Patrick Rabe

Gnade, ein Gedanke, der die Welt verändern kann

Heute las ich in einer Sonderausgabe des Rolling Stone zum Thema U2. Ich habe diese Band immer gemocht und seit den mittleren 90ern ihren Werdegang verfolgt. In diesem Sonderband fanden sich Interviews und Reportagen über U2 von ihren Anfangstagen bis heute. Sehr auffällig schien mir die Wandlung von den christlich engagierten, den Kommerz verweigernden, "normalen" jungen Männern über eine Phase, in der man noch halb selbstironisch mit Ruhm und Macht jonglierte (Achtung Baby) bis hin zur Pop Mart Tour, in der sie die Megalomanie nicht mehr nur vorführen wollten, sondern selber ein Teil davon geworden waren (O-Ton Bono damals: "Ich bin Gott!")
 
Eine Songzeile auf dem 2000 erschienenen, wieder bescheidener wirkenden Album "All that you can't leave behind" lautet: "Alles, was du verspottest/verachtest, wird dich mit Sicherheit überwinden, und wenn du ein Monster geworden bist, lass nicht zu, dass das Monster dich zerbricht." Sicher, U2 waren in ihren jungen Jahren eine aufrechte Band, die es ehrlich meinte und integer bleiben wollte. Ihre Bandgeschichte hat aber gezeigt, dass sie gefallen sind, sich selber untreu wurden. Ich kreide ihnen das jedoch nicht an, denn sie stehen damit nicht allein. Ja, je mehr ich menschliche Biographien - inclusive meine eigene - studiere, desto mehr stelle ich fest, dass der Fall geradezu vorprogrammiert ist, gerade dann, wenn man in der Jugend den Mund besonders voll nimmt mit Aussagen wie: "Das würde ich ja niemals tun! So werde ich niemals sein!" Oft wird man - passend zur weiter oben zitierten U2-Zeile - genau zu dem, was man vorher abgelehnt und verurteilt hat. In der Bibel ging es Petrus ähnlich. "Ich würde dir ins Gefängnis folgen, ja sogar bis in den Tod!", sagt er zu Jesus. Dieser antwortet ihm nüchtern: "Heute Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du dreimal leugnen, mich zu kennen." Als genau das eintritt, läuft Petrus hinaus und weint bitterlich.
 
Der Mensch stolpert meistens gerade über seine Ideale, gerade über das vermeintlich "Gute". Denn um dieses hochhalten zu können, muss er sich von Dingen abgrenzen, die er nicht sein will, vom vermeintlich "Bösen". Er bezieht Stellung und grenzt alles aus, was nicht zu dieser Stellung passt. Das ist eine sehr jugendliche Position und entspricht, ins theologische transponiert, ein wenig dem manchmal sehr gnadenlosen, mit Regelwerken und Richtig-Falsch-Gegensätzen aufwartenden Alten Testament. Aber die Erfahrung lehrt viele Menschen im Laufe ihres Lebens, dass sie diese Positionierung nicht aufrecht erhalten können, es sei denn, zum Preis der inneren Erstarrung. Oftmals wird gerade der erbittertste Atheist gläubig, der puritanischste Sexfeind zum Bordellbesucher, der radikalste Linke zum radikalsten Rechten (Siehe Horst Mahler!). Aber auch jenseits dieser Extreme wird man immer wieder merken, dass man jenen "Das würde ICH nie machen"-Maximen nicht treu bleiben kann.
 
Ich glaube, dass Gott, was immer man unter ihm verstehen mag (ich verstehe ihn als die Liebe), uns zeigen möchte, dass unser Sein alles umfasst, nicht nur den kleinen Ausschnitt, den wir uns als "gut" erkoren haben. Die Liebe umfasst alles, und jeder Mensch ist dem Wesen nach alles, nicht nur das beschränkte Bisschen, was er für sein Ich hält. Und gerade das, was er von sich abgegrenzt hat, um "gut" sein zu können, muss er kennenlernen, um "ganz" und damit "heil" zu werden. Somit scheint der "Fall" aus der heilen Paradieseswelt, wo noch alles schön geordnet war, und die Trennlinie zwischen Richtig und Falsch ganz gerade verlief, notwendig zu sein, um überhaupt zur Liebe zu finden. Damit man zum Beispiel nicht mehr Bordellbesucher brüsk aburteilt, muss man vielleicht selber einer werden, damit man am eigenen Leib versteht (und annehmen lernt, ja, "lieben"!!!!), was man vorher noch verachtet hat. Die Message des Lebens dahinter ist: Alles ist Liebe und alles ist letztendlich verstehbar. Nur, wer nicht mehr richtet, wer erkennt, dass der Keim jeder vermeintlichen "Sünde" auch in ihm steckt, kann zu einer Haltung finden, die ich mit dem Neuen Testament "Gnade" nennen möchte.
 
Gnade ist eine revolutionäre Sache. Und zwar genau deshalb, weil die Welt diesem Prinzip scheinbar total zuwider läuft. Schon in der Schule lernen wir, Dinge und Situationen zu bewerten, sie einzukategorisieren. Vergeltung und Rache sind an der Tagesordnung, im alltäglichen Rahmen wie in der Weltpolitik. Das weltweite Wirtschaftsgleichgewicht baut darauf auf, dass alle Länder beieinander fantastillionäre Schulden haben. Die Welt funktioniert nach dem Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn", die Buddhisten nennen es Karma. Genau dies meint die Bibel glaube ich, mit dem Wort, dass die Welt in der Hand des Teufels sei. Sie meint nicht einen unterirdisch wohnenden, hämisch lachenden Heini mit 'ner Mistgabel, sondern sie meint dieses Prinzip, das alle Menschen immer wechselseitig über ihre eigenen Ansprüche stolpern lässt.
 
Und nun kommt der Mann aus Nazareth und sagt uns: "Ja, so funktioniert die Welt. Der Himmel, das Reich Gottes, ist anders. Da herrscht die Gnade. Und was noch viel besser ist: Der Himmel ist nicht irgendwo über der Milchstraße, der Himmel ist auf Erden. Ihr könnt ihn euch abholen, wenn ihr wollt. Gewährt Gnade, und euch wird Gnade zuteil!"
 
Das ist "Wow!", wenn man es einmal verstanden hat. Und gleichzeitig das Revolutionärste, was je ein Mensch gelehrt hat. (Man vergleiche es z.B. mit Marx, der ja letztendlich auch nur eine "Wir gegen die"-Ideologie entwickelt und dabei die Arbeiter gut, die Kapitalisten böse stempelt.) Jeder, der schon einmal einem anderen verziehen hat, weiß, dass das in erster Linie ihn selber befreit. Gnade gewähren heißt, die anderen so sein lassen, wie sie sind, im Wissen darum, dass der Keim dessen, was ich am anderen kritisiere, auch in mir steckt (Splitter/Balken im Auge). Gnade heißt, den anderen nicht mehr einzuschubladieren. Gnade heißt, loszulassen und damit zum Da-Sein zu finden. Wer Gnade gewährt, erfährt auch fundamental, dass er selber begnadigt wird, dass die Ketten des Karmas zerbrechen, dass für ihn jetzt das Gesetz des Himmels gilt. Und dieses Gesetz ist die Liebe.
 
Die wirkliche Liebe geht mit Freundlichkeit, Milde und Toleranz einher und hat nichts zu tun mit dem verkrampften "Nicht-mehr-richten-dürfen-und-lieben-müssen", das manche evangelikale Kirchen praktizieren. Wer wirklich liebt, "will" auch lieben, wer wirklich aus der Gnade lebt, "will" auch begnadigen. Zwang gibt es da nicht.
 
Im Zuge der Gnadentheologie des Neuen Testamentes ist auch immer wieder vom Erlassen der Schuld(en) die Rede. Ich denke, das darf man ruhig auch auf Geld beziehen. Auch hier zeigt sich, dass Gnade ein revolutionäres Konzept ist. Jeder weiß, dass die Schulden, die die einzelnen Länder beieinander haben, niemals zurückgezahlt werden können. Wenn daher einigen Ländern Sparmaßnahmen aufgenötigt werden, dann ist das Augenwischerei, Knechtung, und ein total faules Kasperletheater. Es glaubt doch niemand ernsthaft, Griechenland könne auch nur einen Bruchteil seiner Schulden begleichen, indem das Land am Gesundheits- und Sozialsystem spart! Da ist Onkel Luzifer wieder unterwegs, meinetwegen auch mit Mistgabel! Die ganze Sache dient nur dazu, dass Europa die Muskeln spielen lässt und einem kleineren Land zeigt, dass es in der schwächeren Position ist und zu spuren hat. Jesus würde wohl zu einem Schuldenschnitt raten. Und wieviel besser würde es Afrika plötzlich gehen, wenn der Westen diesem Kontinent seine Schulden erlassen würde!
 
Das Konzept der Gnade kann meiner Meinung nach auf alle menschlichen Bereiche angewendet werden, und würde in allen Bereichen Gutes, Er-lösendes bewirken. Es wirkt auf seelisch-spiritueller Ebene genau so durchschlagend wie auf politisch-gesellschaftlicher oder zwischenmenschlicher Ebene. Das Konzept der Gnade ist auf jeden Fall immer "Wow!" (also staunenswert) und immer die bessere Alternative zu Zwist und Streit.
 
Der "Fall" ist es, der gnädig machen kann, dann nämlich, wenn man erkennt, dass niemand perfekt ist, alle der Gnade bedürfen und alle der Liebe wert und damit liebenswert sind. Einen Menschen ohne Macken könnte man sicher schwerlich lieben. Und Jesus übertrug ausgerechnet Petrus, seinem mackenhaftesten, charakterschwächsten Jünger, die Gründung der Gemeinde. Warum wohl?
 
Die Erfahrung von Gnade lässt keinen Menschen unverändert. Man wird...ein Liebender. Man muss übrigens auch nicht ein im metaphysischen Sinne religiöser Mensch sein, um das Prinzip der Gnade zum Einsatz bringen zu können. Man muss dafür nicht glauben, dass Jesus Christus der Sohn Gottes war. Man muss strenggenommen noch nicht einmal an Gott glauben. Alles, was man tun muss, ist...begnadigen. Das, was man dann allerdings an seelischer Qualitätssteigerung erfährt, macht es unwahrscheinlich, weiterhin Gottes Existenz abzuleugnen. Gott ist "der Seeinde", was immer das heißen mag. Unsere Bilder von ihm können nur unvollkommen sein. Weder Menschen, die ihn sich als Person vorstellen, noch solche, die da einfach an eine allumfassende Energie denken, treffen den Punkt. Wenn der Begriff "Gott" euch das Verstehen meiner Thesen erschwert, dann sagt doch einfach "Liebe" oder "Da-sein". Gnade ist das, was alles verändert, verändern könnte. Und dafür muss man nur die Blickrichtung ändern.
 
U2 jedenfalls beschließen das Album "All that you can't leave behind" mit dem Song "Grace" ("Gnade"), in dem es heißt: "Gnade bewegt sich außerhalb des Karmas!" und "Gnade ist ein Gedanke, der die Welt verändern kann!" Auch Bono wird das in seinem Leben erfahren haben.
 
 
 
© by Patrick Rabe
 
 
12. Oktober 2015, Hamburg, 3.oo Uhr
 
(Und jetzt habe ich schon wieder so lange gemacht, obwohl ich doch gesagt habe, ich gehe früher ins Bett! Naja, ich begnadige mich...!)
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.10.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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