Christine Wolny

Unter einem Dach

Unter einem Dach.


Bei einem Klassentreffen im kleinen Kreise wurde darüber diskutiert, ob man denn im Alter nicht noch näher zusammen rücken könnte.

Und so entstand diese Geschichte.



“Wir könnten doch alle zusammen in ein Haus ziehen. Das wäre die Lösung.“
Die meisten schmunzelten darüber, doch sie fanden die Idee gar nicht so schlecht. Warum nicht? Man könnte es doch wenigstens probieren.

Einer der Klassenkameraden erklärte sich bereit, einen Plan zu entwerfen und die Kosten zu berechnen. Schließlich muss man wissen, ob man sich so einen Luxus überhaupt leisten kann.


Doch jeder hat in seinem Leben gespart, und so müsste es eigentlich realisierbar sein. Es sollte ein Haus mit einem kleinen Garten sein, das Haus natürlich in einer schönen Wohnlage. Jeder würde ein eigenes Zimmer selbstverständlich mit Toilette und Dusche bekommen, für alle gleich groß, und im Erdgeschoss würde ein großer Raum zum jeweiligen Beisammensein zur Verfügung stehen. Die Lage der Zimmer muss ausgelost werden, um im Vorfeld Streitigkeiten zu vermeiden. Nur das Stockwerk darf jeder wählen und zwar zwischen erstem und zweitem. Das Haus sollte noch über drei Reservewohneinheiten verfügen, falls es sich noch jemand überlegte und zu der lustigen Gruppe, sprich Wohngemeinschaft ziehen wollte.

Es könnte ja sein, dass Ingrid aus Amerika zu uns kommt und für eine längere Zeit bei uns wohnen will. Dafür wäre die Reservewohnung wie geschaffen.

Jeder hatte neue Vorschläge, es machte richtig Spaß, dieses gemeinsame Planen.
Die Frauen dachten gleich an bestimmte Möbel, die sie unbedingt mitnehmen wollen. Die Wand müsste dreieinhalb Meter lang sein, damit der schöne Schlafzimmerschrank, der doch noch so gut ist, auch hinein passt.

Die Männer dachten an ganz andere Dinge. Sie sprachen über Isolierung, Unterkellerung und Dachbelag. Das war für die Frauen nicht so wichtig. Für sie war das Thema Küche viel interessanter. Wer würde kochen? Wer würde waschen, wer bügeln? Jeder darf das machen, was ihm liegt. Nicht schlecht. Oder? Wer würde putzen? Die Frauen würden den Männern helfen und umgekehrt. Und ein Hausmeister müsste her, nein, am besten zwei. Schließlich soll ja nicht alles an einem hängen. Wer übernimmt diesen Posten?


Es wurden Horst und Norbert gewählt. Sie machten erst große Augen und schluckten, sagten aber nicht nein. Da wussten sich alle in guten Händen.

Was tun, wenn das Fenster klemmt, die Tür quietscht, die Lampe nicht brennt, der Wasserhahn tropft, das Wasser in der Dusche nicht richtig abläuft, die Waschmaschine schlecht schleudert, ein Bild aufgehängt werden muss?

Die beiden sind ständig mit einem Werkzeugkoffer hinter her. Sie werden allerdings von den Damen viel gelobt mit den Worten: „Ach wenn wir Euch nicht hätten“, und das tut wiederum gut. Und die Damen überlegen, was sie für die beiden guten Hausgeister tun könnten. So bekommen sie oft das Lieblingsgericht gekocht, und den anderen Herren, die durch ihre Muskelkraft behilflich sind, sei es beim Möbelrücken oder sonstigem, geht es genau so. Auch sie werden verwöhnt.

Das Frühstück wird im großen Zimmer eingenommen. Nur wer lieber im Bett frühstückt, der soll auch diesen Wunsch erfüllt bekommen. Aber gemeinsam schmeckt es besser. Die Herren, die nicht so lange schlafen können, lesen bereits die Tageszeitungen und können beim Frühstücken schon druckfrische Neuigkeiten servieren.

Apropos frisch. Natürlich gibt es jeden Tag frische Brötchen. Dafür hat sich ein Frühaufsteher zur Verfügung gestellt. Es wird auch auf persönliche Wünsche eingegangen. Es gibt Müsli, frisches Obst, Eier mit Schinken, Vollkornbrot, alles, was das Herz begehrt.

Eine der Damen, mit Namen Helga, erstellte die Hausordnung. Ja, auch das muss es geben. Schließlich handelt es sich um ein ordentliches Haus. Helga organisiert noch viel mehr. Sie spricht Themen an, die einfach wichtig sind. Sie hilft beim Ausfüllen von Formalitäten und übernimmt die Buchhaltung. Schließlich muss das Geld verwaltet werden, und alle vertrauen ihr.


Gudrun liest abends manchmal eine „Gute Nacht Geschichte“ vor und den meisten schmeckt das Gläschen Wein. Die Herren ziehen Bier vor. Viele gehen danach ins Bett. Andere wiederum wollen noch gewisse Nachtfilme sehen.


Manchmal gibt es einen Liederabend, an dem gemeinsam gesungen wird.
Sah ein Knab ein Röslein stehen.
Ännchen von Tharau, ist die mir gefällt.
Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum....
Diese Lieder stehen auf dem Programm. Die meisten können sogar noch die zweite Strophe, denn sie haben sie bei Lehrer Kolb als Kinder oft genug gesungen. Ein Kerzenlicht sorgt für angenehme Stimmung.


Ingrid krempelt oft die Ärmel hoch und schafft Ordnung. Sie sieht Dinge, die andere nicht so wahr nehmen. Sie ist der gute Geist des Hauses. Sie versorgt kleine Wunden, ersetzt fast einen Arzt, denn mit ihrem Wissen über chinesische Medizin und über die Heilung durch Edelsteine kann sie manchem Zipperlein entgegen wirken.


Gerlinde ist für abgerissene Knöpfe, für Flicken und Nähen und kaputte Socken der Männer zuständig. (Natürlich nur, wenn diese frisch gewaschen sind.) Und wenn eine Hose oder ein Rock gekürzt werden muss, ist es für sie auch kein Problem.


Christine ist für die Pflanzen in Haus und Garten zuständig. Sie wühlt jeden Tag im Garten herum. Sie pflanzt und gießt und sorgt immer für frische Blumen im gemeinsamen Zimmer. Bäume ausreißen kann sie allerdings nicht mehr, auch keine Sträucher mehr. Es reicht nur noch zum Unkraut ausreißen.


Auch wenn einer nicht mehr recht laufen kann, ist ein Rollstuhl da. Keiner muss dann alleine im Haus bleiben. Er kommt mit, auch wenn es über Stock und Stein geht. Sogar Haustiere dürfen in dem gemeinsamen Haus gehalten werden. Einer bringt seinen Vogel mit, ein anderer wieder seine Katze. Auch kleine Hunde sind erlaubt. Und was das Schöne ist, in dieser WG verstehen sich sogar die Tiere.

Weihnachten wäre dann auch keiner alleine. Wer sich nicht an seine Kinder hängen will, bleibt eben am Heiligabend in der WG. Viele Kinder sind erleichtert, wenn sie ihre Mutter oder den Vater so gut aufgehoben wissen. Da muss sich kein schlechtes Gewissen einstellen. Und die Alten lassen keine Wehmut aufkommen. Und wenn wirklich mal einer den „Moralischen“ kriegt, sind genügend nette Kameraden da, um ihn wieder aufzurichten.

Ein Auto ist für notwendige Einkäufe und Fahrten zum Arzt vorhanden. Karli, der jahrelang in leitender Stellung bei Opel war, hat es günstig besorgt. Er pflegt und hegt es und ist der freundliche Chauffeur. Es ist also an alles gedacht.

Und wenn Geburtstag ist, dann gibt es eine besondere Torte, gebacken von Rosemarie.
Feste gibt es genug zu feiern. Dazu fällt jedem etwas ein.

Ursel, die in der Modebranche tätig war, kümmert sich darum, dass die Damen und Herren immer adrett gekleidet sind. Ihr tut es weh, wenn die Farbe des Halstuches nicht mit der restlichen Garderobe harmoniert und der Schlips nicht zu Hemd und Hose passt. Da greift sie mit Takt ein.

Die andere Ursel sorgt dafür, dass auch kulturell etwas unternommen wird. Sie studiert das Theaterprogramm, besorgt die Karten und kümmert sich um die Fahrgelegenheit.

Karin und Karola planen gemeinsame Unternehmungen. Mit dem Bus an den Rhein, zu Fuß nach Mönchbruch, Thermalbad in Bad Homburg, Wandern im Taunus, Flug nach Mallorca und noch vieles mehr. Es wird nicht langweilig. Ständig ist was los. So soll es sein. Das ist Leben!

Und wenn nach diesem Bericht noch jemand Lust auf die WG bekommen hat, wie gesagt, es sind noch Wohnungen frei.

Bei einem Klassentreffen im kleinen Kreise wurde darüber diskutiert, ob man denn im Alter nicht noch näher zusammen rücken könnte. Und schon entstand diese Geschichte, eine Idee, die gar nicht so verkehrt ist.Oder? Es wird eine Illusion bleiben.


Christine Wolny, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.06.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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