Helke Meierhofer-Fokken

Napoleonsblut

Es ist schon viele Jahre her, dass ich auf dem Hasenberg Weidenröschen entdeckte. Auf hohen Stauden leuchteten die untersten Blüten wie ein amethystfarbener Kranz vor dem dunklen Unterholz, die Spitzen waren noch geschlossen. Ich erinnere mich noch genau an diesen Spaziergang. Mein Mann war gerade nach einer schweren Erkrankung wieder genesen. Jeden Tag wagten wir längere Spaziergänge und eroberten uns so den uns noch unbekannten Hasenberg.
„Da blüht ja Napoleonsblut!“ rief ich beim Anblick der Weidenröschen entzückt und zeigte auf die Stauden. In den Bergen waren wir ihnen schon häufig begegnet. Im Unterland in unserer Gegend hatte ich noch nie welche gesehen. „Was blüht da?“, mein Mann schaute mich entgeistert an. – „Napoleonsblut. So nannte meine Grossmutter die Weidenröschen.“ Ich erläuterte, warum sie diesen eigentlich grausamen Namen bekommen hatten. Sie hiessen deshalb so, hatte meine Grossmutter erzählt, weil sie bei uns im Hessenland so zahlreich blühten, wie unter Napoleon das Blut geflossen sei. Wir fanden beide, dass es eine eindrucksvolle Metapher sei. Während wir darüber diskutierten, ob man Blumen solche grausamen Namen geben dürfe, und dass die Blütenfarbe der Weidenröschen eigentlich gar nicht blutrot sei, stieg das Bild meiner längst verstorbenen Grossmutter vor mir auf: eine alte Frau in hessischer Tracht mit einem mageren geflochtenen Dutt auf dem Kopf. Ich hatte als Kind Mühe, sie überhaupt zu verstehen, weil sie nur Münchhäuser Dialekt sprach. Natürlich hat meine Grossmutter Napoleon Bonaparte nicht mehr erlebt, aber in ihrer Generation war der französische Kaiser und die Blutspuren, die er durch Europa zog, noch sehr im Bewusstsein verankert. Ich bedauere, dass ich sie nie nach früher ausgefragt habe, nach der Zeit, als sie Kind war.
Wir kamen in diesem Spätsommer noch häufig zum „Napoleonsblutplatz“. So hiess fortan die Stelle, wo wir die Weidenröschen entdeckt hatten. Wir konnten beobachten, wie allmählich die Spitzen der Stauden aufblühten und wie sich die unteren Blüten in Wattekringel verwandelten. In den Folgejahren fanden wir dort nie wieder Weidenröschen, so sehr wir auch Ausschau hielten. Vögel hatten sicher den Samen dorthin getragen, der Boden war aber wohl nicht geeignet für Weidenröschen. Der Name für den Platz ist aber geblieben und taucht immer wieder in unseren Aufzeichnungen auf.
Helke Meierhofer-Fokken
 

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