Helke Meierhofer-Fokken

Im Katzenhimmel

Vor wenigen Nächten träumte ich vom ‚Becker‘, eine der Katzen, die wir in meiner Kindheit zu Hause hatten. Im Traum kam der ‚Becker‘ ins Haus und strebte seinem Schlafplatz zu. Ich rief ihn, er kehrte zurück, liess sich von mir hochnehmen und begann sein unregelmässiges Schnurren. Ich streichelte sein schwarzweissgeflecktes Fell, spürte die zarten Knochen seines Schädels, als er seinen Kopf gegen meine Hand drückte. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte mich, das den ganzen folgenden Tag anhielt und die Erinnerung an unsere Katzen weckte, an ihre Eigenheiten und Schicksale, die die kindlichen Gemüter von uns Geschwistern bewegten.
Der ‚Becker‘ war nicht unsere erste Katze. ‚Mauchen‘ hiess die Katze, die zuerst Einzug in unsere Familie hielt. Wir bekamen sie zu Weihnachten geschenkt. Es muss in den Fünfziger Jahren gewesen sein. Wie immer waren wir Geschwister in der Küche versammelt und warteten auf das Bimmeln des Glöckchens, das uns zur Bescherung ins Weihnachtszimmer rief. Damals waren wir schon alt genug, um nicht mehr an das Christkind zu glauben, insgeheim konnte ich mich nicht von der Vorstellung lösen, dass es doch das geflügelte Christkind höchstpersönlich war, das das Glöckchen läutete und längst durch das geschlossene Fenster, in dem sich die Kerzenflammen spiegelten, davon geflogen war. Die Weihnachtsgeschenke lagen wie immer unter dem Baum, eingewickelt in Papier, das schon mehrmals seine Dienste geleistet hatte. Zwischen den Päckchen befand sich ein unansehnlicher Papiersack, der einst Zement enthalten hatte. Der Sack bewegte sich. Unser Langhaardackel ‚Strolch‘ raste auf den Sack zu und kläffte ihn an. Meine Mutter hielt den Hund zurück und öffnete den Sack, aus dem ein grauer Fellknäuel entwich und wie eine Rakete unter das Sofa schoss, ‚Strolch‘ hinterher. Zum Glück stand das Sofa so niedrig, dass er unsanft gebremst wurde. Der Neuankömmling warf das gewohnte Weihnachtsprogramm über den Haufen. Niemand von uns jüngeren Geschwistern war in der Lage, das Kapitel aus dem Lukas-Evangelium zu lesen „Es begab sich aber zu der Zeit…“ Auch das Singen der Weihnachtslieder fiel flach. ‚Strolch‘ wurde in der Küche eingesperrt. Die ganze Familie versuchte, sein abwechselndes Bellen und Jaulen zu ignorieren. Wir ‚Kleinen‘ lagen auf dem Dielenboden, in unserer Mitte das graue Kätzchen, das wir mit viel Zureden, Milch und Plätzchen unter dem Sofa hervorgelockt hatten. Wir nannten es ‚Mauchen‘, weil es so kläglich miaute.
Leider war dem ‚Mauchen‘ kein langes Leben bei uns beschert. Eines Tages fanden wir es tot im Graben der Lippersbach unweit unseres Hauses. Der Jagdpächter hatte es ‚wegen Herumstreunens‘ erschossen. Unser Haus war das letzte in der Strasse und lag direkt am Wald. Wir konnten unsere Tiere ja nicht anbinden. ‚Mauchens‘ Tod wurde zu einer Tragödie für uns jüngere Geschwister. Gudrun riss sich ihren silbernen Haarreifen vom Kopf und warf ihn ins Gebüsch. „Ich werde nie wieder Schmuck tragen!“, verkündete sie dramatisch. Meine Mutter hob den Reifen stillschweigend auf. Nach einer Weile prangte er wieder in Gudruns Haar. Als der Jagdpächter das nächste Mal an unserem Haus vorbeiging, stürzte Linde die Hofeinfahrt hinunter, streckte dem Mann die geballten Fäuste entgegen und schrie „Sie Mörder! Sie Mörder Sie!“ Ich verbrachte den Vormittag nach ‚Mauchens‘ Tod mit dem Kopf auf den Armen auf der Schulbank und weinte während der ganzen Schulstunden vor mich hin, so dass der Englischlehrer ‚Blacky‘ glaubte, ein nahes Familienmitglied sei verschieden. Dr. Schwarz sorgte dann für Ersatz und beauftragte meine beste Freundin Cherié damit, ein anderes Kätzchen aufzutreiben. (Wir nannten uns gegenseitig Cherié, seit wir im Kino den Film „Monpti“ mit Romy Schneider und Horst Buchholz gesehen hatten. Wir reden uns bis auf den heutigen Tag so an). Cherié brachte in den nächsten Tagen ein weisses Kätzchen aus ihrem Dorf mit ins Gymnasium. Ich nannte es ‚Hexe‘. Sie eroberte mein Herz nie wirklich. ‚Hexe‘ war ein kränkelndes Tier mit ständig tränenden Augen und laufender Nase. Vor allem war sie nicht stubenrein. Immerhin verhalf sie mir zu einer Eins im Deutschunterricht. Wir mussten einen Hausaufsatz schreiben „Drei Tage aus meinem Tagebuch“. Da ich damals wirklich Tagebuch führte, fiel mir die Aufgabe nicht schwer. Mit Elan erzählte ich die herzbewegende Geschichte, wie meine ‚Hexe‘ eines Tages verschwunden war (was den Tatsachen entsprach), wie sie schmerzlich von mir vermisst wurde (da übertrieb ich), und wie sie nach drei Tagen ziemlich zerzaust wieder Einlass begehrte (der Schluss stimmte wieder). Ich reicherte meine Aufzeichnungen mit philosophischen Betrachtungen über den Schlaf und Tod an. Mein Deutschlehrer war so angetan, dass er meinen Aufsatz in den höheren Klassen vorlas, u.a. in der Klasse meines älteren Bruders. Der erkannte mich als die Urheberin des Texts und schämte sich für mich. Immer schämte er sich für seine kleinen Schwestern. Warum eigentlich? Auch die ‚Hexe‘ fand einen gewaltsamen Tod. Bis zum heutigen Tag kann ich nicht darüber reden oder schreiben, weil …
Nach der ‚Hexe‘ kam der ‚Becker‘ zu uns, eben jene Katze, die kürzlich in meinem Traum auftauchte. Wir nannten sie ‚Becker‘ nach den Bauern, von deren Hof sie stammte. Heute staune ich über unsere armselige Fantasie bei der Namengebung. Dass der ‚Becker‘ kein Kater war, wie wir glaubten, wurde uns klar, als er Junge bekam. Eines durften wir behalten. Was mit den anderen geschah, wollten wir gar nicht wissen. Die Katzenmutter blieb für uns nach wie vor der ‚Becker‘. Wir brachten ihm ein Kunststück bei, nämlich allein aus einer Flasche zu trinken. Er lag dabei auf dem Rücken und balancierte mit allen vier Pfoten ein Puppenfläschchen mit Sauger, das einst ‚Liebesperlen‘ enthalten hatte, kleine bunte Bonbonkügelchen. Es muss noch ein altes Schwarzweissfoto mit weissem Zackenrand geben, auf dem dieser Dressurakt festgehalten ist.
Das Kätzchen aus ‚Beckers‘ erstem Wurf, das wir behalten durften, war ein grau gemustertes Tigerchen. Es bekam einen ‚richtigen‘ Namen, nämlich ‚Swaantjen‘. In meinem Tagebuch notierte ich damals „Swaanjen ist das schönste Kätzchen der Welt!“ Wenn ‚Swaantjen‘ auf der Treppe vor unserem Hauseingang sass, die Vorderpfoten nebeneinander, den geringelten Schwanz adrett um die Hinterflanken drapiert, und wie ein Sphinx geheimnisvoll in die Ferne starrte, staunte ich immer wieder, wie symmetrisch es gemustert war, eine Seite das exakte Gegenbild der anderen.
Eine Zeitlang hatten wir drei Katzen, den ‚Becker‘, ‚Swaantjen‘ und das ‚Meisje‘. Das war ein Junges vom ‚Becker‘ oder dem ‚Swaantjen‘, das weiss ich nicht mehr so genau. Dieses Kätzchen hiess bald nur noch das ‚Halbstarke‘, weil es so ungestüm und wild war. Eines Tages sprang es auf die heisse Herdplatte, wo wir die Milch für die Katzen wärmten und verbrannte sich alle vier ‚Polsterchen‘ seiner Pfoten. Es spielte gern mit dem Dackel ‚Strolch‘, hängte sich an seinen buschigen Schwanz und fegte so mit ihm durch die Zimmer. Erstaunlicherweise liess sich der despotische Kerl das gefallen. Das ‚Meisje‘ begleitete uns auch wie ein Hundchen zu unseren Spielen in den Wald und auf Gängen ins Dorf. Sein unbekümmertes, respektloses Verhalten wurde ihm zum Verhängnis. Eines Tages lief es meiner Mutter nach, die bei der ‚Knöppe-Else‘ etwas besorgen wollte. (Die Knöppe-Else hiess so, weil sie einen Laden mit Kurzwaren, unter anderem auch Knöpfe führte). Das Halbstarke lief zutraulich auf den Hund der ‚Knöppe-Else‘ zu und wollte mit ihm spielen, erzählte uns unsere Mutter später. Der Hund schnappte zu und biss dem Kätzchen das Genick durch.
So kamen drei unserer Katzen auf gewaltsame Art ums Leben. Seltsamerweise erinnere ich mich nicht mehr, was aus den anderen geworden ist, dem ‚Becker‘, der mich im Traum aufsuchte und der ‚schönsten Katze der Welt‘. Ich erzählte meinem Mann von dem Traum, von unseren Katzen und dass ich nicht wüsste, wann sie aus meinem Leben verschwanden und wo sie geblieben seien. „Im Katzenhimmel“, sagte mein Mann. Er hat zwei Töchter grossgezogen und kennt sich mit Tierhimmeln aus. Das war eine überaus tröstliche Antwort, so tröstlich wie der Glaube, dass vielleicht doch das Christkind das silberne Glöckchen zur Bescherung geläutet hatte, damals in jenen fernen Tagen, als ich Kind war.
Helke Meierhofer-Fokken
 

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