Christa Astl

Edwins Reise zur Sonne



 
Edwin war ein besonderes Kind. Zwar war er ein armes Kind, weil er seine Hände und Beine nicht richtig bewegen konnte, aber er konnte sich wunderschöne und spannende Geschichten ausdenken, die er dann seiner kleinen Schwester erzählte, wenn diese von der Schule heimkam. Sie musste ihm oft seine Schulaufgaben mitbringen, die er dann zu Hause nachmachte, weil ihm der lange Schultag zu anstrengend war. Oft schrieb er für die Lehrerin eines seiner erfundenen Märchen, und die las es dann der Klasse vor.
Vor dem Haus wuchsen gerade die Sonnenblumen. Hoch aufgereckt standen sie und streckten sich der Sonne entgegen. Und dann begannen sie ihre Blüten zu entfalten, sie sahen nun selber aus wie kleine Sonnen.
Kein Wunder, wenn Edwin nun ein Sonnenmärchen schreiben wollte. Er möchte gerne die Sonne besuchen. Aber wie soll er denn hinauf kommen? In seiner Fantasie stellte er eine Leiter auf, aber die reichte kaum bis zum untersten Sonnenstrahl. Während er zu den großen Blumen hinauf schaute, kam ihm vor, als bewegte sich eine Sonnenblume, es sah aus, als würde sie ihm zuwinken. Tatsächlich saß da drauf ein winziges Kerlchen mit braunen Höschen und sonnenblumengelbem Hemd. "Ich kann dir einen Wunsch erfüllen", sprach es, "aber wohlgemerkt, nur einen!" Natürlich wusste Edwin sofort, was er sich wünschte, und ohne lange zu überlegen, sagte er: "Eine Reise zur Sonne!"
"Komm morgen früh, wenn noch alles schläft, hinaus zu dieser Sonnenblume, ich gieße sie heute Nacht mit meinem Zauberwasser, so dass sie morgen bis zur Sonne wächst", versprach der Zwerg.
Edwin war zwar  etwas krank, aber diese Reise wollte er unbedingt machen.
Also schlich er sich, als es gerade zu dämmern begann, aus dem Haus und in den Garten. Tatsächlich, da wuchs ein gewaltiger Sonnenblumenbaum! So dick, dass er ihn mit den Armen kaum umschlingen konnte, und so hoch, - so hoch, dass kein Ende abzusehen war. Der Zwerg stand darunter und sagte noch einmal: "Du kannst hinaufsteigen, aber denk dran, nur den einen Wunsch kann ich dir erfüllen!" Doch den letzten Satz hörte Edwin nicht.
Sofort ergriff er den ersten Blattstängel und zog sich nach oben. Von einem Blatt zum anderen klettert er geschickt weiter. Kein Arm, kein Bein schmerzte ihn mehr. Weit unten sah er, wie die Kinder der Schule zustrebten, er lachte und rief einen Gruß hinunter, aber niemand hörte ihn. Es war einfach eine Freude, so zu klettern, immer höher zu gelangen. Er konnte nun schon auf den Kirchturm hinuntersehen und winkte übermütig dem Wetterhahn zu. "Flieg herauf, wenn du mit mir zur Sonne willst!", rief er. Doch der Hahn warf ihm nur besorgte Blicke zu.
Allmählich wurde es immer wärmer, je näher er der Sonne kam. Edwin begann zu schwitzen. Er konnte aber seine Jacke nicht ausziehen, da er ja beide Hände brauchte, um sich festzuhalten. Und der Durst plagte ihn nun auch, doch weit und breit gab es nichts zu trinken. Als er in ein Sonnenblumenblatt biss um vielleicht etwas Saft zu bekommen, schmeckte es sehr rau und trocken und er spuckte es sofort wieder aus.
Endlich, am Abend, als die Sonne schon tief stand und bald untergehen würde, erreichte Edwin das Ende, das heißt die Spitze der Blume und hatte nur noch einen Riesenschritt auf die Sonne hinüber zu machen. Au - war die noch heiß! Auch wenn es schon spät am Tag war. Doch nun sah er, wie die Sonnenblume, auf der er herauf gestiegen war, allmählich zu schrumpfen begann und immer kleiner und kleiner wurde. "Warte doch, bleib doch da!", rief er ihr zu, doch die Blume war schon wieder recht klein geworden.
Nun bekam Edwin Angst: "Da komme ich ja nicht mehr hinunter! Bin ich jetzt hier auf der Sonne gefangen?" Schnell versuchte er das Haus der Frau Sonne zu erreichen und klopfte an ihre Türe. Ein altes Hutzelweibchen im Nachthemd, schon mit Schlafhaube auf dem Kopf, öffnete. "Was willst denn du hier!?" fragte es etwas ungehalten, denn es war gerade auf dem Weg ins Bett. Vor Schreck wusste Edwin gar nicht, was er sagen sollte. Die Sonne hatte er sich ganz anders vorgestellt! Als eine schöne Frau im goldenen Kleid, lieb und freundlich... vielleicht war das auch nur ihre Dienerin?
"Ah, guten Tag" stotterte er, "Ich möchte gerne zur Frau Sonne", sagte er mit seiner festesten Stimme. "Die bin ich doch, aber jetzt ist es spät, und ich muss schlafen gehen. Reden wir morgen früh weiter", wollte sich die Frau Sonne verabschieden und war auch schon wieder in ihrem Haus verschwunden. Noch einmal getraute Edwin nicht zu klopfen. "Aber wo kann ich denn schlafen? Glaubst du, dass ich hier ein Bett finde, und hungrig bin ich auch, und müde", rief er durch die Tür, bekam aber keine Antwort mehr.
 Am liebsten hätte er geweint, so müde und hungrig war er und so verlassen. Die Sorge, wie er wieder auf die Erde zurück käme, drückte ihn auch schwer.  Zu Hause sitzen sie jetzt beim Essen..., niemand wird mich hier heroben finden... Mit diesen trüben Gedanken legte sich Edwin auf die Bank vor dem Haus der Frau Sonne. Sie hatte ihm wirklich noch eine Decke und ein Kissen heraus geworfen, denn es begann tatsächlich kalt zu werden, als die Sonne sich vor der dunklen Nacht verborgen hatte. Doch er konnte nicht gut schlafen, immer wieder blickte er auf die Türe, ob sie sich nicht öffnete.
Endlich trat ein junges Mädchen heraus. "Guten Morgen, kleiner Junge, was machst du denn hier?" fragte es mit einer glockenhellen Stimme. "Ich bin gestern auf einer Sonnenblume herauf geklettert, um die Frau Sonne zu bitten, heuer auch im Winter zu scheinen, aber jetzt ist die Blume weg, und ich kann nie mehr hinunter." Das Mädchen schaute ihn mitleidig an. "Das war aber eine große Anstrengung, zu mir herauf zu steigen. Ich bin die Sonne, beginne gerade wieder mein tägliches neues Leben. Noch bin ich jung, werde aber bis abends sehr schnell alt. Über Nacht kann ich mich dann erholen. Aber bis zum Ende des Jahres bin ich doch schon sehr müde, so dass meine Wege kürzer sind und meine Bahn nicht mehr so steil. Deshalb kann ich dann auch nicht mehr über den Berg zu deinem Haus scheinen", so erzählte die Sonne, die mittlerweile eine erwachsene junge Frau geworden war. "Doch du weißt ja, im Frühling beginne ich wieder höher zu klettern und schenke dir neue Wärme. Jetzt aber muss ich dich verabschieden, sonst verbrennst du hier bei mir heroben."
Frau Sonne zog ihren längsten Sonnenstrahl zu sich heran, half Edwin beim aufsteigen und rief ihm noch zu: "Glückliche Reise und komm gut zu Hause an!" Und dann ging es im Hui abwärts und in Sekundenschnelle war Edwin wieder zu Hause und in seinem Bett, gerade als die Mutter nach ihm sehen wollte, ob er heute schon wieder zur Schule gehen könne. Als Edwin aber von seiner Reise zur Sonne zu erzählen begann, ließ sie ihn noch gerne einen Tag zu Hause, um sich ganz gesund zu schlafen.
 
 
ChA 12.08.15

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.08.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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