Thora Mertens

Wege

Ich schlendere über die Strassen, ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht.Sanft rieselt der Schnee auf die Erde, die Luft ist weiss, dabei aber doch so klar, klarer als bei Sonnenschein an warmen Sommertagen. Zu beiden Seiten der Strasse stehen Häuser, genau sehe ich sie nicht. Gemütlich sehen die erleuchteten Fenster dennoch aus. Unter den Straßenlampen der Kleinstadt sieht man die Flocken tanzen. Ich geniesse den Anblick der sich im Licht der Strassenlaternen abspielt. Der Schnee scheint so frei zu sein. Nicht viele Leute begegnen mir, aber diese Wenigen scheinen alle gleich. Gut verpackt und geduckt beeilen sie sich einen Unterstand zu erreichen oder in ein Haus schlüpfen zu können. Ein Mann mit Koffer bleibt allerdings vor mir stehen, ich erkenne ihn als meinen Arzt. „Kind, du holst dir hier draussen im Schneegestöber noch den Tod. Beeil dich damit du ins Warme kommst. Du warst doch erst krank“ Dann geht auch er weiter.
Wirklich ein netter Mann. Einer der sehr wenigen Menschen die mir ans Herz gewachsen sind. Er besucht uns oft, ein Freund meines Vaters, schade dass es nicht mehr wie ihn gibt. Er lügt nicht. Jedenfalls habe ich ihn nie lügen hören, er ist nicht immer offen über sich, manchmal schweigt er, aber er lügt nicht, nur das zählt. Alle anderen lügen. Er ist irgendwie eine Art Freund geworden. Sonst habe ich nur einen Freund. Oft besuche ich ihn und rede meist lange zu ihm. Aber er antwortet nicht, vielleicht wird er später wieder antworten. Auf alle Fragen die ich ihm gestellt habe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er dann die Antworten kennt. Für mich hat er immer nach Antworten gesucht, er hat auch nie gelogen. Ich kenne ihn schon so lange, aber doch zu kurz.
Morgen ist wieder Schule. Ich will nicht dahin, dort sind keine Freunde zu finden, sie lügen da auch alle. Das hat er auch immer gesagt, er mochte sie auch nicht. Keiner. Aber den Arzt, ja den hat er auch gemocht. Ich nähere mich dem Ende der Kleinstadt. Ich bin hier aufgewachsen ,aber ich bin sicher dass ich hier nicht für immer bleiben will. Ich mag sie nicht, es sind zu viele Lügen hier.
Als ich die Stadt über eine Nebenstrasse verlassen habe, biege ich sehr bald in einen Feldweg ein. Ein leichter Flaum Schnee liegt schon auf ihm. Er hat auch Schnee gemocht. Über den Feldweg gehe ich in den Wald, vor einem Jahr ist er noch hier neben mir gegangen. Er hat mir erzählt, wie so oft, dass er so gerne fliegen könnte, er hat davon erzählt seit ich ihn kenne. Aber immer haben ihm Flügel gefehlt. Eine Engel kann ohne Flügel doch nicht glücklich sein. Aber doch. Vor einem Jahr, ja genau vor einem Jahr hat er mir gesagt dass er doch manchmal glücklich gewesen war. Wenn er neben mir war, war er glücklich hat er gesagt. Und er hat mir gesagt, dass er bald fliegen könnte. Ich hab ihm geglaubt, denn er hat nicht gelogen. Ich komme an die Brücke. Sie ist nicht hoch. Aber der Fluss über den sie fliesst, der soll tief sein. Er hat das immer gesagt, ich habe ihm geglaubt, die anderen nicht. Sie haben uns selten etwas geglaubt. Wir beiden haben ihnen nie gepasst, und wir haben nicht zu ihnen gepasst. Dort hinten ist der Wald. Ich habe oft mit ihm dort drin gesessen und geredet. Ein schöner Wald. Auch einen hohen Felsen gibt es da. Er überragt die Bäume um viele Meter. Hier gibt es viele Felsen, aber dieser hier ist der schönste, an einer Seite fiel er steil ab. Da, da würde ich gern einmal fliegen, hat er immer gesagt. Ich bin im Wald angekommen, und laufe zum Felsen. Vor der Steilwand treffe ich dich. Ein Kreuz steht hier und es ist ruhig, jetzt werde ich nur kurz mit dir reden. Ich fühle mich wohl bei ihm und erzähle ihm vom Fliegen, dass auch ich jetzt fliegen will, dass ich wieder mehr Zeit mit ihm haben will. Und ich bedanke mich, dass er mir gezeigt hat wie man fliegt. Ich habe lange gebraucht, um es wirklich zu begreifen, wie schön fliegen wohl ist. Jetzt will ich auch fliegen, ja ich will es wirklich. Ich hoffe du nimmst es mir nicht übel dass ich dir folgen will. Aber du hast gesagt, fliegen muss schön sein. Und du hast nicht gelogen, und darum glaube ich dir. Ich gehe erst am Felsen entlang und steige dann daran hoch. Wie schön es ist wenn einem der Schnee dabei entgegenrieselt. Als er hier heraufgestiegen ist hat es auch geschneit, das weiss ich. Der Felsen färbt sich rot unter meinen Händen, aber ich spüre nichts, der Schnee hat sie mit Kälte taub gemacht. Jetzt wird man sogar davon belogen, es sollte weh tun. Ich komme oben an. Ich hoffe meine Pflegerin hat den Brief gefunden. Ich hoffe sie glaubt mir die Lüge, dass sie mir am Herzen lag und dass es mir sehr Leid tun zu gehen. Ich habe gelogen, aber ich hoffe du verzeihst es mir. Die Pflegerin war an Lügen gewohnt, es wäre nicht gut gewesen, sie so plötzlich an Wahrheit gewöhnen zu wollen. Nur dem Arzt, dem habe ich einen Brief geschickt in dem Die Wahrheit stand. Habe geschrieben, dass ich es gut machen werde, und dass ich es nun gut machen werde. Nicht wie im letzten Jahr. Und dass ich ihn mochte, und dass ich gelogen habe bei meiner Pflegerin. Und dass er meinem Vater den Brief zeigen soll, in dem Brief steht nämlich auch, dass ich meinen Vater gemocht habe, und dass dies keine Lüge ist. Und ich meinem Vater dankbar bin, dass mein Vater für mich gesorgt hat, und als letzte Bitte habe ich geschrieben, dass ich doch bitte dir bleiben darf. Ich hoffe, auch jetzt bist du noch glücklich wenn ich bei dir bin.
Ich lächele vorfreudig, hoffe auf ein Wiedersehen mit dir und dann fliege ich auch und hoffe, dass ich bald bei dir bin und du mir wieder antwortest, und dass dort keine Lügen mehr sind.

Und nicht sehr viel später wurde am Fusse einer Steilwand neben einem Kreuz der tote Körper eines jungen Mädchens gefunden. Er war noch warm und ein leichtes Lächeln war noch auf ihrem Gesicht. Neugierige Gesichter begafften den Körper, gespielte Erschütterung auf den Gesichter, abermals Lügen...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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