Jakob Schott

Fantasien eines glücklichen Menschen


 
In Salzburg springen sie immer wieder vom Mönchsberg. Er ist recht bekannt für seine Selbstmörder. Da gibt es doch auch eine Eröffnungsszene in einem Film, wo einer springt. Oder war es ursprünglich ein Buch und wurde dann verfilmt? Na ist auch egal. Dieser Gedanke schießt mir nur gerade durch den Kopf, denn ich bin nur noch wenige Minuten von Salzburg entfernt. Ich sitze in einem der Züge von Wien auf der Eisenbahnlinie, die erst vor ein paar Jahren unter dem Namen „Westbahn“ in Betrieb genommen wurde. Damit wurde die Fahrtdauer ein wenig reduziert und das Reisen auch angenehmer gemacht. Allerdings habe ich heute keine Eile, denn das wird meine letzte Fahrt. Heute springe auch ich.
Sie werden vielleicht erwarten, dass ich Ihnen jetzt, da meine letzten Stunden bevorstehen, vielleicht eine traurige Episode aus meinem Leben erzähle. Etwas, das mich dazu bewogen hat, diesen doch recht drastischen Schritt zu unternehmen. Vielleicht hören Sie mir schon gar nicht mehr zu, da Sie im Kopf schon nach Gründen suchen, die mich umstimmen sollten. Nichts davon soll geschehen.
Mein Entschluss, die letzte Konsequenz zu ziehen, steht fest. Selbst wenn ich heute nicht springe. Vielleicht werden Sie sich auch in Kürze wünschen, dass ich es tue. Doch damit wäre ich an Ihrer Stelle vorsichtig. Außerdem kann ich Ihnen gar keine traurigen Geschichten über mich erzählen. Ich kann nämlich mit Fug und Recht behaupten, immer auf die Butterseite des Lebens gefallen zu sein. Man sieht mir meine Jugend noch an, habe aber schon die ekelhaften Lebensabschnitte hinter mir. Man denke nur an die Pubertät! Deshalb bin ich noch attraktiv und kräftig, obwohl ich ein reifes und erwachsenes Aussehen habe. Bei den Frauen war ich immer gut angeschrieben, das dürfen Sie mir glauben. Selbst wenn ich einer einmal nicht gefallen habe, konnte ich sie durch meinen scharfsinnigen Verstand oder einfach meinen finanziellen Hintergrund auf mich aufmerksam machen. Ich habe nie besonders viel Aufhebens um das Geld gemacht, aber meine stilsicher gewählte Kleidung verriet ständig, dass ich welches hatte. Meine Freunde waren mir stets treu und hätten mir bei jeder Krise Beistand geleistet, vorausgesetzt, ich hätte welche zu überstehen gehabt.
Sie verstehen also langsam, dass ich hier keine Geschichten zum Besten geben werde, die es erfordern, dass Sie sich Taschentücher organisieren. Mein Leben war ein recht monotones Glücklichsein. Und denken Sie ja nicht, dass mich diese Monotonie gestört oder auch nur im geringsten Sinne gelangweilt hätte. Ich bin keine klischeehaft sensible Künstlerpersönlichkeit, die sich eingeengt fühlt, wenn ihnen das Leben nicht dramatisch genug ist. Ich gebe ganz offen zu, dass mir dazu der emotionale Tiefgang immer schon gefehlt hat. Dieser Umstand war allerdings immer erleichternd für mich.
Einen ästhetischen Gedanken gibt es aber doch, der mich seit jeher interessiert hat. Es ist die Entelechie, die Vollendung. Der wahrscheinlich grundlegendste Gedanke der Ästhetik. Ich denke nicht, dass etwas schön sein kann, ohne in einer gewissen Weise vollendet zu sein. Es gibt doch nichts Hässlicheres als den Makel. Deshalb finden doch alle mein Gesicht so schön!
Und in meiner Vorstellung kann es doch nichts Endgültigeres, nichts Vollendeteres geben als den Tod. Sei es der Suizid oder der Mord an anderen. Natürlicher Tod fällt klarerweise aus meiner Betrachtung heraus. Es ist schnöde und banal. Sterben muss ja jeder, und das ist doch wirklich eine Binsenweisheit. Aber von künstlich herbeigeführtem Tod geht eine Schönheit aus.
Ich habe immer Menschen bewundert, die zum Beispiel von einem Tag auf den anderen das Rauchen aufgegeben haben. Personen, die ein Ziel verfolgen, schaffen mit der Erreichung ebendessen Schönes. Aber es ist eben diese letzte Konsequenz, mit der auch eine besondere Ästhetik verknüpft ist.
Leider war ich immer ein guter Mensch. Ich habe nie andere belogen, muss aber auch zugeben, dass das Dank meiner günstigen Lebensumstände auch gar nicht erforderlich war. Ich war auch sonst immer hilfsbereit. Einmal habe ich mich sogar freiwillig in einem Flüchtlingsheim gemeldet, und daraus war dann eine bis heute andauernde Tradition geworden. Auch mir selbst gegenüber war ich, glaube ich, weitestgehend ehrlich. Das war natürlich teilweise meinen Lebensumständen geschuldet.
Also sage ich, wahrscheinlich war ich immer gut. Ich sage nicht moralisch, dazu hatte ich nie genug philosophische Bildung. Ich habe nie darüber nachgedacht, wann ich moralisch handeln hätte können. Aber ich hätte gerne anders gehandelt. Denn ich weiß zumindest, was es heißt, unmoralisch zu handeln. Mit anderen Worten ästhetisch. Ich möchte wissen, was es heißt, wenn Zähne knacken. Oder wie es aussieht, wenn ein Körper von Kugeln durchsiebt wird. Es gibt wenig Ehrlicheres, wenig Schöneres als einen Schmerzensschrei. Ich habe einmal diesen Kurzfilm gesehen. Ich bin nicht mehr sicher, wie er geheißen hat. Auf jeden Fall wird da vor laufender Kamera ein Auge zerschnitten. Flüssigkeit tritt aus. Natürlich war es nicht das Auge einer echten Person. Wäre es aber so gewesen, sie hätte geschrien vor Schmerzen.
Ich glaube, die Szene wirkt deshalb, weil wir diesen Schrei in unserem Kopf hören. Da bin ich nicht anders als die meisten. Allerdings bereitet mir die Qual Lust. Dieses Abartige, wie das Zerschneiden eines Körpers oder das Häuten bei lebendigem Leib. Was gibt es Schöneres? Ich war noch in keinem Foltermuseum, in dem mich die Eiserne Jungfrau nicht zutiefst erregt hätte.
Schön kann nur sein, was wahr ist. Deswegen ist die Konsequenz so schön. Und deswegen sind auch unfassbare Schmerzen der Gipfel der Ästhetik. Ich würde gern jemanden enthaupten. Bei Sophie Scholl musste der Henker dreimal ansetzen. Bei den ersten zwei Streichen müsste die Person noch zucken. Das Blut spritzt mir auf die Kleidung. Literweise Blut tritt aus und man kann das obere Ende des Wirbelsäulenknochens sehen. Die Person ist noch nicht tot. Aber egal, was man tut, lebendig wird sie auch nicht mehr, daran kann kein Arzt der Welt etwas ändern. Die Person zuckt noch immer. Aber jetzt muss ich nur mehr einmal ausholen. Die Ungeteiltheit des Individuums ist passé. Ein schönes Gesicht ist gebrochen. Der einst geistreiche Kopfliegt nun da. Er bewegt sich kein Stück.
Diese Fantasien erwiesen sich mir als hilfreich, nicht arrogant zu werden. Die geheimen Wünsche machten es mir unmöglich, mich für etwas moralisch Besseres zu halten. Andernfalls wäre dies zweifelsohne geschehen. Ich könnte Ihnen dutzende Geschichten erzählen, in denen ich wegen meines Altruismus als Held bezeichnet wurde. Ich habe Geld und Schönheit, und habe mein Leben lang nur Gutes getan, soviel ich konnte. So war es mir allerdings möglich bescheiden zu bleiben. Durch diese Bescheidenheit wäre aber beinahe mein Selbstwertgefühl wieder gestiegen. Deshalb habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, jemanden anzuzünden. Einfach bei lebendigem Leib verbrennen, bis nichts mehr übrigbleibt. Aus diesen Schmerzen, diesen Schreien dringt die Wahrheit, die pure und unverfälschte Wahrheit, wie eine Blume auf einem Misthaufen. Das Mittelalter muss mit seinen Hexenverbrennungen eine wahre Zeit gewesen sein. Vielleicht verstehen Sie jetzt, wieso Sie sich vielleicht wünschen, dass ich springe. Doch meine guten Taten sind ebenfalls nicht zu leugnen. Wenn Sie sich meinen Tod wünschen, entgeht der Menschheit einiges!
Es ist nicht so, als ob ich es gutheißen würde, jemandem Schmerzen zuzufügen. Ich habe ja selbst noch nie jemandem ein Haar gekrümmt. In der Schulzeit war ich sogar als Streitschlichter bekannt. Es ist nur ebenso, dass mich diese Grausamkeit erregt. Mit buchstäblich allen Sinnen. Und ich habe es bis jetzt nicht übers Herz gebracht mich dessen zu schämen. Wie gesagt, ich bin kein moralischer Mensch. Wenn ich mir vorstelle, wie Zähne knacken, dann ist das wie Musik in meinem Kopf. Der berühmte Randstein-Kick. Der Mensch ist da und rasend vor Angst; er kniet und ist völlig ausgeliefert. Und ein Akt genügt, um einen Menschen ins Jenseits zu befördern. Die Zähne knacken und der Kopf klappt nach hinten während der allerletzte Schrei ausgestoßen wird.
Man darf sich das Morden nämlich nicht so vorstellen, wie es in den Filmen dargestellt wird. Man betätigt nicht einfach den Abzug, eine Kugel löst sich und dann fällt einer um. Nein, die Schönheit entsteht in dem Leid und in dem blutdurchtränkten Hemd und dem zerfetzten Körper. Der Prozess des Sterbens dauert auch länger als dargestellt. Es gibt Leid und schweres Atmen. Alles in Allem muss es herrlich sein.
Aber selbst konnte ich niemals Hand an Mensch oder Tier legen. Nicht einmal das Internet habe ich nach grausigen Videos durchforstet. Obwohl ich so gerne ein Voyeur, ein Perverser, ein Verbrecher gewesen wäre, brachte ich nichts dergleichen über mich.
Sie denken vielleicht: Er war verzweifelt, weil er seine Lust nicht erfüllen konnte, bis er eingesehen hatte, dass er die letzte Konsequenz an sich selbst vornehmen muss. Aber auch das ist wieder falsch. Ich bin nie daran verzweifelt. Und der Gedanke des Suizids ist mir heute gekommen. Und Salzburg war nur mein Ziel, weil ich gerne wieder Zugfahren wollte. Also nichts von dem, was Sie geschlossen haben, trifft zu. Ich sprenge Ihre Erwartungen. Ich springe, wenn Sie es so wollen, aus freien Stücken, und nicht aus einer Emotion heraus, und schon gar nicht, wie Sie mittlerweile begriffen haben sollten, aus einem moralischen Grund. Ich will Schönes schaffen, und das zum ersten Mal in meinem Leben. Ich ziehe die letzte Konsequenz, nicht um mein Leben zu beenden, sondern um etwas zu schaffen, an dem sich ein anderer erfreuen kann. Denn ich weiß: Solche wie mich gibt es zuhauf! 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.10.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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