Martin Schott

Asthma

~~Asthma

Ich stand am offenen Fenster im Wohnzimmer und lauschte in die Nacht. Die Kühle der Frühlingsnacht  sprang ins Zimmer. Ich reckte den Kopf aus dem Fenster soweit ich konnte, doch es war nichts zu sehen oder hören.
Im Nebenzimmer hörte ich meine Großmutter bei jedem Atemzug stöhnen und pfeifen. Ein Asthmaanfall . Sie riss die Luft förmlich in sich hinein ohne dass viel davon in der Lunge ankam. Ich wusste, dass sie in ihrem Bett lag und um ihr Leben kämpfte. Ich konnte nichts tun, als warten bis die Rettung endlich eintraf. Vor zehn Minuten hatte ich die Notrufnummer gewählt und die Adresse durchgegeben. Auch über die Atemnot und das Asthma hatte ich Auskunft gegeben.
„Bist du denn alleine mit der Großmutter? Wie alt bist du denn?“
„Ja, alleine. Ich bin acht Jahre“, sagte ich, obwohl ich erst im nächsten Herbst Geburtstag hatte und es gerade Mai geworden war.
„Wir kommen so schnell es geht.“
„Danke, ich sperre dann das Haustor auf.“
Vor mir lag der verlassene Karmelitermarkt. Dir große Standuhr in der Mitte zeigte halb zwei. Ich war in Panik die Geräusche aus dem Nebenzimmer könnten verstummen. Ich hätte nie gewagt in das Zimmer zu gehen in dem eine Tote lag. Die Furcht vom Tod wohin auch immer  mitgerissen zu werden lähmte mich.
 Endlich vernahm ich aus der Ferne das Signalhorn und bald darauf zuckte das blaue Licht durch die nächtlich einsame Leopoldsgasse und über den Karmelitermarkt. Ich raunte meiner Oma im vorüber laufen zu, dass die Rettung jetzt da sei. Sie nickte nur matt. Mit dem Schlüssel in der Hand lief  ich vom ersten Stock ins Erdgeschoss. 1973 gab es noch selten Gegensprechanlagen. In unserem Haus natürlich nicht. Die  Hausbesorger sperrten die Haustore um neun Uhr zu und wer danach hinein wollte benötigte einen Schlüssel. Selbst die Rettung.
Ich schloss die Tür auf und im selben Moment schoss der Rettungsbus um  die Ecke. Er kam gegen die Einbahn. Über meinen Schlafanzug hatte ich eine Weste gezogen und so stand ich da. Der Arzt und die Sanitäter eilten jeder mit einem Koffer in der Hand, mit einem flüchtigen Blick auf mich, an mir vorbei ins Stiegenhaus. Auf der Straße stand der Bus und das Blaulicht wanderte immer noch über die Häuserfronten. Dieses Blaulicht fand ich sehr bedrohlich. Es verhieß mir höchste Gefahr, höchste Alarmstufe.
Gleichzeitig war ich froh über das Eintreffen der Rettung. Nicht nur deshalb weil ich mir Hilfe für die Oma erwartete, sondern vor allem,  weil ich nicht alleine mit einer Toten in der Wohnung sein wollte, wenn das Unvermeidliche doch eintreten sollte. Ich fürchtete mich vor dem Alleisein mit der Toten mehr, als vor dem Tod selbst.
Ich rannte hinter den uniformierten Helfern her. Die Wohnungstür hatte ich weit offen stehen lassen und so hörte man ihr Pfeifen und Stöhnen bis auf den Gang. Die Rettungsleute folgten den Geräuschen und verschwanden im Schlafzimmer. Ich hörte ihre Stimmen und dazu das Gekrächze meiner Oma, die  Antworten hervorstieß.
Ich stellte mich wieder ans Fenster im Wohnzimmer und schaute auf den verlassenen Markt. Kein Mensch war zu sehen. Ich hatte Angst die Rettung würde die Oma mit in ein Spital nehmen und mich in dieser Einsamkeit zurücklassen. Und in der finsteren Nacht!
Aus der Seitengasse, in der der Rettungsbus wartete flog immer wieder ein blauer Lichtkegel vorbei und versprengte sein gefährlich, kaltes Licht. Ich spürte die Nachtkälte und war froh darüber überhaupt etwas zu spüren. Im Nebenraum begann das Cortison das man ihr in den Körper gespritzt hatte zu wirken und die Atmung normalisierte sich allmählich.
Der Kopf eines Sanitäters lugte aus dem Schlafzimmer, erblickte mich am Fenster und zwinkerte mir aufmunternd zu.
„Der Mama geht´s schon wieder besser. Wird schon wieder.“
„Oma“, sagte ich „es ist meine Oma.“
„Ja. Die Oma.“
Ich verließ meinen Fensterplatz und ging hinüber zu den anderen. Mitten im Zimmer, im Respektabstand von zwei Metern blieb ich stehen.  Die Oma lag verschwitzt und abgekämpft im Bett und schnaufte immer noch. Ihre Haare klebten zusammen und ihr Kopf und  sah klein und krank aus. Die Augen lagen in tiefen Höhlen. Sie bedachte mich mit einem stolzen Blick.
„Mein Retter“, hauchte sie.
„Tüchtig!“ lobte mich der  Arzt. „Weißt du, ich habe der Oma ein Medikament gegeben..“
„Ja eine Cortisonspritze wahrscheinlich“, unterbrach ich ihn.
„Na, du kennst dich ja schon gut aus.“
Ich zuckte mit den Achseln. Ja ich kannte mich schon gut aus.
Die Rettung blieb noch ein paar Minuten da. Der Arzt saß neben dem Bett und die Sanitäter räumten inzwischen ihre Koffer wieder auf. Einer hielt mir die leere Spritze hin.
„Wirfst du das in den Mistkübel“,  bat er mich.
In der Küche auf dem Eiskasten stand ein großer Wecker. Die Sekunden wurden durch einen kleinen Hahn angezeigt, der nach Körnern pickte. Es war etwa zwei Uhr früh. Neben dem Wecker lag Omas Geldbörse. Ich entnahm einen zwanzig Schillingschein. Die Spritze schmiss ich in den Kübel unter der Abwasch. Im Vorzimmer kamen mir die Sanitäter schon entgegen.
„Fertig“ sagte einer. Ich drückte ihm das Geld in die Hand. Er nahm es, bedankte sich mit grinsendem Gesicht und sie verließen die Wohnung. Der Arzt kam aus dem Schlafzimmer auf mich zu. Er streckte mir die Hand entgegen.
„Da kann die Oma wirklich stolz sein“, sagte er. Ich begleitete ihn zum Haustor und schloss hinter ihm ab. Durch die dreckigen Scheiben im Haustor  sah ich sie in den Bus klettern. Der Fahrer stellte das Blaulicht ab. Kein Mensch in der Gasse war zu sehen, kein Auto fuhr durch die stillen Gassen kein Hundegebell drang durch die Nacht. Im Haus erlosch das Licht und ich tastete nach dem roten Knopf, um es wieder zu erleuchten.
Über die gewundene Treppe stieg ich über die abgetretenen Stufen hinauf und hörte wie die Rettung abfuhr. Ich kehrte in die Wohnung zurück, versperrte die Wohnungstür, drehte das Licht in Küche und Vorzimmer ab. Ein kleiner Lichtschein fiel von Omas Nachttischlampe ins Wohnzimmer. Dort fand ich es jetzt eiskalt. Das Fenster stand immer noch offen. Als ich hinging um es zu schließen, hörte ich das Signalhorn der Rettung. Ein neuer Einsatz. In der Leopoldsgasse torkelte ein Besoffener an den Markständen entlang und murmelte Selbstgespräche.
Vorsichtig schlich ich zurück ins Schlafzimmer. Ich hoffte die Oma würde schon schlafen. Sie atmete jetzt gleichmäßig und ruhig. Sie schlief noch nicht.
„Leg dich wieder nieder, du Held“, sagte sie. Ich zog die Weste aus, legte sie über einen der beiden Polsteressel, die irgendwie sinnlos vor  einem viel zu hohen Tisch standen und kroch in mein Bett.
„Kannst du bitte das Licht brennen lassen“, fragte ich.
„Mach ich. Schlaf gut.“
Das gelbe, gleichmäßige Licht tat mir gut. Es war viel besser als das zuckende blaue der Rettung. Ich lag da und horchte auf die Atemzüge der Oma. Davon wurde ich so müde, dass ich innerhalb von kurzer Zeit einschlief. Ich war ein Held. Wir hatten überlebt.

Am nächsten Morgen weckte mich die Oma wie immer auf. Sie sah frisch aus und nichts erinnerte an die nächtliche Aufregung. Am Küchentisch standen mein Kakao, der mir nie so richtig schmeckte, und ein Teller mit einer Semmel. Meine Oma hantierte behende in der Küche und schien stark wie immer. Ihre Laune war ungetrübt und die Frisur passte auch wieder. Nicht einmal im Entferntesten sorgte sie sich. Also sorgte ich mich auch nicht, sondern packte meine Schultasche. In der Leopoldsgasse gingen schon viele Schüler, alleine zu zweit oder in Gruppen. Im Milchgeschäft tummelten sich ebenso wie in der Bäckerei die Leute. Autos fuhren durch die Gasse, vom Markt her hörte man reges Treiben. Das Leben pulsierte im zweiten Bezirk in Wien. Beim Schultor hatte ich die vergangene Nacht schon nicht mehr im Kopf.

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.10.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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