingt neuen Lesestoff. Ich stöberte ein wenig in den Regalen herum und fand einen tatsächlichen Schatz: „Travels with Charly“ von John Steinbeck in der Originalsprache. Ich hatte es als Jugendlicher in Englisch gelesen und war davon so angetan, dass ich mir auch die Deutsche Übersetzung gekauft hatte. Im Laufe der Jahre (Jahrzehnte!) hatte ich es mehrfach gelesen, die englische Version aber leider irgendwie verloren. Ich hatte mich nie bemüht, es neu zu kaufen. Und jetzt sah ich es per Zufall vor meinen Augen. Ich erstand das Buch sofort und freute mich schon auf die Leseabende auf dem Balkon.

Zum Marktplatz und Rathaus war es nur ein kurzes Stück. Ich lief zunächst daran vorbei, weil ich Hunger hatte und bei einem mir gut bekannten Schnellrestaurant etwas essen wollte. Einige hundert Meter weiter, am Rande eines großen Platzes, hatte ich mein Ziel erreicht. Das Restaurant mit Selbstbedienung und großer Terrasse hatte nicht nur die üblichen Speisen wie Bratwürste, Frikadellen und Hähnchen im Angebot, nein, es gab diverse Gerichte mit Bratkartoffeln als Beilage. Und diese Bratkartoffeln waren eine Wucht! Ich nahm heute Sauerfleisch dazu. Sauerfleisch mit Bratkartoffeln und Remoulade – das ist doch wie Filet Wellington. Während ich dort im Freien saß und aß, gingen zwei Glatzen draußen vorbei. Beide trugen sie schwarze T-Shirts mit dem Aufdruck „Störkraft“. Eine sehr verrufene, höchst rechtslastige Musikgruppe. Der eine stieß den anderen an, deutete mit dem Arm auf mich und sagte laut und vernehmlich „der schon wieder!“. Ich kannte die Beiden. Bei meinen früheren Besuchen in Wernigerode waren sie mir mehrfach über den Weg gelaufen, und ich war ihnen wegen meiner langen Haare, die ich damals zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, aufgefallen. Lange Haare – das hieß für solche Leute links. Und links war der Feind. Sie hatten mich stets mit bösen Blicken bedacht, ansonsten mir aber nichts getan. Warum musste ich ausgerechnet heute ihnen wieder begegnen? Zu meiner Erleichterung gingen sie weiter und nahmen offensichtlich nicht weiter Notiz von mir. Ich konnte also in Ruhe mein Mahl beenden und mich anschließend wieder der Stadt widmen. Ich schob mein Rad außerhalb der Touristenströme durch die engen, kopfsteingepflasterten Straßen. Hier gab es erheblich weniger Geschäfte als zuvor. Hier wurde einfach nur gewohnt. Doch, ein Geschäft gab es. An einem relativ großen Platz fand ich ein Fahrradgeschäft mit einer erstaunlichen Auswahl. Ich benötigte doch unbedingt einen neuen Fahrradcomputer. Mein alter zeigte nur noch Achten an. Es gab meinen bevorzugten Sigma Sport. Der Verkäufer bot mir sogar an, mir mit Werkzeugen und sogar mit tatkräftiger Mitarbeit bei der Montage zu helfen. Beides hatte ich nicht nötig. Sogar den für die korrekte Geschwindigkeitsanzeige erforderlichen Radumfang hatte ich noch im Kopf und konnte den Computer entsprechend einstellen.

Jetzt hatte ich Lust auf ein Eis. Ich hatte ein Café am Marktplatz in bester Erinnerung und trödelte langsam dort hin. Ich setzte mich unter einen ausladenden Sonnenschirm und bestellte – einen großen Erdbeerbecher. Er war noch wohlschmeckender als der in Stiege. Es lag nicht nur an der besser schmeckenden Schlagsahne. Es lag an den extrem saftigen Erdbeeren und unglaublich sahnigem Eis. Während ich dort saß und schlemmte, schaute ich mir das Rathaus, das wahre Schmuckstück von Wernigerode an. Dieses zu den schönsten Rathäusern Europas gehörende Gebäude stammt in den Fundamenten aus dem 13. Jahrhundert. Sie wurden unverändert übernommen, als der spätere Fachwerkbau darüber errichtet wurde. Das Eingangsportal ist noch original erhalten. Zum Ausgang des Mittelalters wurde zwei Türme vor die Fassade gesetzt, die im Bereich des alten Fundamentes und dem aufgesetzten Fachwerkbau wie überdimensionierte Pilaster wirken und erst in Höhe des zurück weichenden Daches als wirkliche Türme zu erkennen sind. Wie ein Schmuckband zieht sich am unteren Teil des Fachwerks eine Reihe von Andreaskreuzen hin. Die Kreuze dienen hier auch tatsächlich nur als optisches Element, weil sie separat in der Mitte des jeweiligen Faches liegen und nicht den Fachwerkrahmen stützen. Im Gegensatz zum einfarbigen Fundament sind auch die vorgesetzten Türme bis zum Boden in Fachwerkbauweise ausgeführt. Die Dach- und Geschossüberstände sind mit Figuren ornamentiert. Bisher war ich noch nie im Inneren des Gebäudes gewesen. Auch heute hatte ich es nicht vor. Es ist eine Eigenart von mir, mir zwar interessante Stätten auf meinen Reisen aufzusuchen und auch von außen zu betrachten, aber fast niemals sie wirklich kennen zu lernen. Es sei denn, es handelt sich um eine Modelleisenbahnanlage...

Nachdem ich den wirklich köstlichen Eisbecher geleert hatte, zog es mich weiter. Ich verließ Wernigerode über das Westerntor, schaute mir noch das kleinste Haus der Stadt an, zwei Meter fünfzig in der Breite und immerhin einschließlich Erd- und Dachgeschoss drei Stockwerke umfassend. In der Nähe des Hauptbahnhofes – Wernigerode besitzt tatsächlich einen Hauptbahnhof – hatten die Stadtväter einen futuristisch anmutenden Kreisel erbauen lassen, in dem auf mehreren Ebenen der Fußgänger- und Radverkehr oberhalb einer großen Kreuzung in die verschiedenen Richtungen geleitet wurde.

Mir stand der Sinn nach Ilsenburg. Weil ich möglichst schnell dort hin wollte, nahm ich diesmal die Straße. Wie in der Türkei zogen sich im Weichbild der Stadt Autowerkstätten, Supermärkte, Klempnereien und andere Handwerks- und Industriebetriebe hin. Das einzig Positive an dieser Strecke war die Tatsache, dass die Eisenbahnlinie zwischen Vienenburg und Halberstadt offensichtlich neu gebaut oder instand gesetzt wurde. Selbstverständlich machte es mir auch hier Spaß, einfach Rad zu fahren und immer nach links oben zu den Harzhöhen den Blick schweifen zu lassen. Ich war nur froh, dass mir ein breiter und glatter Radweg zur Verfügung stand, denn auf der Straße herrschte ein erstaunlich dichter Verkehr.

Kaum war ich aus den letzten Häusern von Wernigerode heraus, erreichte ich schon Darlingerode. Der Name hatte nichts mit Schätzchen zu tun. Die bereits seit dem frühen Mittelalter bestehende Ortschaft erfuhr im Laufe der Jahrhunderte mehrere Namensänderungen, bis der heutige sich festgesetzt hatte. Am Ortseingang fuhr ich am alten Friedhof vorbei, einer frühen Thingstätte. Jeder Stein entsprach dem Sitz eines Schöffen. Die kreisförmig gepflanzten gepflanzten Kastanien, die erst vor ungefähr 170 Jahren gesetzt wurden, ließen den Blick nach Osten, Richtung Sonnenaufgang frei. Vor Erscheinen der Sonne durfte keine Versammlung beginnen. Etwas weiter beeindruckte mich die mittelalterliche Laurentiuskirche in ihrer Schlichtheit und mit dem quadratischen Feldsteinturm. Darlingerode lag direkt am Rand des Hochharzes. Während ich nach rechts weit in das wellige Harzvorland blicken konnte, erhoben sich links unmittelbar die steilen Höhen des Gebirges. Es wunderte mich also nicht, dass bereits seit Beginn der Besiedelung hier Bergbau betrieben wurde. Davon zeugen einige alte Stollen in der Umgebung.

Es dauerte nicht lange, und ich erreichte Drübeck. Drübeck? Von diesem Ort hatte ich noch nie etwas gehört. Das Dorf erschien mir jedoch so idyllisch, dass ich von der Hauptstraße abbog und den gewundenen Dorfstraßen folgte. Ich war total überrascht, auf eine ausgedehnte Klosteranlage mit einem großen Park zu stoßen. Ich wunderte mich über die sehr große Klosterkirche, die mir für ein so kleines Dorf völlig überdimensioniert schien. Nach dem Studieren einer Informationstafel wusste ich mehr: Kloster Drübeck war ein ehemaliges, bedeutendes Benediktinerinnenkloster aus ottomanischer Zeit. Jetzt ist es eine Tagungsstätte der evangelischen Kirche. Das gesamte Ensemble machte einen äußerst gepflegten Eindruck. Daran änderte auch die Baustelle nichts, die am Rande des Geländes eingerichtet war. Hier wurde in archäologischer Kleinarbeit nach Fundamenten des Vorgängerbaus gesucht. Auch an dieser Stelle schaute ich mir die Sehenswürdigkeit nur von außen an. Und um eine Sehenswürdigkeit handelte es sich. Die Gartenanlage gehört zu dem Projekt „Gartenträume in Sachsen-Anhalt“. Das Kloster Drübeck gehört zur Straße der Romanik. Ich sage ja immer wieder: Fahrradfahren bildet.

Nun langte ich tatsächlich in Ilsenburg an. 1993 war ich bei meiner ersten Reise mit Rad und Zelt durch dieses Städtchen gekommen und hatte es gar nicht richtig wahrgenommen. Damals von Bad Harzburg kommend hatte ich nur mein Ziel Wernigerode vor Augen. Diesmal kam ich von der anderen Seite und war von der Stadt begeistert. Ich freute mich über die Harmonie der Häuserzeilen, die gepflegten Gebäude, das Fehlen eines touristischen Rummels. Obwohl ich nur wenige Menschen auf der Straße sah, wirkte Ilsenburg auf mich keineswegs tot. Ich spürte, dass es hier Leben gab, Menschen wohnten und arbeiteten. Jetzt war der Tourismus für die Stadt der bedeutendste wirtschaftliche Faktor. In früheren Zeiten sorgten eine Eisenhütte und ein Werk für Ofenplatten für den Wohlstand von Ilsenburg. Die Eisenhütte wurde sogar einmal vom vielschichtig interessierten Zar Peter dem Großen besucht. Er hätte bestimmt auch heutzutage seine Freude am zentral gelegenen Forellenteich gehabt, an dessen Ufer es sich vorzüglich sitzen und schauen ließ. Mir gegenüber stand das größte Hotel der Stadt, das mich an wilhelminische Zeiten denken ließ, obwohl es erheblich neueren Datums war. Ein Vielzahl von Wasservögeln bevölkerte das Wasser. Es fehlte auch das übliche Gezänk zwischen Enten und Blesshühnern nicht, während die Schwäne im Bewusstsein ihrer überlegenen Kraft lässig an den Streithähnen vorbei zogen. Auf dem Marktplatz mit dem historischen Gebäude der alten Apotheke fanden gerade die Vorbereitungen für das jährliche Stadtfest statt. Vielerorts wurde an hölzernen Ständen gehämmert und geschraubt. Auf einer abschüssigen Straße wurde sogar eine Bahn für ein Seifenkistenrennen eingerichtet. Ich hatte einmal das Vergnügen, in Otterndorf an der Elbe einem solchen Rennen zuzuschauen. Es war eine wahre Freude, den Kindern in ihrem verbissenen Eifer zuzusehen, wie sie voller Konzentration ihre selbstgebastelteten Kisten auf möglichst gerader Spur zu halten versuchten. Leider fand die Veranstaltung erst in zwei Tagen statt. Ich glaubte nicht, dann wieder in Ilsenburg zu sein.

Ich verließ das Städtchen über die Krugbrücke, einer aus großen Granitblöcken bestehenden Rundbrücke, die bereits über 250 Jahre alt war. Ich fuhr an der Klosterkirche vorbei, deren schräg ragende Stützmauer eine architektonische Besonderheit war. Das angeschlossene Schloss sah ich mir wie üblich nur von außen an.

Mein ursprüngliches Vorhaben war, nach Bad Harzburg zu fahren und anschließend über Torfhaus zurück nach Braunlage zu gelangen. Aber diesen Weg kannte ich doch schon! Also verließ ich die Stadt über das Ilsetal und folgte ein beträchtliches Stück dem Heinrich-Heine-Weg, einer der schönsten Routen hinauf zum Brocken. Es war keine Frage, dass es sofort tüchtig bergauf ging. Die breite Schotterstraße diente in den Sommermonaten sogar einer Busverbindung zur weit höher gelegenen Plessenburg. Aber so weit war ich noch nicht. Am Ilsestein folgte ich den Spuren Heinrich Heines und bestieg den 150 Meter über dem Tal liegenden Felsen. Es bot sich mir eine Traumaussicht auf das tief eingeschnittene Tal unter mir und den sich strahlend präsentierenden Brocken. Einen halben Kilometer weiter gab es einen weiteren markanten Aussichtspunkt, die Paternosterklippen. Diesmal ersparte ich mir den Aufstieg und fuhr den Weg weiter bergan. An einer Schutzhütte teilte sich der Weg. Nach rechts führte der Heinrich-Heine-Weg weiter, um über das Heinrich-Heine-Denkmal zum Brocken zu führen, links ging es zur Plessenburg. Auf meiner Karte war verzeichnet, dass es dort eine Gaststätte gab. Mein Magen drohte mir bereits mit vernehmlichem Knurren. Als ich dort an kam, entdeckte ich zunächst nur einen Bauernhof, der etwas versteckt im Wald lag. Es war eine typische Ansammlung von Gebäuden, wie sie eben für einen bäuerlichen Betrieb charakteristisch sind. Aber wo waren hier denn die Felder, die Weisen und Wiesen? Beim näheren Hinschauen bekam ich es heraus: hier wurde ausschließlich Forstwirtschaft betrieben. In einem großen, hölzernen Schuppen sah ich eine hohe Gattersäge mit fünf Sägeblättern, die dazu gehörige Rollbahn und eine Maschine zum Spalten von Scheiten. Ein umfangreicher Haufen von Holzspänen verbreitete einen betörenden Kiefergeruch. Hier war also nicht das Gasthaus. Hinter der nächsten Kurve lag es dann, ein wenig hinter alten Bäumen verborgen. Ich schob mein Rad an die Umfriedung und betrat die menschenleere Terrasse. Sollte heute geschlossen sein? Aber die Tische waren doch eingedeckt! Funkelndes Geschirr stand auf den rustikalen karierten Tischdecken. Nun, gut, ich setzte mich an den schönst platzierten Tisch. Es dauerte nur wenige Sekunden, und eine junge Kellnerin eilte mit einer Speise- und Getränkekarte im Quartformat herbei. Ich bestellte zunächst ein großes Mineralwasser – durch die Karte musste ich mich erst durchkämpfen. Das Angebot umfasste eine Vielzahl von Wildgerichten. Ich bin kein Freund von Wildfleisch, jedoch erinnerte ich mich plötzlich, dass ich als Jugendlicher in einer Waldgaststätte im Hamburger Klövensteen einen köstlich schmeckenden Wildschweinbraten gegessen hatte. Ich suchte in der Liste. Und tatsächlich gab es Wildschweinbraten. Wildschweinbraten mit Wirsinggemüse, grünen Bohnen und Kartoffelkroketten. Wunderbar! Die junge Frau legte mir als Vorsuppe eine Spezialität des Hauses, eine Spargelcrémesuppe vor. Ja, wollte sie mich denn mästen? Ich bestellte sie dennoch. Und ich wurde nicht enttäuscht. Weder von der Suppe noch vom Hauptgericht. Es war einfach wunderbar. Als Krönung des Mahles bestellte ich mir zum Abschluss eine Portion Erdbeeren mit Schlagsahne. Einen entsprechenden Eisbecher hatten sie nicht anzubieten. Danach benötigte ich unbedingt einen doppelten Espresso – und Bewegung oder eine Couch. Mangels Alternative entschied ich mich für die Bewegung.

Ich fuhr weiter den Weg Richtung Drei Annen-Hohne entlang. Kurz vor der Abzweigung zur Steinernen Renne lagen auf der Talseite der Piste riesige Felsblöcke herum, aus denen anscheinend Riesen Häuser gebaut hatten und anschließend die Bauklötze durch die Gegend gefeuert hatten. Ich kletterte auf einen der von der Sonne gewärmten Felsen und wurde wieder einmal durch einen Blick hinunter nach Wernigerode und das Harzvorland belohnt. Diese Route kannte ich jedoch schon, ich war sie bereits mehrfach gefahren. Daher bog ich beim Vitikopf nach rechts ab, nachdem ich kurz zuvor die Holtemme überquert hatte, und folgte ihrem Lauf. Jetzt ging es wieder wirklich steil bergauf. Bei einer halb eingestürzten Holzbrücke musste ich den Bach verlassen. Ich bin ja zu vielen Schandtaten bereit, aber über dieses Bauwerk traute ich mich wirklich nicht. Ich folgte dem immer noch extrem steilen Weg genau entgegengesetzt der Richtung, in die ich eigentlich wollte. Laut Karte musste ich oben auf eine Wegkreuzung mit dem Namen Stern treffen, die inmitten dichten Waldes liegen sollte. So verriet es mir jedenfalls die Karte. Ich traf tatsächlich auf den Stern, von dem einige Wanderwege in verschiedene Richtungen ab gingen. Von Wald konnte jedoch überhaupt keine Rede sein. Ich traf auf eine deprimierende Ansammlung von abgestorbenen und toten Bäumen. Die kahlen Stümpfe ragten wie Mahnmale in den Himmel. Der Anblick war noch schrecklicher als der am Brockenfeld, wo der saure Regen ebenfalls reiche Ernte gehalten hatte. Am Stern war es dann mit dem Kämpfen vorbei. Ich bewegte mich wieder in Richtung Drei Annen-Hohne, diesmal genau entlang der Achthundertmeter-Höhenlinie. Die extreme Hanglage bot überwältigende Aussichten, die mich immer wieder anhalten ließen. An der nächsten Wegkreuzung mit dem bezeichnenden Namen Spinne schlug ich nicht den direkten Weg zum Bahnhof ein, sondern machte einen kleinen Umweg über den Trudenstein. Diese Klippe bot ebenfalls eine hervorragende Aussicht auf den Gebirgszug zwischen Schierke und Braunlage. Schierke selbst war nicht zu sehen, dafür lag zu steil und zu tief unter mir. Es folgte eine halsbrecherische Abfahrt nach Drei Annen-Hohne. Früher wäre ich vielleicht ungebremst dort hinunter gerast. Aber das Alter und die Weisheit... Brav an den Bremshebeln zerrend bewältigte ich dennoch den Weg in erstaunlich kurzer Zeit. Und was machte ich am Bahnhof Drei Annen-Hohne? Richtig – eine Erbsensuppe mit Thüringer Knacker passten wieder in meinen Magen.

Die Rückfahrt über die Straße nach Braunlage gestaltete sich zur Routine. Nicht, dass ich das Radeln als langweilig empfand, dafür fahre ich viel zu gern mit dem Fahrrad. Und außerdem ist die Landschaft hier so schön, dass auch ein mehrmaliges Erleben den Genuss nicht trübt. Zurück in der Wohnung legte ich mich zunächst eine Stunde aufs Ohr, bevor ich mich an das Abendessen machte. Ich hatte vom Vortag noch gekochte Spaghetti übrig, die briet ich mir in der Pfanne, fügte drei Eier und Zwiebeln dazu und aß es mit dem billigen Tomatenketchup von Aldi. Hervorragend! Der anschließende Abend auf dem Balkon mit reichlich Tee, dem Führen des Tagebuchs und dem Genuss von John Steinbecks Reiseerzählung war ein würdiger Abschluss eines wirklich schönen Tages. Ich verzichtete sogar auf das Hören von Musik.

 

XV. Die Selketalbahn

Die Rückfahrt vor einigen Tagen zurück von Quedlinburg durch das Selketal hatte mich derartig fasziniert, dass ich dort unbedingt noch einmal hin wollte. Diesmal hatte ich jedoch vor, den Rückweg zum größten Teil mit der Bahn zurückzulegen, nämlich von Mägdesprung nach Hasselfelde. Auch heute verzichtete ich auf Picknickvorrat und vertraute den Versorgungsmöglichkeiten im Harz. Ich machte mich auf bekannten Routen auf den Weg. Die Warme Bode entlang, die Weiße Brücke, der Brockenblick, Sorge, Tanne und schließlich Trautenstein. Dort nahm ich nicht wieder die Bundesstraße unter die Räder, sondern folgte einem Wirtschaftsweg, der mich über die Höhen und ausschließlich zwischen Felder entlang führte. So hatte ich einen fantastischen Blick zurück auf Wurmberg und Brocken. Auch die Sicht voraus auf die Höhen des Unterharzes ließ keine Wünsche offen. In Hasselfelde war allerdings die Herrlichkeit vorbei. Ich musste wieder zurück auf die Straße. Aber weil ich Rückenwind hatte und der Weg zumeist bergab führte, war das Radfahren sehr entspannt. Mit Interesse betrachtete ich den Campingplatz auf halbem Weg nach Stiege, an dem ich bereits schon zwei Mal vorbei gekommen sein musste. Wieso war er mir denn noch nicht aufgefallen? Er lag in einem lichten Kieferhain auf der sonst recht kahlen Hochebene. Von den eigentlich versteckt liegenden Stellplätzen musste die Aussicht recht beeindruckend sein.

Diesmal aß ich kein Eis in Stiege, sondern ließ mich weiter die Straße hinab rollen. Die erste Pause machte ich tatsächlich erst in Güntersberge am Bergsee. Ich setzte mich auf eine Bank am Ufer und schaute einigermaßen fasziniert einem wohl sechsjährigen Mädchen zu, das sich in einem Reifenschlauch unter lautem Kreischen von einem Motorboot über den See ziehen ließ.

Hinter Güntersberge passierte mir auf dem Schotterweg ein Missgeschick. In Höhe des Meilernachbaus fuhr ich über einen auf dem Weg liegenden Ast. Er wirbelte hoch und verfing sich zwischen Schutzblech und Reifen des Vorderreifens. Dreißig Zentimeter des Plastikteils brachen ab, und die Streben waren total verbogen. Das Schutzblechteil konnte ich von den Streben lösen und im Papierkorb entsorgen, nicht aber die Streben an der Nabe loskriegen. Die Schrauben wollten einfach nicht so, wie ich wollte. Kurzerhand stopfte ich die vier freien Strebenenden in die hinteren Löcher des Lowriders. Die Konstruktion sah sehr technisch und interessant aus, erfüllte aber natürlich keinerlei Funktion. In der Folgezeit wurde ich nicht selten auf diese gebogenen Streben angesprochen. „So etwas habe ich ja noch nie gesehen! Wofür ist denn das?“ war die häufigste Frage. Selbstverständlich konnten sie es noch nie gesehen haben, schließlich war es ein Original. Für die Aufgabe dieses Produkts konnte ich auch so manche Antwort geben. Meine beliebteste war, dass bei einsetzendem Flattern der Gabel von den zusammengesteckten Metallstreben ein warnendes Klirren zu vernehmen wäre. Die Gabel an meinem Rad besaß ich seit 1993. Sie hat nicht ein einziges Mal geflattert. Auch nicht bei Geschwindigkeiten, die sich jenseits von achtzig Kilometern in der Stunde bewegten. Ein neues Schutzblech habe ich mir bis heute noch nicht zugelegt.

Welch Wunder! Die Bauarbeiten auf der Hauptstraße waren abgeschlossen. Ich konnte die Strecke auf schöner und neuer Asphaltdecke hinunter rasen. Die verfallenen Gebäude hinter Silberhütte nahm ich nur aus den Augenwinkeln wahr. Alexisbad sah mich nur vorbei rasen. Nach einer wirklich schwingenden Abfahrt nach Mägdesprung schwenkte ich mit Schmackes auf den Bahnhofsplatz ein. Ich hatte noch sehr viel Zeit, ehe mein Zug kam. Genau so hatte ich es auch geplant. Ich wollte nämlich im Bahnhofsrestaurant essen. Mit Interesse las ich auf der mit Kreide beschrifteten Schiefertafel das Angebot des Tages: Bauernfrühstück für zehn Euro und fünfundneunzig Cent. Das war wohl ausnehmend teuer! Ich bestellte es dennoch. Ich hoffte, für einen solchen Preis wirklich ein gutes Bauernfrühstück zu bekommen. Das erste, an das ich mich erinnern konnte, hatte ich in Kiel genossen. Mit meinen Eltern war ich mit einer kleinen Fähre über den Nord-Ostsee-Kanal übergesetzt, einen steilen Hangweg hinauf gegangen und in einem Gartenrestaurant dieses Gericht vorgesetzt bekommen. Ich weiß noch, dass ich restlos überwältigt war und trotz meines geschätzten Alters von sechs bis acht Jahren die Portion bis auf den letzten Krümel vertilgte. Seitdem habe ich sehr oft Bauernfrühstück gegessen und niemals eine solche Qualität gefunden. Meistens lag es daran, dass die Bratkartoffeln von einer Omelettehülle umwickelt waren, was sich einfach nicht gehört. In ein richtiges Bauernfrühstück gehört nicht ein Gran Mehl. Auch ich bin nicht in der Lage, ein vernünftiges Bauernfrühstück zu bereiten. Bei mir liegt es aber nicht daran, dass ich vielleicht nicht die richtigen Zutaten verwende, nein, ich kann einfach keine gescheiten Bratkartoffeln machen. Ich war also sehr gespannt, was mir dort vorgesetzt wurde. Beim Servieren brachte der Ober als erstes eine Entschuldigung vor. Na, das fing ja gut an. Es täte ihm leid, dass zum Bauernfrühstück keine einheimischen eingelegten Gewürzgurken gereicht werden konnten, sondern leider nur Spreewaldgurken. Das störte mich ja nun überhaupt nicht. Und die Gurken entpuppten sich dann auch noch als Knoblauchgurken! Ich war begeistert. Das Bauernfrühstück schmeckte mir so gut wie seit meiner Kindheit nicht mehr. Die Bratkartoffeln waren in genau der richtigen Menge mit Eiern vermengt, der Schinkenspeck (Schinkenspeck und nicht Supermarktwürfel oder sogar Kochschinken, wie ich es auch schon einmal erlebt hatte), und die Bratkartoffeln waren genau richtig, nicht ein Rand war angebrannt, niemals schmeckte ich Bitterstoffe. Nachdem ich meine Portion aufgegessen hatte, verlangte ich sofort, den Koch zu sprechen. Der Ober eilte aufgeregt ins Innere und kam mit einem korpulenten weißbeschürzten Mann wieder zurück. „Was war denn nicht in Ordnung?“ fragte der Koch. „Ich habe seit meiner Kindheit nicht mehr ein so exzellentes Bauernfrühstück gegessen“ erwiderte ich. Unter Dankesbezeugungen entfernte er sich wieder in die Küche. Natürlich gab ich auch ein großzügiges Trinkgeld. Der anschließende Kaffee ging allerdings auf Kosten des Hauses.

Während des Wartens auf das Essen sah ich einen Zug der Selketalbahn von Hasselfelde in den Bahnhof einlaufen. Unter lautem Kreischen kam die Dampflokomotive zum Stehen. Die Puffer der altertümlichen Waggons schepperten aneinander, als die Lok schon stand. Es konnte nicht der Zug sein, den ich besteigen wollte, denn dafür war die verbleibende Zeit zu kurz um ganz nach Quedlinburg und zurück zu gelangen. Es stieg eine erstaunlich große Zahl von Passagieren aus. Wo wollten die denn alle hin? Außer der Bahn fuhr doch hier nur eine selten verkehrende Buslinie. Dann wurde es mir klar: die meisten strebten einem auf der anderen Seite liegenden Parkplatz zu. Es waren offensichtlich reine Bahntouristen, die genau wie ich eine Fahrt mit dieser außergewöhnlichen Bahn genießen wollten, in ihrem Fall genossen hatten. Einigen älteren Herrschaften kostete es erhebliche Mühe, aus dem Waggon zu steigen. Der kleine Bahnhof wies zwar drei Gleise auf, jedoch keinen Bahnsteig. Es war teilweise die tatkräftige Unterstützung der korpulenten Zugbegleiterin erforderlich. Auf einem toten Gleis stand ein alter Güterwagen, der kurz vor dem Zusammenfallen stand. Die morschen Bretterwände wiesen gewaltige Lücken auf, das Dach war zu Hälfte eingestürzt, und eine Radachse war gebrochen. Die Räder standen in einem Winkel zueinander, der mich sofort an den alten Citroen 2 CV denken ließ. Ein baufälliger Lagerschuppen komplettierte das Ensemble. Dieser kleine Bahnhof wurde wohl zu früherer Zeit tatsächlich zum Güterumschlag genutzt.

Als mein Zug endlich einlief (ich hatte Zeit für mehrere Tassen Kaffee nach dem Essen und Gelegenheit zum Tagebuch Schreiben), sprang zu meiner Überraschung die Zugbegleiterin heraus, die ich schon im Gegenzug gesehen hatte. Sie half mir, mein Rad in den hochbordigen Güterwaggon zu hieven. Ich fragte sie, wieso sie denn auch in diesem Zug wäre. Ganz einfach, sie wohnte in Hasselfelde und musste schließlich an ihren Wohnort zurück. Daher hatte sie in Gernrode den Zug gewechselt. Als ich sagte, dass sie aus dem Zug sprang, meinte ich dieses auch so. Sie quälte sich nicht die Trittstufen hinunter, nein, sie hüpfte mit beeindruckender Eleganz und Gelenkigkeit von der hohen Kante des Wagens. Ich kaufte bei ihr die Fahrkarte und bezahlte genau wie der Fahrt von Nordhausen vier Euro.

Selbstverständlich stellte ich mich wieder auf die offene Plattform. Nach einer viertelstündigen Pause gab der Lokführer ein gellendes Zeichen, und der Zug kam ruckelnd in Bewegung. In einer scharfen Kurve verließen wir den Bahnhof und waren unmittelbar von dichtem Wald umgeben. Wo war denn die Selke? Wir fuhren wenige hundert Meter, und schon war der Fluss da. Ungefähr fünfzig Meter über dem Flussbett wand sich der Zug dicht an den Hang gedrängt dahin. In wahnsinnig engen Kurven umrundeten wir scharfe Felsvorsprünge, wackelten über aufgeschüttete Dämme quer zu schluchtartigen Tobeln, fuhren manchmal in Schrittgeschwindigkeit, um im nächsten Moment ruckartig zu beschleunigen. Es war eine richtig abenteuerliche Fahrt.

In Alexisbad wartete auf dem zweiten Gleis der Zug nach Harzgerode. Ich hoffte auf eine Parallelausfahrt der beiden Züge – leider vergeblich. Die Abfahrt nach Harzgerode war ein gutes Stück später. Nur zu besonderen Anlässen wurde eine solche Doppelausfahrt inszeniert. Wir verließen also den Bahnhof allein. Auf meiner Rückfahrt von Quedlinburg beschrieb ich die verfallenen Anlagen von Silberhütte. Es war der reine Wahnsinn, was ich jetzt auf der anderen Seite des Geländes vom Zug aus sah. Als ich auf der Straße am Werk vorbei fuhr, war die Zerstörung schon deutlich sichtbar, aber jetzt von dieser Seite erblickte ich nur Chaos. Berge von Müll, von zerstörten und verrosteten Maschinenteilen, Gebäude, deren Existenz sich nur noch an Hand der stehengebliebenen Fundamente erahnen ließ, übereinander gewürfelte Rohrleitungen, deren Enden wie tote Äste in die Luft ragten, betriebsinterne Mülldeponien, die einen entsetzlichen Gestank verbreiteten, eine alte Waschkaue, die Becken voller Schimmel und Unrat, von Öl oder anderen Chemikalien schwarz gefärbte Sandflächen, alte Lastwagen mit bar liegenden Motoren, meistenteils der Reifen beraubt, ineinander geschobene Loren einer schmalspurigen Werksbahn, auf der Rückseite eines halb eingefallenen Lagerschuppens eine vergilbte und zerrissene DDR-Fahne. Es war zum Gruseln.

Ich war froh, als wir den Bahnhof von Silberhütte erreichten und anschließend endlich wieder durch eine Natur fuhren, die einigermaßen unversehrt war. Jetzt war die Trassenführung weniger spektakulär, aber keineswegs uninteressanter. Der Wald stand nicht so dicht, dass ich immer wieder auf das nun flachere Tal der Selke blicken konnte. Am anderen Ufer sah ich oft den Weg, den ich vor einigen Tagen genommen hatte.

In Güntersberge fuhren wir unmittelbar am kleinen Bergsee entlang, der heute verwunderlicher Weise kaum bevölkert war. In Stiege staunte ich über die extrem enge Wendeschleife, die die Züge durchfahren mussten, wenn sie von hier zurück Richtung Eisfelder Talmühle starteten. Auf der Ebene vor Hasselfelde nahm der Zug noch einmal richtig Fahrt auf, als ob der Lokomotivführer beweisen wollte, zu welcher Leistung seine Maschine fähig war. Dort im Endbahnhof nahm ich mein Rad von der Zugbegleiterin entgegen. Sie war nicht nur gelenkig, sie war auch ausnehmend freundlich und hilfsbereit. Bevor ich den Bahnhof verließ, wartete ich noch ab, bis die Lok von der Spitze des Zuges an das andere Ende umgesetzt war. Die Abfahrt sah ich mir nicht mehr an, dann hätte ich noch etwa dreißig Minuten warten müssen.

Auf der Rückfahrt legte ich ich Tanne noch einen Halt ein, um das vorzügliche Eis zu genießen. Zurück in Braunlage, hatte ich heute keine Lust mehr zum Kochen, sondern nahm mein Abendessen bei Puppe am Brunnen ein. Ich muss nicht sagen, was ich dort aß... Der Abend anschließend verlief wie gewohnt: Tee trinken und Musik hören auf dem Balkon, Tagebuch Schreiben, Steinbeck lesen. Wieso schaltete ich nicht einmal in Braunlage den Fernseher ein?

 

XVI. Warum nicht einmal ein wenig weiter?

Die Busverbindungen im Harz haben einen großen Vorteil: in den Wagen können Fahrräder mitgenommen werden. Ich nahm einen frühen Bus nach Bad Harzburg und bestieg dort den bereits wartenden Zug nach Goslar. Ich wollte mir diese wirklich sehenswerte Stadt nicht ansehen, dafür war ich bereits zu oft dort gewesen. Ich wollte einen weiten Bogen machen und schließlich von St. Andreasberg wieder mit dem Bus fahren. Ich benutzte die viel befahrene Bundesstraße Richtung Westen und war froh darüber, dass ich nicht gezwungen war, auf der Fahrbahn zu fahren und auf einem breiten, etwas abseits gelegenen Radweg leicht dahin rollen konnte. Und auch das nicht einmal sehr lange. Bald schon verließ ich die belebte Straße und fuhr abseits der vielen Autos wieder einmal durch dichten Wald. In Astfeld sahen mich stille Dorfstraßen und eine schöne romanische Kirche, die jetzt nur noch Wohnzwecken dient. Es war nicht mehr weit nach Langelsheim, dessen Besiedelung bis in die Steinzeit zurück reicht. Vom ehemaligen Wohlstand zeugten noch einige bemerkenswerte Fachwerkhäuser. Hier wollte ich wieder einmal eine Bahnfahrt beginnen. Aber nicht als Passagier, nein, ich wollte die alte Trasse der Bahnstrecke Langelsheim – Altenau abfahren. Leider wurde diese Strecke Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts stillgelegt. Jetzt dienen die alten Bahnanlagen als Wander- und Radweg. Noch zehn Jahre vor der Stilllegung wurden umfangreiche Sanierungsarbeiten und Umbauten durchgeführt. Durch den Bau der Innerstetalsperre wurde die alte Strecke überflutet und musste verlegt werden. Eine ehemalige Station der Linie liegt unter den Fluten begraben. Ich fuhr etwas abseits vom Ufer am See entlang und konnte wegen der erhöhten Hanglage weit über das Wasser blicken. Viele weiße Segel gaben belebende Tupfer auf der hellblauen Oberfläche. Die Sperre wurde zum Hochwasserschutz angelegt. Zur Trinkwasserversorgung dient sie nur indirekt. Bei Bedarf wird über einen Stollen Wasser zur nahe gelegenen Granetalsperre gepumpt. Diese wurde ausschließlich für die Wasserversorgung gebaut.

Ich passierte das jetzt leer stehende Bahnhofsgebäude an der Talsperre und fuhr wieder in den Harz hinein. Bisher hatte ich mich direkt am Rand des Mittelgebirges bewegt, das hier sehr markant aus dem Vorland ragt. Am jetzt gut gefüllten See radelte ich bei sehr mäßiger Steigung aufwärts. Hier war die Streckenführung noch nicht so spektakulär, wie sie weiter innen werden sollte. Auf dem sehr glatten Asphalt kam ich gut voran. Die erste enge Kurve gab es kurz vor der alten Bergstadt Lautenthal. Ich musste die Straße von Wolfshagen überqueren. Damit die Radler nicht unvermittelt vor den Kühlerhauben der Autos auftauchten, waren an den Einmündungen des Radweges wirkliche fiese Schikanen aufgebaut, die mich zum Absteigen und Schieben zwangen. Ich weiß nicht, ob ich mit meinem vollen Reisegepäck dort überhaupt durch gekommen wäre. Die alte Brücke über die Straße war längst abgerissen. Gegenüber der Straßenkreuzung weideten auf einer Hangwiese graubraune Rinder. Ein Bild wie auf einer Sommeralm im Hochgebirge. Es fehlten nur noch die fransigen Ohrspitzen der Allgäuer Kühe.

Im Ort Lautenthal musste ich wieder auf der Straße fahren. Die einstige Trasse war inzwischen überbaut. Die ehemals freie Bergstadt liegt in einem Talkessel, eingeschlossen von über 650 Meter hohen Bergen. Die alten Häuser drängen sich dicht zusammen. Nach Einstellung des Bergbaubetriebs vor einem halben Jahrhundert verlor Lautenthal dramatisch an Bedeutung. Vorwiegender Wirtschaftsfaktor wurde der Tourismus – mit abnehmender Tendenz. Ich konnte es an den geschlossenen Gasthäusern, Hotels und den leeren dunklen Fensterhöhlen sehen. Einzige Attraktion von Lautenthal war das Bergbaumuseum. Das hatte es aber wirklich in sich. Die Einfahrt erfolgt tatsächlich noch mit einer Grubenbahn. Dutzende alter Grubenloks sind auch noch im Museum zu besichtigen. Der Höhepunkt des Besuchs ist eine Kahnfahrt tief in der Erde. Dort steht auch in fast 300 Meter Tiefe eine Kapelle. Bei der heutigen Tour schaute ich jedoch nicht hinein. Vor etlichen Jahren hatte ich dieses Schaubergwerk einmal besichtigt. Hinter der Ortschaft konnte ich wieder auf der alten Trasse fahren. Das Tal wurde jetzt enger und enger. Die Strecke folgte jetzt fast genau dem Lauf der Innerste. Entsprechend kurvig war die Linienführung. Teilweise waren Schneisen in den überhängenden Fels geschlagen worden. Ich fuhr dann wie in einem Tunnel, unter mir schäumte die Innerste. An mehreren Stellen kreuzte die Straße den Radweg. Die Schranken, die ehemals der Bahn die Vorfahrt gewährten, gab es natürlich nicht mehr. Dafür hatte ich auf dem Radweg jeweils mit Zweien der erwähnten Schikanen zu kämpfen.

Auf halber Strecke nach Wildemann, in einer weiten Rechtskurve, wurde das Tal wieder weiter. Hier in Hüttschental stand einmal ein Elektrizitätswerk, das in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stillgelegt wurde und lange Zeit leer stand. Vor einigen Jahren wurde dort eine große Modellbahnschau eingerichtet. Eigentlich war der Besuch dieser Institution für mich ein Muss. Aber ich war noch sehr weit von Braunlage entfernt – so viel Zeit durfte ich mir nicht lassen. Ich nahm mir vor, später einmal dort vorbei zu schauen. Heute weiß ich allerdings, dass die Anlage inzwischen geschlossen wurde.

Ich fuhr weiter Richtung Wildemann. Jetzt schlängelte sich die Trasse buchstäblich durch die Zipfelberge – sie heißen wirklich so. Meines Wissens handelte es sich bei der Innerstebahn um eine Anlage mit Regelspur. Deshalb war ich darüber erstaunt, welch enge Kurven ich auf der ehemaligen Bahnstrecke fahren musste. Die Loks, die hier gefahren sind, mussten recht kurze Fahrwerke gehabt haben, anders wären solche Radien nicht möglich gewesen. Oftmals konnte ich kaum etwas von der Innerste sehen, so dicht waren die Ufer mit Bäumen bestanden. Die Berge waren bis auf die Gipfel mit dichtem Wald bedeckt. Darüber wölbte sich ein wolkenloser Himmel. Ich fühlte mich einfach nur wohl. Die Sonne konnte mir nichts anhaben, weil der Weg durch die ausladenden Äste zumeist im Schatten lag. Außerdem trug ich meinen Florentiner Strohhut. Im Gegensatz zur Selketalbahn, die als reine Adhäsionsbahn Steigungen von bis zu fünfundfünfzig Promille bewältigte, wies die Innerstetalbahn nur einen gemäßigten Anstieg auf. Deshalb war es ein wunderbares Radeln in dieser herrlichen Natur.

Kurz vor Wildemann hieß es wieder, auf die Straße zu wechseln. Im Gegensatz zu Lautenthal liegt Wildemann nicht in einem Kessel, sondern erstreckt sich langgezogen im engen Tal. Deshalb zieht sich die Bebauung trotz der geringen Einwohnerzahl von ungefähr tausend Menschen auch die Hänge hinauf. Lediglich im Ortszentrum, an der Einmündung des Grumbaches in die Innerste, steht ein wenig mehr Fläche zur Verfügung. Hier wollte ich auch Richtung Clausthal-Zellerfeld abbiegen. Die ehemalige Bahntrasse ist nämlich zwischen Wildemann und dem Zentrum des Oberharzes nicht als Radweg ausgebaut. Um die Herkunft des Namens Wildemann rankt sich selbstverständlich wieder eine der Sagen des Harzes. Im 16. Jahrhundert sichteten Bergleute einen Wilden Mann, der mit einer Wilden Frau zusammen lebte. Wo die größten Erzvorkommen lagen, Silber wieder einmal, dort hielt er sich bevorzugt auf. Es war nicht möglich, ihn zu fangen. Auch auf Rufe reagierte er nicht. Und was machten die Bergleute? Sie beschossen ihn mit Pfeil und Bogen und verletzten ihn so schwer, dass er gefangen genommen werden konnte. In der Haft sprach er nicht und wollte auch keine Tätigkeit ausführen, zum Beispiel Erkundungsgänge zu den Silbervorkommen. Als er schließlich dem Herzog, welchem auch immer, vorgeführt werden sollte, starb er. An der Stelle, an der er gefangen genommen wurde, wurde Wildemann gegründet. Schließlich fanden die damaligen Erkunder dort sehr reichhaltige Silbererzvorkommen. Vor einem Haus in Wildemann ist sogar eine Statue des Wilden Mannes aufgestellt.

Ich war gespannt, wie wohl die Route nach Clausthal-Zellerfeld beschaffen sein würde. Immerhin war sie auf meiner Karte als für Fahrräder geeignet gekennzeichnet. Zunächst fuhr ich auf einer asphaltierten Straße mäßig bergauf. Ich verließ die letzten Häuser von Wildemann und passierte ein Waldschwimmbad in ungewöhnlich schöner Lage und von höchst idyllischer Beschaffenheit. So muss ein Waldschwimmbad aussehen! Klar, dass die heutzutage üblichen Attraktionen wie spiralförmige Rutsche, großer Kinderspielplatz und Beachvolleyballfeld nicht fehlen durften. Aber der Standort in dem engen Tal, eingerahmt von den steil aufragenden Hängen machte das laute Leben wett. Ich fuhr weiter den Spiegelbach entlang. Nach kurzer Zeit erreichte ich das Spiegelthaler Zechenhaus. Das ehemals dem Bergbau dienende Gebäude ist bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine beliebte Waldgaststätte. Auch ich hatte nicht wenig Lust, mich in den schönen Garten zu setzen und eine Harzer Spezialität zu genießen. Aber ich hatte doch wieder so viel Proviant bei mir! Also weiter. Kurz hinter dem Gasthaus machte die Straße einen scharfen Knick nach links, um Hahnenklee zuzustreben. Ich bog auf den schmaleren Schotterweg ab, um sofort an den Unteren Spiegelthaler Teich zu gelangen. Dieser Stausee, der bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts angelegt wurde, diente wie fast alle künstlich angelegten und auch natürlichen Gewässer dem Bergbau. Jetzt lag der Teich, denn es war wirklich kaum mehr, unglaublich still da. Ich konnte nicht anders, ich musste mir eine Stelle auf dem Damm suchen, mich ausbreiten und ein ausgiebiges Picknick machen. Zu meinem Glück fehlte es wieder nicht an vielen Bäumen, die mir ausreichend Schatten spendeten. Ich schaute auf die unbewegte Wasseroberfläche, in der sich die Bäume spiegelten, genoss meinen heißen Tee, die Stullen, die Tomaten und das Obst. Es war doch viel besser als im Gasthaus, auch wenn der einen schönen Garten aufwies.

Jetzt aber weiter. Schotter, leichte Steigung, nur Bäume um mich herum, das lauteste Geräusch das Knirschen meiner Reifen auf den feinen Steinen. Ich erreichte den Oberen Spiegelthaler Teich. Er war erheblich größer als der Untere, war aber genau so schön und idyllisch. Ich war versucht, wieder eine ausgedehnte Pause zu machen. Aber nein, ich fuhr weiter. Kurz vor dem nächsten Gasthaus mit dem schönen Namen Untermühle fuhr ich wie in einem Hohlweg zwischen riesigen Holzstapeln hindurch. Die offensichtlich frisch geschlagenen Stämme rochen einfach betörend. Ich war äußerst standhaft und fuhr auch an diesem Lokal vorbei. Noch eine Spitzkehre, ein kurzes Steilstück, und ich war auf der Bundesstraße nach Clausthal-Zellerfeld, direkt bei den Kliniken am Stadtweger Teich. Ja, wie viele Teiche gab es denn bloß im Rahmen des Oberharzer Wasserregals? Bei der Abzweigung Richtung Schulenberg und Okertalsperre fing auch die Stadt an. Bergstadt Clausthal-Zellerfeld. Mönche begannen bereits im 13. Jahrhundert, hier Bergbau zu betreiben. Nach einer kurzen Flautezeit blühte die Stadt Mitte des 16. Jahrhunderts richtig auf, bis der Bergbau im Harz ab erstem Drittel des 20. Jahrhunderts dem Niedergang geweiht war. Aber es gibt ja die Technische Universität in Clausthal-Zellerfeld. Ursprünglich dem Studium des Bergbaus angedient, weist sie heute viele Fakultäten auf, die natürlich technischer Natur sind. Für die Bedeutung dieser Uni spricht, dass meines Wissens ein Viertel der Bevölkerung von Clausthal-Zellerfeld aus Studenten besteht. Hier habe ich bereits als Kind die ersten Erfahrungen mit dem Harzer Bergbau sammeln können. Wir besuchten mit einer Schulklasse das Bergbaumuseum im Ortsteil Zellerfeld und war auch in jungen Jahren einfach nur begeistert. Damals gab es noch eine funktionierende Fahrkunst im Museum, auf der ich ungefähr zwanzig Meter in die Tiefe fahren durfte. Es war ein Erlebnis, das ich wohl mein Leben nicht mehr vergessen werde. Wenn ich mir vorstelle, dass die Bergleute damals über eine halbe Stunde brauchten, um mit beachtlicher Geschwindigkeit in die Tiefe zu rauschen und dann in achthundert Metern Tiefe endlich ihren Arbeitsplatz zu erreichen, kann ich nur Respekt zollen. Selbstverständlich noch mehr den Männern, die vor Entwicklung der Fahrkunst über Leitern in die Tiefe fuhren und nach ungefähr drei Stunden unten ankamen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die verbleibende Arbeitskraft für das Schürfen nicht förderlich war, noch weniger der Aufstieg. Die Fahrkunst wurde mit Sicherheit auch nicht entwickelt, um den Bergleuten die Arbeit zu erleichtern, sondern um die Produktivität zu erhöhen und den Gewinn zu maximieren.

Auf dem großen Platz in Zellerfeld, dicht am Bergbaumuseum, gibt es einen kleinen Park mit Pavillon und Eiscafé. Muss ich mehr sagen? Heute war es kein Erdbeerbecher. Ich bestellte ein großes Glas mit vier Eiskugeln, ausschließlich Walnusseis, natürlich mit Sahne. Das Eis war toll, die Sahne wieder einmal Scheiße. Aber was machte es? Ich saß unter einen alten Buche, schaute auf das Gebäude des Museums, das beeindruckende Amtsgericht und die anderen Häuser am Markt, die so gar nicht ärmlich aussahen. Eine halbe Stunde genoss ich den Anblick, dann fuhr ich weiter. Zunächst einmal stark bergab hinunter in die Senke, die die Grenze der ehemals getrennten Städte markiert. Beim großen, ehemaligen Bahnhofsgebäude erinnerte lediglich ein „Freie Fahrt“ anzeigendes Hauptsignal an die damalige Funktion. Nun ging es wieder steil bergauf, hinauf zum Markt von Clausthal. Das beherrschende Haus dort ist die Marktkirche Zum Heiligen Geist. Dieser Sakralbau aus dem Dreißigjährigen Krieg ist die größte erhaltene Holzkirche Europas. Bewundernswert waren für mich die Eindeckung und die Verkleidung des Daches und des oberen Teils der Fassade. Ähnlich wie am Rathaus in Goslar waren die Schieferschindeln in engsten Bögen um Erker und Türmchen gezogen. Ich brauche wohl nicht zu wiederholen, dass ich auch hier nicht hinein ging. Vielmehr ging ich gegenüber in ein großes Jeansgeschäft. Ich benötigte dringend eine neue kurze Hose. Ich fand tatsächlich eine. Leider nur eine Markenjeans von Diesel. Normalerweise bin ich nicht so markenorientiert – bis auf „normale“ Jeans allerdings, bei denen für mich nur die 501 classic von Levis in Frage kommt. Tapfer bezahlte ich meine 69,90 und hatte eine perfekt sitzende, bequeme Hose. In Clausthal herrschte erheblich mehr Leben als in Zellerfeld. Gerade am Markt drängte sich die Menschen in den Cafés und auf den Bürgersteigen. Die strahlende Sonne verstärkte diesen südländisch wirkenden Eindruck noch. Jetzt hatte ich aber genug vom städtischen Flair gesehen. Ich wollte weiter.

Ich radelte aus Clausthal hinaus und bog auf den Radweg ein, der jetzt wieder auf der ehemaligen Bahntrasse verlief. Parallel zur Bundesstraße führte die Piste durch dichten Wald, in weiten Bögen und auf vielen Geraden. Die Straße war wesentlich kurvenreicher. Mehrere steinerne Viadukte überspannten das Asphaltband, das wahrscheinlich wesentlich glatter war als der doch recht ruppige Schotterbelag, auf dem ich fuhr. Aber auf der Bahntrasse war es mit Sicherheit erheblich schöner. Kurz vor Altenau lag auf der rechten Straßenseite ein Campingplatz, von dem ich überhaupt nichts wusste. Die terrassenförmigen Stellplätze schmiegten sich geradezu in den steilen Hang hinein. Leider hatte der Platz einen großen Nachteil: der Baumbestand war so dicht, dass kaum ein Sonnenstrahl den Boden erreichte. Entsprechend düster war die Atmosphäre. Kein Platz für mich. Also schaute ich ihn mir auch nicht näher an, sondern radelte auf dem jetzt leicht abschüssigen Weg zum Bahnhof Altenau. Bahnhof? Jetzt hatte sich dort ein großer Baustoffhandel etabliert. Von Eisenbahnromantik keine Spur. Daher fuhr ich weiter und nahm durch Altenau wieder den Weg Richtung Okertalsperre. Ich kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich an dem bereits beschriebenen Imbiss überhaupt nicht vorbei kommen konnte, ohne dort Station zu machen. Wieder einmal waren es die Currywurst und Pommes. Fehlten eigentlich nur noch die Motorradfahrer. Die Terrasse war jedoch erstaunlich leer. Eben noch das pulsierende Laben in Clausthal-Zellerfeld, jetzt Öde auf den Restaurantplätzen. Das Essen genoss ich dennoch. Auch diesmal nahm ich nicht die Autostraße am See entlang, sondern radelte auf dem längeren Weg auf der anderen Seite. Heute wollte ich nicht den Aufstieg nach Torfhaus hinauf auf mich nehmen, sondern faul und bequem mit Bahn und Bus zurück nach Braunlage kommen. Ich hatte keine Lust, mein Rad wieder den steilen Weg hinauf zu schieben. Ich rollte über die Staumauer und bedachte den Bratwurststand mit verächtlicher Ignoranz. Durch die anschließende, steile Abfahrt hatte ich so viel Schwung, dass auch an dem lächerlichen „Königreich“ Romkerhall vorbei raste. Die anschließende Autostraße hinunter nach Oker war ein Traum! Ich brauchte kaum zu treten, konnte mich entspannt hinab gleiten lassen und war begeistert von dieser wildromantischen Schlucht. Ja, dieses tief eingeschnittene Okertal hatte wirklich in weiten Bereichen einen schluchtartigen Charakter. Viele bizarre Felsformationen ragten aus den seitlichen Flanken heraus. Die schäumende Oker suchte sich ihren Weg durch riesige Steinbrocken oder sprang über kleinere hinweg. An einem besonders spektakulären Platz stellte ich mein Rad am Rand der Straße ab und kletterte den Hang zu einem großen Felsblock hinab, der mir ideal für ein Picknick erschien. Die vielerorts aufgestellten Hinweisschilder warnten mich zwar, an das Ufer zu gehen, weil manchmal von dem Staubecken unterhalb der Staumauer das Wasser abgelassen wurde und dadurch das Okertal tiefer als die Straße weitgehend unter Wasser gesetzt wurde, ich ignorierte sie aber. Ich wollte einfach an einem schönen Platz Picknick machen. Und es war wirklich wunderschön. Ich schleppte meine Taschen einen steilen Pfad hinab, machte es mir auf dem Felsblock bequem, schaute in das schäumende Wasser und genoss meine Köstlichkeiten. Weil ich nur noch einen kurzen Weg mit dem Rad vor mir hatte, ließ ich mir richtig Zeit. Schließlich raffte ich mich doch auf und fuhr in bester Laune hinunter nach Oker. Die Laune verflog schlagartig, als ich die Stadt erreichte. Fünfhundert Jahre Blei- und Zinkverhüttung hatten ihre Spuren hinterlassen. Produkte dieser Art wurden zwar immer noch hergestellt, aber das Unternehmen Harz-Metall als Rechtsnachfolger der Preussag AG hat noch viel mehr mit der Bewältigung der Altlasten zu tun. Die hoch aufragenden Abraumhalden rund um Oker zeugten von der Größe der Aufgabe. Ich hatte vor, von Oker mit der Bahn nach Bad Harzburg zu fahren und dort den Bus nach Braunlage zu nehmen. Ich fuhr auch ein Stück durch die Stadt, um zum Bahnhof zu gelangen. Die stillgelegten Industrieanlagen und nicht bewohnten Häuser deprimierten mich jedoch so sehr, dass ich umkehrte und mit dem Rad nach Bad Harzburg fuhr. Ich benutzte den Europaradweg R1, einen Fernradweg, der von Boulogne-sur-Mer in Frankreich nach St. Petersburg in Russland führt, immerhin über dreitausendfünfhundert Kilometer. Ich erwarte von einem Fernradweg, dass er so gestaltet ist, dass auch Reisende mit viel Gepäck ihn bewältigen können. Und warum musste ich dann über Treppen steigen? Es konnte doch nicht sein, dass ein Fernradweg über Treppen geleitet wird! Es war am Ortsausgang von Oker tatsächlich so. Glücklicherweise hatte ich nur eine Tasche bei mir, deshalb fiel mir das Erklimmen der Stufen nicht schwer. Vor dreizehn Jahren war ich diesen Weg schon einmal gefahren und hatte am Fuß der Treppe meine Taschen vom Rad gelöst und sie einzeln in die Höhe geschleppt.

Am Nordrand des Harzes kletterte ich immer höher. Das wollte ich doch gar nicht! Schließlich lag der Bahnhof von Bad Harzburg, von dem die Busse nach Braunlage abfuhren, unten, nicht irgendwo am Hang. Aber auf jeden Fall war der Weg so viel schöner als die unten liegende Bundesstraße, die einfach nur langweilig war. Ich hatte sie bei einem meiner vielen Harzbesuche einmal abgefahren. Hier auf dem asphaltierten Wirtschaftsweg konnte ich weit in das Harzvorland hinein blicken. Auch den Höhenzug bei Vienenburg sah ich, der mich schon so manchen Tropfen Schweiß auf dem Weg vom Norden gekostet hatte. Nun aber ging es doch wieder bergab. Mit Schwung rollte ich in die Fußgängerzone von Bad Harzburg, schlug den Weg zum Bahnhof ein und traf auf eine Gruppe von zwei Schulklassen, die ebenfalls nach Braunlage wollten. Als der Bus vorfuhr, bedeutete mir die Busfahrerin, dass sie mich leider nicht mitnehmen könne, weil das viele Gepäck der Schulklassen keinen Raum mehr für mein Fahrrad ließ. Sie vertröstete mich aber: in einer Stunde würde der nächste Bus kommen, dort würde ich mit Sicherheit einen Platz bekommen. Also hatte ich sechzig Minuten zu überbrücken. Es viel mir nicht schwer – ich machte etwas ganz Verrücktes: ich ging Essen. Es gab anfangs der Fußgängerzone ein Schnitzelhaus, das mit dem Slogan „XXL-Schnitzel“ warb. Da konnte ich nicht widerstehen.Ich setzte mich in den angrenzenden Biergarten und bestellte mir einen solchen Lappen mit Kartoffelsalat. Auf der Karte war es Wiener Schnitzel ausgezeichnet, es war aber ganz klar ein sogenanntes Schnitzel Wiener Art. Das Fleisch stammte eindeutig vom Schwein. Die Größenangabe war allerdings leicht untertrieben. Das panierte Schnitzel war ungefähr so groß wie ein Elefantenohr und hing allseitig über den den Tellerrand über. Es war klar, dass der Kartoffelsalat auf einem separaten Teller serviert werden musste. Das Elefantenohr war leider ein wenig dröge, obwohl vom Fleischanteil durchaus reell, denn die Panadeschicht hielt sich in Grenzen, aber es lag eindeutig zu lange in der Pfanne. Der Kartoffelsalat dagegen war eine wahre Wucht! Wieso gab es in einem deutschen Mittelgebirge einen Salat aus Erdäpfeln genau so angemacht wie in Österreich? Es gab ihn. Die Kartoffeln waren nicht in Mayonnaise ertränkt, nicht mit matschigen, gekochten Eiern vermanscht, sondern einfach mit Essig, Öl und Zwiebeln angemacht. Wunderbar. Und anschließend konnte ich mein Rad ohne Probleme im Bus verstauen. Ich war bei der Ankunft in Braunlage so guter Dinge, dass ich mich sogar die Bismarckstraße hinauf kämpfte und nicht den Umweg über die Herzog-Johann-Albrecht-Straße nahm. Schwer keuchend trug ich meine Tasche in die Wohnung, legte mich für eine halbe Stunde auf das Sofa und kochte mir anschließend wieder ein fürstliches Abendessen. Was eben auf zwei Kochplatten ohne Backofen so möglich ist. Heute gab es Cevapcici im Reisrand mit Gurkensalat. Na, ja, für den Salat benötigte ich nicht unbedingt eine Kochplatte. Schreiben mit einem MontBlanc-Füllfederhalter und dabei „Das Lied von der Erde“ von Gustav Mahler zu hören, ist einfach nur geil. Ist einfach nur geil!

 

XVII. Die Lange, Elbingerode, Mandelholz und Tschechien

In meiner Beschreibung der Fahrt durch das Bodetal erwähnte ich auch die Einmündung der Langen. Diesen Fahrweg wollte ich heute auch einmal erleben. Ich packte das volle Picknickprogramm zusammen und radelte nach einem frühen Frühstück los. Die Lange hatte ihren Beginn bei Benneckenstein. Den Weg dort hin wollte ich nicht wieder über das Tal der Warmen Bode über die weiße Brücke zurück legen. Diese Route war ich jetzt schon zu oft gefahren. Ich verließ Braunlage Richtung Süden über die alte Trasse der Südharz-Eisenbahn. Ich folgte ihr bis zum Jugendheim des ehemaligen Bahnhofs Brunnenbachmühle. Im bewaldeten Tal des Brunnenbachs strebte ich anschließend gen Osten. Nach abwechslungsreicher Fahrt gelangte ich auf die Bundesstraße nach Sorge und Tanne. Hier musste ich wieder auf die Straße wechseln. Es war nicht unbedingt von Nachteil, weil der Verkehr gegen Null tendierte und die Fahrbahn schön glatt war. Ein kräftiger Rückenwind unterstützte mich. In Sorge fuhr ich zum Bahnhof hinauf und nahm den schönen Waldweg Richtung Benneckenstein. Ich fuhr jedoch nicht in das Dorf hinein, sondern bog kurz zuvor links in einen holprigen Weg ab, der mich zum Startpunkt der Langen führen sollte. An der Straße nach Tanne, an einem Parkplatz mit einem der Naturdenkmäler des Harzes, einer mächtigen, uralten Eiche, die den treffenden Namen „Alte Eiche“ trug, fand ich den Beginn der Langen. Der Name bezeichnete ursprünglich die Hochfläche zwischen Warmer Bode und Rappbode. Nachdem die Grafen zu Stolberg sich aus diesem Gebiet zurück gezogen hatten, blieb nur noch der Name für diesen langen Fahrweg. Er ist nicht nur ungewöhnlich lang, er ist zudem noch weitgehend kurvenfrei. Daran ist zu ermessen, dass die Höhenunterschiede auf dieser Hochebene recht gering sind. Entsprechend entspannt verlief für mich das Fahren. Zunächst bewegte ich mich durch dichten und alten Waldbestand. Ich sah also nicht viel von der Umgebung, sozusagen nicht den Wald vor lauter Bäumen. Ein extrem idyllischer Rastplatz kurz vor der Straße von Tanne nach Trautenstein lockte zu einem Picknick. Aber nein, ich wollte meine Vorräte nicht zu früh aufbrauchen. Hier begann auch die erste baumfreie Fläche, die sich bis zur Bundesstraße hin zog. Mit einem wahren Kahlschlag waren hier die Bäume gefällt und die Stümpfe heraus gerissen worden. Das Gelände ah aus wie eine Mondlandschaft. Sollte hier eine Weidefläche angelegt werden? Keine Ahnung.

Weil der Weg jetzt anstieg, konnte ich an der Bundesstraße wunderbar bis zurück nach Benneckenstein blicken, wo gerade ein Dampfzug Richtung Sorge den Bahnhof verlassen hatte und sich nun zwischen den Bäumen vorwärts bewegte. Ich konnte seinen Weg lediglich auf Grund der Dampfschwaden verfolgen, die aus den Baumwipfeln empor stiegen. Ich setzte meinen Weg fort. Jetzt war der Wald nicht mehr alt und dicht, sondern jung und licht. Deshalb konnte ich schön zum Höhenzug zwischen Kalter und Warmer Bode hinüber sehen. Der alte Fahrweg war wunderbar glatt und das Fahren darauf die reine Freude. Bei einer Rauchpause sah ich am Rand einer Lichtung einen rotbepelzten Fuchs entlang trotten. Er schenkte mir keinerlei Aufmerksamkeit. Der Wind stand günstig für mich. Nachdem er stehen geblieben war und sich einmal umgeblickt hatte, verschwand er gemächlich im Wald. Auf meinen Wanderungen und Radtouren im Harz traf ich erstaunlich wenig Wild an. Kaum einmal ein Reh, das in weiten Sprüngen flüchtete oder ein Hase, der panisch hoppelnd meinen Schrittmacher gab. Dafür sah ich Greifvögel in Hülle und Fülle. Kaum einmal ein Moment ohne Schwingenpaar am Himmel, wenn ich nach oben blickte.

Nach der Pause folgte ich einer unbegründeten Kurve. Die Topografie zwang nicht dazu, und auch der Baumbestand änderte sich nicht. Ich sah allerdings einen völlig zugewucherten Weg, der geradeaus weiter führte und nicht zu befahren war. Stand hier vielleicht das alte Jagdhaus der Grafen zu Stolberg, das Mitte des 19. Jahrhunderts abgerissen und in Halberstadt wieder aufgebaut wurde? Es existiert jetzt nicht mehr. Es wurde im Zweiten Weltkrieg durch einen Luftangriff völlig zerstört. Der nächste Bogen war sinnvoller: Ich musste den Heiligenkopf umrunden, eine Anhöhe auf der Hochfläche. Nachdem ich den Weg von Königshütte nach Trautenstein überquert hatte, ging es wirklich nur noch geradeaus, endlos und schnurgerade. Muss ich auf die Frage antworten, ob es mir langweilig wurde?

Ich folgte der Langen nicht bis zu ihrem Ende, sondern bog vorher nach links zur Überleitungssperre Königshütte ab, deren Staumauer ich mit rasender Fahrt auf gewundenem Schotterweg erreichte. Ich hielt mich dort nicht auf, sondern machte mich auf der asphaltierten Uferstraße am nördlichen Rand des Sees auf den Weg nach Königshütte. Eine einladende Bank im Schatten mit Blick auf die bewaldeten Höhen und den See, an dessen Ufer zwei Angler schweigend ihrer Passion nachgingen. Es war Picknickzeit. Obwohl es jetzt in den späten Vormittagsstunden schon recht heiß war, trank ich wieder heißen Tee. Die anderen Details der Orgie lasse ich hier weg. Gut gestärkt fuhr ich nach Königshütte hinein. Die alten Fabrikgebäude am Beginn machten einen recht aufgeräumten Eindruck, ganz im Gegensatz zu denen in Silberhütte. Sie wurden zwar ebenfalls nicht mehr genutzt und standen leer, es lagen jedoch keine Müllhaufen und verrosteten Maschinenteile herum. Ich hatte den Eindruck, dass die Gebäude für einen anderen Verwendungszweck vorbereitet wurden. Auch die Gleise der Industriebahn waren von wucherndem Gestrüpp und Unrat befreit worden. Ich hielt mich in Königshütte nicht auf, sondern folgte der Straße nach Elbingerode, die sich in einem weiten Bogen über die Höhen schlängelte. Zunächst war der Aufstieg erstaunlich kraftanstrengend, schließlich waren dreizehn Prozent zu bewältigen. Auf dem Scheitel erfolgte dann die fürstliche Belohnung: ein fantastischer Blick auf den Brocken. Und natürlich die rasante Abfahrt hinunter nach Elbingerode. Auf meiner ersten Radreise 1963 hatte ich hier die erste Nacht auf einem Campingplatz der neuen Bundesländer verbracht. Den wollte ich mir noch einmal ansehen. Genau wie damals kämpfte ich mich die steile Zufahrtsstraße etwas außerhalb der Stadt hinan. Das Gelände befand sich seinerzeit noch in der Aufbauphase, die Toiletten und Waschräume waren noch in Bauwagen untergebracht. Das weitgehend baumlose Areal war von einer dichten Hecke umgeben. Wir Zeltgäste – um die handelte es sich überwiegend – konnten uns irgendwo einen Platz suchen. Und heute? Eine gepflegte, gekieste und von niedrigen Steinmauern eingefasste Einfahrt, ein repräsentatives Empfangsgebäude, ein großer Kinderspielplatz, und sogar einen kleinen Swimmingpool gab es. Durch akkurat gestutzte Hecken abgegrenzte Stellplätze beherbergten Wohnmobile und Caravans. Ich sah kaum noch ein Zelt. Dieser Platz hatte sich im Laufe der Jahre fein heraus geputzt. Der Rezeption war ein kleines Restaurant angeschlossen, doch da wusste ich etwas Besseres. Weiter innerhalb des Stadtgebietes lag ein Naturbad an einem einer Reihe kleiner Teiche, die von Quellwasser gespeist werden. Das dortige Restaurant „Christinenbaude“ lud zum Sitzen auf der Terrasse ein. Und was bestellte ich mir? Genau: einen großen Erdbeereisbecher. Er war zwar nicht so gut wie die in Tanne und Wernigerode, dafür saß es sich aber extrem angenehm im Schatten alter Bäume mit Blick auf die kleinen Seen und den Wald ringsherum. Schön war auch, dass die Nutzung dieses städtischen Bades, dessen Badebetrieb immerhin von einem Rettungsschwimmer überwacht wurde, kostenfrei war. Nach einer abschließenden Zigarette und dem Genuss eines prächtigen doppelten Espresso fuhr ich weiter. Ich durchstreifte die engen, teilweise noch mit Kopfsteinen gepflasterten Gassen, schaute mir die mächtige Kirche – wieder einmal von außen – an, fuhr sogar zwei Mal die langgezogene Hauptstraße mit den vielen kleinen Geschäften ab. Gekauft habe ich nichts. Elbingerode ist im Gegensatz zu Wernigerode nicht touristisch geprägt. Es wirkt durch seine Ursprünglichkeit. Es gibt auch nicht diese Ballung von gastronomischen Angeboten wie in der Stadt am Rande des Harzes. Elbingerode gefiel mir ausnehmend gut.

Ich machte mich auf den Weg zurück nach Königshütte. Diesmal nahm ich nicht die Straße, sondern benutzte den sandigen Feldweg, der parallel zur Industriebahn des Zementwerkes über die Höhen führte. Eine lange Reihe von Muldenwaggons stand auf den Gleisen zum Abtransport bereit. Auf der anderen Seite schaute ich zum Brockenmassiv hoch. Nach viertelstündiger Fahrt durch baumloses Gelände tauchte ich wieder in dichten Wald ein. Die Schotterpiste rüttelte mich ordentlich durch. Auf einer kleinen Lichtung flossen zwei Zuflüsse der Kalten Bode zusammen, der Dammast- und der Steinbach. Es war ein idyllischer Ort wie in einem Märchenwald. Die Ufer waren mit sattgrünem Waldgras bestanden. Leise plätschernd floss das Wasser über Kiesel und kleine Felsbrocken. An einer kleinen Stromschnelle glitzerten die Tropfen in der Sonne, und ein Regenbogen in Miniaturformat wölbte sich über dem Katarakt. Ich setzte mich auf eine Holzbank im Schatten de Bäume, rauchte eine Zigarette und genoss den restlichen Tee. Eine saftige Birne rundete die Pause ab. Ich folgte dem jetzt breiteren Bach auf einem kurvenreichen Waldweg. Eine Gruppe von Wanderern kam mir entgegen. Der alte Mann an der Spitze der Kolonne lüftete seinen Jägerhut, als ich an ihm vorbei fuhr. Gerade rechtzeitig konnte ich noch meinen Strohhut schwenken. Nach kurzer Fahrzeit erreichte ich die Straße nach Elend am Fuß der Staumauer der Mandelholz-Talsperre. Ich fuhr die kurze Steigung hoch und schob mein Rad auf die Krone des Dammes, um den Blick über das Gewässer zu genießen. Auf der linken Seite erhob sich der bewaldete Hang, rechts zogen sich Felder über die welligen Hügel. Ich radelte weiter am See entlang und machte auf einer schönen Wiese an der Einmündung der Kalten Bode eine kleine Pause. Der Gesang der Vögel im nahen Wald war fast ohrenbetäubend. Zwei Dutzend Meter weiter drehte ein junges Paar Runden im klaren Wasser. Das Baden war in der Mandelholztalsperre verboten, weil sie der Trinkwasserversorgung diente. Als die beiden auf dem Rückweg zu ihrem Auto an mir vorüber kamen, machten sie einen leicht erschrockenen Eindruck. Ja, glaubten sie denn, ich würde zur nächsten Polizeidienststelle hasten, um ihr Fehlverhalten anzuzeigen? Ich wünschte ihnen lediglich einen guten Tag.

Ich bekam allmählich Durst. Meine Thermoskanne war leer, auch die Mineralwasserflasche gab nichts mehr her. Ich kam am Traditionsgasthaus „Grüne Tanne“ vorbei und fand die Terrasse voll belegt. Also fuhr ich weiter. Es war ja nicht mehr weit bis nach Elend. Dort fuhr ich die steile Straße zum Bahnhof hinauf und rollte auf den Bahnsteig mit der kleinen Gaststätte. Ich kam dabei an einem Paar vorbei, das auf einer Bank in der Sonne saß. Der Mann beäugte mich misstrauisch. Ich setzte mich auf einen der Freiplätze und bestellte ein großes Spezi. Während ich auf mein Getränk wartete, stand der Mann auf und kam auf mich zu, angetan mit einer schlabberigen Trainingshose und schmutzigem Muskelshirt.

Willst du mit mir tschechien?“ fragte er mich mit drohendem Unterton.

Tschechien?“ gab ich zurück.

Ja, tschechien, hab´ ich trainiert!“. Dabei nahm er eine etwas lächerliche Kampfhaltung ein.

Nein, ich will nicht tschechien, ich will zurück nach Braunlage!“

Warum bist du dann hier, wenn du nicht mit mit tschechien willst?“ fragte er offensichtlich etwas verunsichert.

Ich habe Durst, ich möchte etwas trinken, und ich möchte zurück nach Braunlage. Auf keinen Fall will ich mit dir tschechien. Ich glaube ohnehin, dass du gewinnst.“

Diese Worte schienen ihn zu beruhigen. Er ging wieder zurück zu seiner Partnerin und erzählte ihr irgend etwas, das ich nicht verstehen konnte aber wohl recht prahlerisch war, den er wölbte stolz den Brustkorb heraus. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, blickte er triumphierend zu mir herüber. Ich hob mein Glas und prostete ihm zu. Tschechien...

Der Rest des Tages war Routine. Die Straße nach Braunlage, Kuchen im Café, Kochen, Tagebuch, Lesen bei Tee auf dem Balkon.

 

XVIII. Ein Kurs durch den Kurort

Heute wollte ich einmal faul sein. Das Wetter sollte unbeständig werden, deshalb hatte ich keine große Tour vor. Auch keine kleine. Ich wollte einfach in Braunlage bleiben. Nicht einmal Frühstück machte ich mir. Mit völlig nüchternem Magen schlenderte ich die Bismarckstraße hinunter, kaufte mir in meinem Tabakladen meinen Tabak und die Zeitung und setzte mich bei Puppe am Brunnen draußen an einen Tisch. Ich bestellte nicht die große Platte. Dafür war mein Magen am frühen Morgen nicht gewappnet. Ich gab mich mit vier Scheiben Hexenbrot und einer Portion Wacholderschinken zufrieden. Ich fragte allerdings die Kellnerin, ob ich ein gekochtes Ei zusätzlich bekommen könne, ein Fünfminuten-Ei.

Gefühlt oder gemessen?“ fragte sie zurück. Sie kannte also unseren Loriot.

Wie essen Sie denn ihr Ei?“ erwiderte ich.

Das Gelbe weich, das Weiße fest!“ war die Antwort.

Genau so möchte ich es haben. Egal, ob gefühlte und gemessene zwei oder zehn Minuten“ präzisierte ich meine Bestellung. Das Ei kam so, wie ich es erwartet hatte: genau richtig. Beim zweiten Becher Kaffee las ich gemütlich die Zeitung zu Ende. Die Kellnerin störte es nicht, dass ich dort über eine Dreiviertelstunde ohne eine weitere Bestellung saß. Sie kannte mich ja schon, und ich hatte in den vergangenen Wochen so Einiges dort verzehrt. Das Wetter war entgegen der Voraussage schön und heiter, nur vereinzelte Wolken zogen über den Himmel. Es war also ein angenehmes Müßiggehen dort in der Sonne. Es war auch interessant, die vielen Wanderer einer Reisegruppe zu beobachten, die sich an der nahe gelegenen Bushaltestelle um den Einstieg drängten. Teilweise waren die Mitglieder ausstaffiert, als wollten sie den Mount Everest bezwingen. Oder zumindest den K2. Aus den Gesprächsfetzen, die ich aufschnappte, entnahm ich, dass sie von Torfhaus aus auf den Brocken wollten. Du meine Güte, der Weg dort hin ist so gut ausgebaut, dass ich zur Not barfuß und in Badehose, oder auch ohne, mit kaum Schwierigkeiten die Route bewältigen konnte. Sicher ist eine zweckmäßige Kleidung von Nutzen, aber musste es in einem Deutschen Mittelgebirge denn gleich eine Hochgebirgsausrüstung sein? Ich vermisste nur noch die Sauerstoffflaschen.

Endlich brach auch ich auf. Ich trödelte über die Empore der Kunsteisbahn. Die Pächterin des Kiosks stellte mit müdem Gesicht Reklametafeln, Tische und Stühle ins Freie. An der Kasse warteten bereits die ersten Freizeitskater. Hundert Meter weiter schaufelten die Gondeln der Wurmbergbahn die Touristen und Monsterroller nach oben. Noch kam keines dieser Gefährte den Waldweg hinunter gesaust. Genau diesen Weg stieg ich einige hundert Meter empor und hatte große Lust, noch weiter anzusteigen. Außer Geld und Tabak hatte ich nichts bei mir, da wollte ich mich nicht auf weite Ausflüge begeben. Ich ging also nach Braunlage zurück. Ich durchquerte den Speckgürtel der Stadt. Villen in den unterschiedlichsten Baustilen mit großzügigen Grundstücken lagen an stillen Seitenstraßen. Die Gebäude waren allesamt so angelegt, dass von ihnen eine unverbaute Aussicht möglich war. Die Areale waren wirklich groß. Ich kam an der Straße nach Elend wieder in Gebiete, die vom gemeinen Volk bewohnt waren. Ich sah die typischen, mit Schindeln verkleideten Wetterseiten der Fassaden. Hier gab es auch wieder Gastronomiebetriebe. Ich stieg die steile Straße ins Zentrum hinunter und kaufte mir in einem Bioladen eine schweineteure Packung Ostfriesentee. Ich wusste ja noch nicht, dass mich mein Spaziergang bis zu den Supermärkten am Ortsausgang führen würde. Ich ging parallel der Herzog-Wilhelm-Straße nach Osten und wunderte mich über die vielen Schilder, die auf bergbaubezogene Stätten hinwiesen. Auch eine ehemalige Sägemühle, zu damaliger Zeit mit Wasserkraft betrieben und von der nicht mehr eine Spur zu sehen war, war mit einem solchen Schild beehrt. Alle zwanzig Meter war ein Hinweis zu entdecken. Wirkliche Reste des Bergbaus sah ich nicht. Kurz hinter der Einmündung in die Hauptstraße stand der Wirt meines Lieblingscafés vor der Tür und begrüßte mich. Ich vertröstete ihn auf später. Ich wollte noch ein wenig mehr von Braunlage sehen. Ich schlenderte an der braunen Holzkirche vorbei und wunderte mich über die großen Besuchergruppen, die Einlass begehrten. War die Kirche denn so berühmt? Nein, es fand ein Orgelkonzert statt. Vor einem der besten Hotels des Ortes drehte sich ein nachgebautes Wasserrad. Auf der Terrasse feierte eine Junggesellenabschiedsbande fröhliche Urständ. Auf der linken Straßenseite klang aus einer geöffneten Kneipe betrunkenes Gegröle. Drei alte Männer standen um einen runden Tisch herum und hatten halb geleerte Biergläser vor sich stehen. In dieser Kneipe hatte ich einmal einen Abend verbracht. Den einzigen mit Fernsehkonsum. Es fand das Spiel in der Qualifikation zur Championslegue zwischen dem HSV und Arsenal London statt. Es wurde auf Arena übertragen, für das es in der Wohnung keinen Decoder gab. Ich konnte das Spiel nur zu Teilen sehen, weil der Wirt erst aus einer befreundeten Kneipe die Smartcard für das Gerät holen musste. Den Elfmeter und den Platzverweis für Sascha Kirschstein hatte ich dennoch mitbekommen. Ich trank damals vier halbe Liter Haake-Beck-Pils und fühlte mich am nächsten Morgen beschissen. Ich leide höchst selten unter Katererscheinungen, aber dieses Bier hatte mich fertig gemacht.

An der Ecke zur Herzog-Johann-Albrecht-Straße setzte ich mich im Italienischen Restaurant auf die Terrasse. Vor etlichen Jahren hatten Dagmar und ich in diesem Lokal beste Erfahrungen gemacht. Ich bestellte vorweg einen großen Tomatensalat. Er kam genau so, wie ich ihn in Erinnerung hatte: ein Haufen geschnittener Tomaten in einer Schüssel, bar jeglicher Gewürze und Marinaden. Dazu gesellten sich eine Salz-, eine Pfeffermühle, Essig und Öl. Das war´s. Ich machte mir den Salat so zurecht, wie ich es wollte – ich war also nicht vom Geschmack des Kochs abhängig. Eigentlich war die Vorspeise bereits ein Hauptgang, zumal köstliches, frisches Brot dazu gereicht wurde. Das eigentliche Gericht war ein Kalbsschnitzel Milanese mit den typischen italienischen Kartoffeln. Ein Eis zum Nachtisch musste sein. Diesmal kein Erdbeerbecher, sondern ein gemischtes Eis mit drei Kugeln ohne Sahne. Jetzt aber noch zwei doppelte Espresso zum Verteilen. Dann brauchte ich aber Bewegung. Was bot sich besser an, als ein Spaziergang durch den Kurpark? Im welligen Gelände konzentrierten sich die Wege um den zentralen Teich mit der großen Fontäne. Es dauerte nicht lange, und ich hatte alle abgeschritten. Dicht am Kurhaus mit der kleinen Konzertmuschel setzte ich mich auf eine Bank und hörte amüsiert der Darbietung zu. Ein italienischer Barde (war es ein Pseudoitaliener?) mit öligem Haar und bleistiftdünnem Schnurrbart knödelte italienische Canzone der schlimmsten Machart. Es war schon wieder lustig. Das Publikum, zum größten Teil aus recht bejahrten Frauen bestehend, klatschte nach jeder Nummer frenetisch Beifall. Ich hielt es dennoch nicht bis zum Ende des Konzerts aus. Ich verließ den Park und ging zu meinem Lieblingscafé. Ich setzte mich an einen freien Tisch und bestellte die übliche Kombination: Großer Kaffee mit Lübecker Marzipan-Nuss- und russischer Torte. Beim Essen fragte mich eine braun gebrannte, junge Frau, ob sie sich zu mir setzen dürfte. Ich kannte sie vom Sehen, hatte sie schon einige Male mit Wandererkluft an den verschiedenen Bushaltestellen gesehen. Ich fragte mich, was sie denn von mir wolle. Das Erstaunliche war: sie kannte mich. Sie hatte mich vor zwei Jahren in Norwegen getroffen, als ich auf dem Weg von Moi I Rama Richtung Norden war. Sie war vor zwei Jahren auf Schusters Rappen unterwegs. Sie konnte sich sehr gut an mein Rad und die Taschen erinnern. Auch sie hatte mich schon mehrfach in Braunlage gesehen und fragte mich, was ich nach Norwegen ausgerechnet im Harz machte. Ich gab die Frage genau so zurück. Wir waren uns schnell einig, dass ein Deutsches Mittelgebirge durchaus seine eigenen Reize hatte. Sie war schon genau so lange hier wie ich und hatte ebenfalls immer noch nicht genug. Ich hätte mich gern noch weiter mit ihr unterhalten, aber sie wollte zurück in ihre Ferienwohnung zu ihrem Freund. Na, ja, der Altersunterschied war ohnehin zu groß...

Ich muss an diesem Tag wahnsinnig gewesen sein. Ich ging nämlich keineswegs nach Hause, sondern zu Puppe am Brunnen. Ich bestellte tatsächlich erneut den Harzer Brotzeitteller. Und ich aß ihn wieder auf. Jetzt war ich aber wirklich satt. Ich schleppte mich die Bismarckstraße hinauf. Heute machte ich mir kein Abendbrot. Ich nahm mir meinen John Steinbeck, setzte mich auf den Balkon und die Kopfhörer auf und hörte wieder einmal Mahler.

 

XIX. Sieber zum Zweiten

Ich war in den vergangenen Jahren mehrfach im Siebertal gewesen, auch in diesem Urlaub. Aber ich war jedes Mal nur im Ort Sieber selbst gewesen. Das Siebertal in seiner gesamten Länge hatte ich noch nicht durchfahren. Das wollte ich heute nachholen. Ich donnerte also wieder das zehnprozentige Gefälle zum Oderhaus hinunter, rollte gemächlich aus und überquerte über die Erikabrücke die Oder. Ich wollte den Oderstausee auf der Ostseite umrunden, wollte diese tief eingeschnittenen Buchten einmal vom Nahen sehen. Zunächst ging es aber relativ gerade am Ufer des Sees entlang. Obwohl der Weg als Radroute gekennzeichnet war, war er recht ruppig zu fahren. Die Fahrzeuge der Forstindustrie hatten ihre Spuren hinterlassen. Endlich erreichte ich die kleine Landzunge, an der der Weg in die Bucht einschwenkte. Ich setzte mich ans Ufer und schaute über den See. Weit hinten an der Staumauer schwankten die Masten der Segelboote im leichten Wellengang hin und her. Davor schimmerten als weiße Flecken die Wohnmobile und Caravans durch die Bäume. Ob dieser Campingplatz genau so aussah wie damals? Ich würde es sehen. Nach der obligatorischen Zigarettenpause fuhr ich weiter. Ich war erstaunt, doch einige Häuser in diesem entlegenen Flecken zu entdecken. Sie wirkten wie Enklaven. Enklaven, die jedoch ärmlich aussahen. Die Grundstücke waren verwildert, die Häuser ungepflegt. Sie waren zu meiner Überraschung aber noch bewohnt. Es standen Autos in den Auffahrten, Wäsche flatterte auf den Leinen.

Nach Umrunden der Bucht hörte die Bebauung wieder auf. Jetzt auf einer löcherigen Betonpiste setzte ich meinen Weg fort. Links begleitete mich dichter Wald, rechts glitzerte das Wasser des Sees. Am anderen Ufer rumpelten große Holzlaster Bad Lauterberg entgegen. Am Ende der nächsten Bucht versperrte mir eine Schranke den Weg. Sie war mit einem massiven Vorhängeschloss gesichert. Vorsichtig schob ich mein Rad um die Pfosten herum. Wenige Meter weiter bog ein Schotterweg Richtung Jagdkopf und Stöberhai ab. Das musste vielleicht steil sein! Auf meiner Karte durchschnitt die Route in sehr kurzen Abständen die Höhenlinien. Aber zum Glück wollte ich ja dort nicht hinauf. Ich folgte weiter der Uferstraße, die sich weiterhin in desolatem Zustand präsentierte. Schließlich rollte ich am Campingplatz vorbei. Er sah tatsächlich noch so aus wie vor einigen Jahren. Nur auf wenigen Plätzen konnten die Wohnmobile und Caravans stehen. Auf den Terrassen standen tatsächlich noch in der Mehrzahl Zelte, wenn auch teilweise als bombastische Konstruktionen. Hier konnte niemand sich dem anderen vor die Nase stellen, dafür waren die Terrassen zu hoch voneinander abgesetzt. Deshalb liebte ich diesen Platz.

In Bad Lauterberg vollzog ich das bekannte Ritual: Zeitung, Café und zweites Frühstück. Wenn ich schon den einen Campingplatz nach langen Jahren wieder besucht habe, wollte ich auch den zweiten bei Bad Lauterberg noch einmal sehen. Ich radelte durch das Klinik- und Sanatoriumsviertel, um schließlich am Wiesenbeker Teich zu landen. Auf der Stirnseite des Gewässers lag ein gepflegter und moderner, ebenfalls in Terrassen angelegter Platz, der eine freie Sicht über den See gewährleistete. Die Stellplätze waren fast vollständig belegt. Die Geschichte mit dem Fuchs hatte ich ja bei anderer Gelegenheit bereits erzählt. Ich fuhr einmal um den See herum und dann zurück nach Bad Lauterberg. Um in das Siebertal zu gelangen, gab es zwei Möglichkeiten: entweder quer durch das Gebirge oder außen herum über Herzberg. Weil ich doch das gesamte Siebertal fahren wollte, musste es schon die zweite Alternative sein. Ich verließ also die Stadt auf der viel befahrenen Bundesstraße Richtung Westen und war recht froh, bald auf eine Nebenstraße geleitet zu werden. Der Verkehr auf der B243 war einfach mörderisch. Hauptsächlich Lastwagen quälten sich auf den engen Fahrbahnen die Hügel hinauf. Ich durchquerte das Dorf Scharzfeld. Ärmliche Häuser, dicht an die Straße gedrängt, vermittelten den Eindruck von Niedergang. Der einzige Gasthof des Ortes war geschlossen. Die Scheiben der Fenster waren sämtlich eingeworfen. An einer großen Kreuzung ohne jeglichen Verkehr musste ich rechts abbiegen, die Bundesstraße überqueren und anschließend parallel dazu Richtung Herzberg fahren. Wegen der Hanglage konnte ich weit in das Harzvorland hinein blicken. Schon bald sah ich Herzberg vor mir liegen. Ich rollte in die Stadt hinein und fuhr eine halbe Stunde kreuz und quer durch die Straßen. Einfach nur aus Neugier. Ich wollte die Stadt kennenlernen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mich die Stadt so wenig beeindruckt hat, dass ich kaum eine Erinnerung daran habe. Auch der im Zentrum liegende kleine See lockte mich nicht. Ich fuhr daran vorbei. Ich überquerte die Sieber und fuhr auf der Landstraße wieder in den Harz hinein. Zunächst begleiteten mich große Fabrikhallen. Sogar ein stillgelegtes Industriegleis gab es in dem Gelände. Ich hatte keine Ahnung, was dort produziert wurde. Oder in grauer Vorzeit hergestellt worden war. Denn ich sah dort keinen Menschen. Alles wirkte aufgeräumt und leer, wie abgewickelt. Wieder eine Industrieleiche im Harz?

Hinter Herzberg bot sich mir eine großartige Natur dar. Das Tal wurde immer enger, die Hänge immer steiler. Besonders auf der Ostseite ragten grün bewaldete Flanken himmelwärts empor. Die enge und gewundene Straße war fast autofrei. Wer sollte hier auch fahren? Vor mir lagen nur noch Sieber und das weiter entfernte St. Andreasberg, das über Bad Lauterberg viel leichter und schneller zu erreichen war. Hinter einer Baumgruppe verbarg sich ein kleiner Bergsee, der sogar mit einem schmalen Sandstrand protzen konnte. Nach einem weiten Bogen Richtung Osten kam ich am Hotel „Zum Paradies“ vorbei. Der Ort war wirklich paradiesisch. Wie in einem Märchenidyll schmiegte sich das schmucke Gebäude in den Hügel am rechtsseitigen Ufer der Sieber. Aus den großen Panoramafenstern konnte die Gäste auf die hoch aufragende Wand voller Bäume blicken. Allmählich weitete sich das Tal wieder, und die ersten Häuser von Sieber kamen in Sicht. Ich passierte das putzige Waldschwimmbad und hörte schon von Weitem die misstönenden Klänge einer Blaskapelle. Die Amateure der Freiwilligen Feuerwehr gaben auf dem Kirchplatz ein Platzkonzert. War denn heute Sonntag? Nein, das konnte nicht sein, schließlich hatte ich in Bad Lauterberg eine Süddeutsche Zeitung gekauft. Ich blieb nicht stehen, um mir die dilettantisch gespielten Melodien anzuhören. Es war kein schönes Geräusch. Wahrscheinlich durfte und musste jeder oder jede, der oder die ein Instrument wenigstens einigermaßen festhalten konnte, Mitglied der Formation werden, egal ob Mann oder Frau, Kind oder Greis. Die Mannschaftsstärke des Orchesters war nämlich beachtlich. Vielleicht gab es in Sieber ja ein Gesetz, das jedes Gemeindemitglied kraft seiner Geburt zum aktiven Mitglied dieser Musikgruppe kürte. Übrigens versuchten die Musikinstrumententräger mangelnde Notenfestigkeit und Virtuosität durch Lautstärke wett zu machen. Wenn ich dieses Kriterium lediglich auf die Phonzahl beschränkte, gelang ihnen dieses Vorhaben exzellent. Noch weit später hörte ich die schrillen Klänge. Da befand ich mich noch immer innerhalb von Sieber – so lang hingestreckt war dieses Dorf.

Ich bewegte mich immer weiter in den Hochharz hinein, wenn auch tief auf dessen Grund. Denn immer noch war die Steigung der Straße sehr gemäßigt, während die Berge um mich herum immer höher wurden. Plötzlich tat sich vor mir eine völlig ebene, grüne Fläche auf. Wie eine plattgewalzte, längliche Spindel erstreckte sich voraus flaches Wiesenland. Bevor ich es tatsächlich erreichte, bog die Straße nach rechts ab und erklomm in engen Serpentinen die Höhen. Dort ging es nach St. Andreasberg. Ich hatte keine Lust, diese verdammt steilen Straßen dieser Bergstadt empor zu stampfen und fuhr geradeaus weiter. Auf einem schmalen und asphaltierten Wirtschaftsweg folgte ich zunächst noch dem Lauf der Sieber. Ich machte mir schon Sorgen: irgendwann musste doch auch ich in die Höhe gelangen! Je länger ich dieses entspannte Radfahren genießen konnte, desto steiler musste doch der Aufstieg werden. Es war egal, welches Ziel ich wählte, St. Andreasberg oder Stieglitzecke, ich musste hoch hinauf. Und es dauerte auch nicht lange, und der immer noch geteerte Weg machte sich an, die Hügel zu erklimmen. Und ich folgte ihm brav. Der Aufstieg wurde noch dadurch erschwert, dass hier wahrscheinlich seit Äonen kein Kraftfahrzeug mehr gefahren war. Der Asphalt war rissig, mit Löchern durchsetzt, von kleinen Felsbrocken übersät, und an vielen Stellen drangen Unkraut und junge Bäume durch die Fahrbahnoberfläche. Eigentlich war es ja keine Behinderung: Wegen der vielen Schikanen musste in vielen Kurven dort entlang fahren: Serpentinen auf Serpentinen – im wahrsten Sinne des Wortes. Muss ich euch erzählen, dass es mir dennoch unbändigen Spaß machte? Und eine besondere Freude empfand ich, als ich endlich nach einer geraden und sogar ein wenig abschüssigen Strecke das Haus Sonnenberg erreichte. Mein Haus Sonnenberg. Jetzt wusste ich, dass der Rest des Weges sehr unangestrengt werden würde. Ich ließ mich langsam zum Rehberger Grabenhaus hinunter rollen. Die Terrasse war zwar gut besetzt, aber ich fand neben einem Paar aus Gütersloh noch einen schönen Platz und bestellte eine typische Harzer Spezialität: Bratheringe mit Bratkartoffeln... Sie waren nicht so gut wie am Ratzeburger See.

Die Leute aus Westfalen waren den zweiten Tag im Harz, wohnten im Hotel Maritim in Braunlage und hatten keine Ahnung, was sie hier erwartete. Sie hatten ihr Auto auf dem nahen Parkplatz abgestellt und wussten nicht so recht, was sie eigentlich in dieser Gegend unternehmen sollten. Sie waren der Meinung, dass der Harz doch für Ausflüge mit dem Wagen eigentlich viel zu klein wäre. Natürlich erwiderte ich ihnen, dass sie – verdammt noch Mal – den Harz per Pedes erkunden sollten. Sie schauten mich verständnislos an. „Zu Fuß?“ fragten sie ungläubig. „Wir können mit dem Wagen doch alles sehen“.

Kennen Sie die Hahnenkleeklippen, die Achtermannshöhe, das obere Odertal, den Ottofelsen und den Rehberger Graben?“ fragte ich zurück.

Nein, wie kommen wir dahin?“ wollte der Mann neugierig wissen und schob seinen Bierbauch näher an mich heran.

Bis auf die Ottofelsen können Sie alle Orte leicht von Braunlage erreichen, für den würde ich zum Bahnhof Drei Annen-Hohne fahren, das Auto dort parken und dann zum Ottofelsen wandern. Er ist ungefähr vier Kilometer entfernt.“

Nein, das ist mir zu weit. Zeigen Sie mir mal die anderen Sachen.“ Mit diesen Worten deutete er auf meine große Harzkarte an der Seite meines Rucksackes. Ich faltete den voluminösen Plan auseinander und zeigte die Sehenswürdigkeiten.

Um Gottes Wollen, da gehen wir ja Stunden!“ rief die Frau entsetzt.

Ja, das werden Sie wohl.“ gab ich zurück.

Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage!“ lehnte sie entsetzt ab. Der Mann trank sein Pils aus, zahlte, und die beiden trugen ihre schweren Körper watschelnd in Richtung Parkplatz. Ich trank noch einen abschließenden Kaffee und zahlte ebenfalls. Wenn ich schon einmal hier war, wollte ich wieder den Weg entlang des Rehberger Grabens fahren. Mit ein wenig Wehmut betrachtete ich den schmalen Wasserlauf, die kleinen, steinernen Brücken darüber, die drüben liegenden Hahnenkleeklippen, den Goetheplatz, das sich tief unter mir hinziehende obere Odertal, den Ausblick auf den fernen Stöberhai und den Jagdkopf. Lange würde ich nicht mehr im Harz bleiben können, die Arbeit rief. Ich wusste zu jenem Zeitpunkt nicht, dass es noch fünf Jahre dauern würde, bis ich wieder einmal in den Harz kommen sollte.

Eine Rauchpause an der Köthe am Damm des Oderteiches war Pflicht. Für die Rückfahrt nach Braunlage nutzte ich nicht die Bundesstraße, sondern fuhr auf dem Waldweg am Hang hoch über dem Tal. Ich wollte noch so viel wie möglich von diesem faszinierenden Teil Deutschlands sehen. Ich wunderte mich wieder einmal darüber, dass ich so wenig Wanderer traf. Bis auf den Brockenweg lagen die Wege zumeist verlassen da. Was machten denn die Leute, die in den Hotels und Pensionen der Städte logierten? Blieben sie auf ihren Zimmern, ihren Balkons? Oder gingen sie nur so weit, den nächsten gastronomischen Betrieb zu erreichen? Es war mir einfach unerklärlich. Auf der anderen Seite war es mir nur recht. Ich wollte doch die Einsamkeit, die Stille. So musste ich keine Rücksicht auf Fußgänger nehmen und mich nicht mit wild gewordenen Mountainbike-Fahrern herum schlagen. Die Fahrt zurück war also der reine Genuss. Um so mehr, weil ich von oben, vom Wald die Herzog-Johann-Albrecht-Straße erreichte und nicht von unten herauf stampfen musste. Noch nicht. Später sehr wohl. Denn was war eine Fahrradtour im Harz ohne die belohnende russische und Lübecker Marzipantorte? Also hinunter zur Hauptstraße zu meinem Lieblingscafé. Der Wirt war heute nicht da. Seine halbwüchsige Tochter stand hinter dem Tresen. Nach meiner Begrüßung fragte sie sofort: „Russland und Lübeck?“ Was möchte ihr Vater wohl über mich erzählt haben? „Da ist so ein Typ mit Brille und Bart aus Hamburg, der kommt entweder mit einem alten Fahrrad oder einem Rucksack, setzt sich auf die Terrasse, schlägt die Süddeutsche Zeitung auf, bestellt sich Lübecker Marzipan- und russische Torte, bleibt ungefähr eine Stunde sitzen und spricht während dieser Zeit nicht ein einziges Wort.“ So mag es wohl geklungen haben.

Der Vollständigkeit halber: Auch an diesem Abend kochte ich mir noch ein Mahl...

 

XX. Und zum letzten Mal der Brocken

Jetzt nahm ich mir wirklich etwas vor: ich wollte von Wernigerode zurück nach Braunlage wandern. Nicht den direkten Weg, nein, über den Brocken. Im allerersten Morgenlicht stand ich auf, frühstückte und packte den Rucksack zum Bersten voll mit Vorräten. Ich wusste, es würde ein langer und weiter Weg werden. Ich nahm den ersten Bus nach Wernigerode, fuhr durch Hasserode hindurch und stieg tatsächlich erst am Westerntor aus. Wenn schon, denn schon. Nun hatte ich wirklich nicht vor, auf der Straße durch ganz Hasserode zurück zu trippeln. Leider blieb mir davon die Hälfte nicht erspart. Ich weiß nicht, ob es wirklich von Nachteil war. Der Weg führte mich durch eine gewundene Gasse mit alten Häusern in typischer Harzmanier erbaut, mit Schindeln an den Fassaden und höchstens zweistöckig. Auf der mit Kopfstein gepflasterten Straße parkten nur wenige Autos. Der Gehweg war mit großen, rechteckigen Platten ausgelegt, viele gesprungen und abgebröckelt, die Stöße mit unfallträchtigen Versätzen. Sollte ich nun vorsichtig sein, nur auf meine Füße achten und nichts von den Häusern sehen? Oder ging ich das Risiko ein, den Blick über die Fassaden schweifen zu lassen und auf die Schnauze zu fallen?Ich fand einen recht guten Kompromiss. Ich stolperte nicht, und bekam auch einiges von meiner Umgebung mit. Dieses Wohngebiet außerhalb des historischen Stadtkerns hatte seinen ganz eigenen Reiz. Von Fachwerk war hier nichts zu sehen. Einfache Bauart herrschte hier vor. Es gab auch keinen touristischen Rummel wie im Zentrum. Hier wurde gewohnt, keine Geschäfte gemacht. Entsprechend leblos war es auf den Straßen. Die meisten Leute gingen wohl bereits der Arbeit nach. Eine gekrümmte, alte Frau fegte mit einem Reisigbesen das Trottoir vor der Haustür. Ihr Haar war unter einem dicken, wollenen Kopftuch verborgen. Bereits vor ihrer Tätigkeit hatte ich keinen Schmutz entdecken können. Die Frau wollte wohl ganz sicher gehen. Was wäre denn, wenn die Nachbarn schlecht über sie redeten? Das konnte sie nicht zulassen. Noch lange, nachdem ich bei ihr vorbei war, hörte ich hinter mir das „Ssst, ssst, ssst“ des Reisigbesens. Ihr Reinigungsgeräusch wurde bald vom Rattern und Zischen der Brockenbahn übertönt, die jenseits von Holtemme und Hauptstraße Wernigerode verließ. Allmählich wurden die Häuser weniger. Rechts sah ich bereits nur noch Wald. Die Straße machte ein Biegung nach links. Ich ging auf einem schmalen Wanderweg weiter. Unvermittelt stand ich vor einem kleinen Bahnhof der Harzer Schmalspurbahnen. Es war die letzte Station im Stadtgebiet von Wernigerode und Hasserode, bevor sich die Bahn auf den steilen Weg zum Brocken machte.

Ein Stück noch führte mich der Weg parallel zur Bahntrasse. Dann beschrieben die Schienen einen engen Bogen. Die Kurve zum Bahnhof Steinerne Renne war sehr eng. Die Station lag jedoch ein weites Stück von den Katarakten entfernt. Der Weg dort hin wäre meinem Paar aus Gütersloh, die ich im Rehberger Grabenhaus getroffen hatte, mit Sicherheit zu anstrengend gewesen. Ich genoss ihn einfach. Bevor ich zu den kleinen Wasserfällen kam, erreichte ich eine weitere Besonderheit auf dieser Wanderung, den Silbernen Mann. Hier gab es einmal ein Bergwerk, um das sich eine der vielen Legenden des Harzes rankte. Als der erste Stollen in den Berg getrieben wurde, fanden die Bergleute einen Schädel aus reinem Silber. Als sie das taube Gestein weiter abschlugen, kam ein vollständiger Körper zum Vorschein. Es handelte sich um den sagenhaften Bergmönch. Aus Ehrfurcht und Respekt trieben die Bergleute den Sollen an dieser Stelle nicht weiter, sondern arbeiteten sich sternförmig in verschiedene Richtungen vor und machten dadurch dieses Bergwerk zum ertragreichsten des gesamten Harzes. Aber der Mensch in seiner Habsucht kann es ja nicht lassen: ein allzu gieriger Bergmann schlug der Gestalt einen Finger ab und wollte ihn – nun, ja – versilbern. Auf der Stelle schoss aus der Wunde ein so mächtiger Wasserstrahl, dass die Stollen überflutet wurden. Nur mit viel Glück erreichten die Bergleute wieder das Freie. Noch lange Zeit nach diesem Vorfall soll aus dem Berg dort Wasser geschossen sein. Die Stollen wurden nie wieder in Betrieb genommen. Heutzutage weist auf das Geschehen lediglich eine Informationstafel hin. Diesen Ort hatte jedoch noch eine Besonderheit zu bieten. Der Weg beschrieb eine enge Kurve zurück und erlaubte einen tollen Blick über die bunten Dächer von Wernigerode.

Eine längere Pause als eine Zigarettenlänge erlaubte ich mir nicht. Ich hatte nämlich keine Ahnung, wie lange ich zum Brocken hinauf benötigen und endlich wieder in Braunlage ankommen würde. Wenn es zu spät werden würde, wollte ich den Weg abkürzen oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Mein Stolz ließ das durchaus zu. Ich machte mich auf zur Steinernen Renne. Ich wollte doch endlich einmal diese Wasserfälle sehen. Und ich wurde nicht enttäuscht. Ich versuchte nämlich gar nicht erst, einen Vergleich zu Norwegen oder den Alpen herzustellen, das hätte den Eindruck völlig verfälscht. So aber waren die kleinen Stromschnellen, die Katarakte, die Wasserfälle genau richtig. Die Holtemme sprang über große Felsbrocken, suchte sich ihren Weg durch enge Felsspalten und schäumte teilweise wieder bergauf. Und eingebettet war dieses Naturdenkmal in die großartige Wald- und Bergwelt des Harzes. Seid nicht zu sehr erstaunt: ich besuchte nicht das Gasthaus, konsumierte diesmal nicht Speisen und Getränke. Ich hatte so viel Dinge zum Essen mit, dass ich unbedingt ein umfangreiches Picknick veranstalten musste, um den Rucksack ein wenig leichter zu machen. Ich ging die Stück die Route zum Ottofelsen, setzte mich auf einen der großen Riesenbauklötze und schlemmte nach Herzenslust. Jetzt war mir die Zeit egal. Toll war wieder, dass ich ins Harzvorland blicken konnte. Um mich herum nur das Rauschen der Baumwipfel und ein gelegentliches, fernes Pfeifen einer Dampflokomotive.

Ich fühlte mich gestärkt, um jetzt ernsthaft den Brocken angehen zu können. Ich ging den Weg hinauf, den ich vor (wie viel?) Tagen mit dem Rad gefahren war, als ich von Ilsenburg herauf gekommen war. Ich folgte ihm weiter bis zum Stern und war genauso entsetzt über die Mondlandschaft, die ich dort vor fand, wie beim ersten Mal. Diesmal bog ich nicht links ab, ich ging geradeaus weiter. Ich überquerte den Schlüsselbach und folgte weiter auf einem sehr schmalen Pfad den Höhenlinien. Aussicht gab es keine, dafür war der Wald zu dicht. Ich hatte den Eindruck, seit langer Zeit der erste zu sein, der hier entlang ging. Um so mehr war ich erstaunt, auf dieser Route zwei sehr solide Schutzhütten zu finden. Die eine befand sich bei der Stempelsbuche, an einer harztypischen Wegkreuzung. Der Baum war auf meiner Karte als Naturdenkmal eingezeichnet. Woher der Name stammt, weiß ich nicht. Jedenfalls war er nicht mehr vorhanden. Es stand nur noch ein verwitterter Baumstumpf an der Schutzhütte. Jetzt wurde der Weg auch wieder breiter. Ich hatte den Heinrich-Heine-Weg erreicht. Auf der Karte trug er allerdings den Namen Hermannstraße. Dieser Begriff klang mir leicht übertrieben. Wer sollte denn auf diesem Ziegenpfad mit welchem Fahrzeug fahren? Es ging jetzt auch wieder steiler bergan. Bei den Hermannsklippen, deren Besichtigung ich ausließ, bog der Weg scharf nach Süden ab, um auf direktem Wege zum Brocken zu führen. Sagte ich eben, dass der Weg steiler wurde? Wenn der Begriff steil angebracht war, dann jetzt, auf dem letzten Stück des Anstiegs. Noch eine Gruppe von Klippen passierte ich, die Bismarckklippen. Auch diese sahen mich nicht. Ich konzentrierte mich auf den Aufstieg. Mit teilweise mehr als zwanzigprozentiger Steigung stieg die Route hinauf. Der Untergrund bestand aus den wohlbekannten, gelöcherten Betonplatten, die das Gehen nicht gerade erleichterten. Aber auch dieser Weg hatte seine gute Seite: die Bäume standen ein wenig zurück, so konnte ich von oben direkt auf den nahe gelegenen Ecker-Stausee und Bad Harzburg blicken. Schnurgerade ging der Weg bergauf. Jetzt war es wirklich anstrengend. Ich war froh, als ich endlich den Gipfel erreicht hatte.

Ich tauchte in den Trubel am Brocken ein. Nach dieser recht einsamen Wanderung fühlte ich mich dort oben überhaupt nicht wohl. Ich verharrte doch ein wenig, um eine Thüringer Knacker zu genießen. Ich hatte noch genug Proviant bei mir, um ein opulentes Picknick zu veranstalten. Aber eine Thüringer Knacker... Ich ging noch einmal um das Brockenplateau herum. Dann verließ ich den wuseligen Platz. Zunächst wurde es nicht besser. Der Goetheweg Richtung Torfhaus war belebt wie gewohnt. Wieder sah ich Badelatschen, Turnschuhe mit nicht zugebundenen Schnürsenkeln, schlabberige Jogginghosen, hautenge, den Atem einschnürende Jeans, nackte Haut ober- und unterhalb eines Bikini-Oberteils, hochalpine Wanderausrüstungen, vernünftige Kleidung, sogar einen Mann mit Unterhose, wenn es denn eine war. Vielleicht waren es auch Tigerenten-Boxershorts. Auch die üblichen, rücksichtslosen Mountainbike-Fahrer mit zusammen gekniffenen Augen und verzerrten Mündern fehlten nicht. Muss ich auf einem reinen Wanderweg unbedingt mir einem Affenzahn an den Menschen vorbei rasen, den Trinkbeutel auf dem Rücken, den Versorgungsschlauch zwischen den Zähnen? Muss ich nicht. Eigentlich wollte ich nach dem steilen Gefälle hinter dem Bahnhof Brockenweg Richtung Dreieckiger Pfahl abbiegen, aber was tat ich? Mich ritt der Teufel. Ich ging weiter den Goetheweg entlang Richtung Torfhaus. Ich wollte dort nicht den Bus nehmen, nein, ich fühlte mich noch so wohl, dass ich auf dem Kaiserweg nach Braunlage gelangen wollte. Es war auch noch nicht so spät, dass ich im Dunklen zurück sein würde. Am Picknickplatz bei den Quitschenbergklippen machte ich die ersehnte, ausgiebige Pause. Nur noch zwei Becher Tee in der Thermoskanne? Tatsächlich. Ich spulte dennoch das volle Programm ab, mit vorbereiteten Stullen, Tomaten, Zwiebeln, Obst und zwei sorgfältig in Frischhaltefolie konservierten Gewürzgurken. Ich wusste genau, dass mich nach kurzer Zeit der Durst überfallen würde. Aber ich kannte eine Verpflegungsstation, die nicht all zu weit entfernt war.

Nach der Pause folgte ich nicht weiter dem Goetheweg. Ich benutzte den Kaiserweg, einem der bekanntesten Wanderwege im Harz. Ich finde, dass der Name ein wenig irreführend ist. Er gehört zu der Gruppe Deutscher Wege der Kaiser und Könige. Ich glaube kaum, dass hier jemals ein Kaiser oder König gewandert ist. Auf einem holprigem und steinigem Pfad stolperte ich an einer weiteren Gruppe von Klippen mit dem schrulligen Namen Hopfensäcke vorbei. Jetzt war ich wieder fast allein. Die Leute, die im Harz wandern, wollen wohl zumeist nur auf den Brocken, ein anderes Ziel haben sie nicht im Sinn. Der kleine Bach, der mich begleitete, war ein Quellzufluss des Oderteichs und von erstaunlich brauner Farbe. Nicht das Wasser, das war kristallklar. Der Grund war moorbraun. Schließlich befand ich mich in einem ausgedehnten Hochmoorgebiet. Es war ein wunderbarer Weg. Der einzige Missklang war der Blick auf das Brockenfeld mit den abgestorbenen Bäumen.

In Oderbrück kam ich mit Not an den auf der Speisekarte angebotenen Harzer Spezialitäten vorbei. Ich kaufte lediglich eine große Flasche Mineralwasser. Und machte mich auf den weiteren Weg. Ich war sehr froh, dass ich wasserfeste Wanderschuhe aus Goretex trug. Teilweise hatte ich das Gefühl, durch einen Bach zu waten. Der Oderteich wurde hier durch viele Gewässer gespeist, die teilweise quer über den Weg flossen. Auf einem Stück kurz vor Königskrug war diese alte Route sogar gepflastert! Es handelte sich um den historischen Straßenbelag aus groben Feldsteinen, auf dem die damaligen Karren wahrscheinlich nur mit größten Schwierigkeiten von Ochsen (oder waren es Pferde?) über die Unebenheiten gezerrt wurden. Schließlich handelte es sich hier nicht nur um einen Wander-, sondern auch um einen alten Handelsweg. In Königskrug konnte ich schließlich nicht widerstehen. Ich setzte mich in den weitläufigen Garten und bestellte mir einen der großen berühmten Windbeutel. Er war köstlich und in keiner Weise sättigend. Wovon denn auch? Jetzt musste ich aber wirklich sehen, dass ich nach Hause kam. Ich merkte allmählich meine Beine und Füße. Ich wusste nicht, wie viele Kilometer ich zurück gelegt hatte, aber es konnten nicht wenige gewesen sein. Ich schaute mir die vorzeitlichen Wallanlagen kurz vor Braunlage an, von denen fast nichts mehr zu sehen war. Sie interessierten mich eigentlich überhaupt nicht. Ich nutzte sie lediglich für eine weitere Zigarettenpause. Obwohl ich ein wirklich starker Raucher bin, rauche ich niemals während des Gehens oder Radfahrens. Ich suche mir stets einen Platz, an dem ich gefahrlos nach dem Rauchgenuss die Zigarette ausdrücken kann. Ich lasse übrigens die Kippen nicht liegen, obwohl ich selbstgedrehte Zigaretten ohne Filter rauche, deren Rückstände angeblich ohne Bedenken zurück gelassen werden können. Ich trage bei Wanderungen und Radtouren immer einen kleinen Aschenbecher mit Deckel bei mir, in dem ich die Kippen verstaue. Ich kam heute wieder über die Höhe in Braunlage an, musste also keine Steigungen erklimmen. Es war aber doch schon so spät, und ich war so erschöpft, dass ich auf den üblichen Besuch des Zentrums verzichtete und mich erst einmal für eine Stunde auf das Sofa legte. Natürlich kochte ich auch noch an diesem Abend.

 

XXI. Die Rückfahrt

Ich hatte klug eingekauft. Beim Frühstück vertilgte ich den Rest meiner Lebensmittel. Ich machte die Wohnung noch einmal sauber, obwohl ich für die Endreinigung meinen Beitrag geleistet hatte. Ich packte meine Siebensachen zusammen, belud mein Rad und verließ Braunlage auf der Zubringerstraße zur B4. Es war ein tüchtiges Stück Arbeitet den Berg hinauf. Der Rest bis Torfhaus war weitaus entspannter. Selbstverständlich musste ich dort oben noch eine Wurst und einen Kaffee haben. Dann ging es aber los! Es lagen zehn Kilometer Abfahrt vor mir mit einem durchschnittlichen Gefälle von zehn Prozent. Es war eine Wucht, ein Wahnsinn! Auf der vierspurigen Straße herrschte kaum Verkehr. Ich hatte sie fast für mich allein. In weiten Bögen ging es in rasender Geschwindigkeit durch dichten Wald bergab, die Bremsen waren nur Dekoration. Bis zu den ersten Häusern von Bad Harzburg musste ich nicht ein einziges Mal in die Pedale treten. Auf der gesamten Strecke herrschte eine Geschwindigkeitsbegrenzung von sechzig Kilometern in der Stunde. Geblitzt werden hätte ich nicht dürfen. Ich schoss an einer Kolonne von Kieslastern vorbei. Sie hielten sich an das Verbot. Sie auf der linken Spur überholend grinste ich den verdutzten Fahrern zu. Winken mochte ich nicht. Es war mir zu gefährlich.

In Bad Harzburg rollte ich allmählich aus und bog von der Bundesstraße in die Fußgängerzone ein. Hatte mir ein Bekannter nicht von einer fantastischen Pizza erzählt, die er dort einmal gegessen hatte? Da hatte ich jetzt Lust zu. Pizza im Harz? Nun, ich hatte ja inzwischen reichlich Harzer Spezialitäten genießen dürfen, jetzt durfte es auch einmal etwas untypisches sein. Ich fand auch das italienische Restaurant, das mir der Freund empfohlen hatte. Das Schöne war: es besaß eine Terrasse unter großen Kastanien. Ich setzte mich an einen freien Tisch und studierte die Speisekarte. Die Auswahl an Pizzen war einfach enorm. Es gab Belagskombinationen, die ich nur als höchst exotisch, ja, gewagt nennen kann. Belgischer Kochschinken mit Rucola und Mandarinen. Mandarinen! Spiegelei und Rosenkohl. Rosenkohl im Sommer. Salami mit Chilischoten und Zuckerrüben. Du meine Güte! Ich bestellte ein Exemplar mit Serranoschinken, Spargel, grünen Bohnen und Sauce Bernaise. Ich schaute die Straße entlang. Auf fast jedem zweiten Sonnenschirm der vielen Gastronomiebetriebe prangte der Schriftzug von Schöfferhofer, meinem Lieblingsbier. Tollkühn bestellte ich ein dunkles Hefeweizen. Schließlich hatte ich nur noch eine sehr kurze Fahrt zum Bahnhof vor mir, da durfte ich mir schon einmal ein Bier leisten. Ach ja – die Pizza war wirklich vorzüglich. Knuspriger, dünner Teig, saftiger Schinken, aromatischer Spargel, knackige Bohnen, eine allerdings etwas zitronige Sauce Bernaise. Jetzt rächte sich der Genuss des Hefeweizens. Ich wurde hundemüde. Auch der abschließende Kaffee half nichts. Dämmerig schob ich das Rad durch die Fußgängerzone, radelte den Klacks zum Bahnhof, kaufte mir eine Fahrkarte und setzte mich auf eine Bank. Ich schlief auf der Stelle ein. Es machte nichts. Ich hatte noch ausreichend Zeit bis zur Abfahrt meines Zuges. Als ich wieder erwachte – ich mag vielleicht eine Viertelstunde gedöst haben -, holte ich mir sofort aus dem Bahnhofskiosk einen großen Kaffee, um wieder einigermaßen klar zu werden.

Als die Abfahrtzeit näher rückte, lief der Zug am Bahnsteig ein. Nun war es nicht die übliche Nahverkehrsgarnitur mit einer Diesellokomotive und etlichen Waggons, nein, es war ein zweiteiliger Triebwagenzug. Und auf dem Perron warteten zwei Schulklassen auf ihre Weiterfahrt! Das Chaos war vorprogrammiert. Auf einem Abstellgleis stand ungenutzt eine weitere Einheit. Flexibilität wird bei der Deutschen Bahn nicht groß geschrieben. Ich zwängte also mein Fahrrad mit den vier Taschen in den Gepäck-, Fahrrad- und Kinderwagenbereich, der bereits mit allen möglichen Taschen und Rucksäcken voll gestellt war. Beim Einsteigen hatte ich mich nicht am allgemeinen Drängeln und Schubsen beteiligt. Sollten doch andere den Triumph genießen, als erste einen Sitzplatz ergattert zu haben. Jedenfalls stand ich bis Hannover. Die Fahrt mit dem Metronom nach Hamburg gestaltete sich dann problemlos und bequem.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.08.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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