Christa Astl

Ein Briefkasten und zwei Briefe



 
Noch einmal zögert Klaus, bevor er die Briefmarke auf den blauen Umschlag, den er in seiner früheren Schreibmappe findet, klebt. Solle er ihn wirklich absenden? Ja, es soll sein, es ist seine Schuld, also muss er auch dazu stehen. Kurz entschlossen wirft er den Brief ein, hört das dumpfe Aufprallen in den leeren Briefkasten, dann geht er langsam und nachdenklich zurück in seine Wohnung.
Da liegt nun der inhaltsschwere Brief, ganz allein, und ist froh, endlich etwas Ruhe zu haben. Er muss sich erst mal erholen, Klaus hat sich so sehr angestrengt, den schönen marmorierten Briefbogen mit Buchstaben, Wörtern und Sätzen zu füllen.
Doch bald bekommt er Gesellschaft. Leichtfüßige Schritte nähern sich, mit Mühe wird der Briefschlitz geöffnet, die achtjährige Lisa muss sich auf Zehenspitzen strecken, dass sie ihren Brief hinein schieben kann. Ein rosaroter Umschlag, mit Wasserfarben bemalt, selbst zusammengelegt, das Papier, eine Seite aus einem Schulheft,  noch ein wenig gewellt von der Feuchtigkeit. Mit Bleistift in ungelenker Kinderhandschrift steht da:
 „An den Weihnachtsmann“
 „Hallo“, sagt der rosa Brief, „da ist ja noch jemand! Ich hatte schon Angst, ganz allein in diesem dunklen Kasten sein zu müssen. Wo sich die Lisa doch so bemüht hat, und mich so schön verziert. Siehst du das überhaupt?“ wendet sie sich an den blauen Brief. Doch der fühlt sich in seiner Ruhe gestört und reagiert recht ärgerlich. „Was willst du denn, du bist ja nicht mal ein richtiger Briefumschlag! Und außerdem hast du gar keine Marke drauf, da wird dich der Briefträger gar nicht mitnehmen, so kommst du nicht in ein anderes Land…“ – „Will ich ja gar nicht“, meint der rosa Brief, der so stolz auf seine hübsche Farbe war. „ Ich will ja viel weiter“, flüstert er geheimnisvoll, „ich will - in den Himmel!“
„Hahaha“, lachte der blaue Umschlag, der sich über den kecken Zettelbrief amüsiert, „du Großschnäuzchen, was hast denn du im Himmel verloren?“
Jetzt fühlt sich der rosa Brief plötzlich ganz wichtig. Eigentlich sollte er ja beleidigt sein, aber schließlich ist er nun der Interessantere, in den Himmel schreiben nicht viele Leute! Er streckt sich, bis er ganz glatt wird und sein aufgemaltes Muster besser zur Geltung kommt. Dann rutscht er noch näher zu dem blauen Umschlag und zeigt auf seine Adresse: „An den Weihnachtsmann!“ staunt der blaue Umschlag. „Was wünscht du dir denn jetzt schon vom Weihnachtsmann?“ Jetzt tut der Blaue spöttisch, doch nun wird er sogar neugierig. „Ich selber wünsche mir gar nichts“, sagt bescheiden der rosa Brief, „aber meine Lisa, die mich so schön angemalt und mit ihrem neuen Bleistift geschrieben hat… - Weißt du was, ich lese es dir vor! – Da steht:
 
Lieber Weihnachtsmann!
ich schreibe schon im Frühling, weil mein Wunsch lange Zeit braucht. Ich wünsche mir nämlich ein Baby, eine kleine Schwester. Meine Freundin hat zu Weihnachten einen kleinen Bruder bekommen, und der ist sooo süß. Und sie hat nun immer jemand zum Spielen und ich bin immer ganz allein.
Kannst du das für mich tun? Ich werde ganz lieb zu ihr sein und immer auf sie aufpassen, und …“
 
Weiter hört der blaue Brief nicht mehr zu. Nachdenklich schweigt er immer noch, als der rosa Brief längst mit dem Lesen fertig ist. „Was ist? Gefällt dir mein Brief nicht?“ fragt der Rosafarbene etwas enttäuscht und ratlos. Der Blaue muss sich erst einmal räuspern, fast versagt ihm die Stimme. „Eigenartig“, meint er, „etwas ist in unseren Briefen gleich, und doch sind sie so ganz verschieden. Ein paar Sätze aus meinem will ich dir gerne vorlesen“. Mit schwarzer Füllfeder steht da auf schönem, grauweiß- marmoriertem Papier geschrieben:
 
„Meine liebe Melanie,
Als wir uns vorgestern getroffen haben und du mir dann erzählt hast, du erwartest ein Kind von mir, war ich zuerst ganz entsetzt, wie du bemerkt hast. Ich konnte es einfach nicht glauben. Wir wollten doch kein Kind! Wir hatten uns doch vor einem Monat getrennt, weil wir feststellten, dass wir nicht zusammenpassen. Nun aber sieht die Situation ganz anders aus. Wir müssen auf jeden Fall versuchen, wieder zusammen zu kommen, denn unser Kind soll doch Mutter und Vater haben. Ich hoffe sehr, auch du willst es so, und ich wünsche mir, dass wir uns sehr bald wieder sehen. Bitte ruf mich an, das geht schneller, damit wir uns bald wieder sehen!
Ich liebe dich noch immer,
dein Klaus“
 
Einige Momente ist es vollkommen still im Briefkasten. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Der kleine rosarote Brief hat sich als erster gefasst: „Komisch sind doch die Menschen, die einen wünschen sich so sehr ein Kind und werden es wahrscheinlich nicht kriegen. Glaubst du denn, der Weihnachtsmann kann so ein Geschenk machen? Und die anderen, die dieses Geschenk erhalten, sind darüber auch nicht glücklich!“ Der blaue Brief, der ein bisschen länger zum Nachdenken braucht, kommt nun zu dem Schluss: „Aber Klaus sieht es doch ein. Hoffentlich kommt mein Brief schnell ans Ziel, sodass ihn Melanie schon bald lesen kann. Ich glaube, die beiden mögen sich immer noch und werden eine glückliche Familie werden“. – „Das wünsche ich ihnen auch!“, meinte das rosarote Brieflein, „und meine Lisa bekommt ihr Geschwisterchen sicher auch noch, wenn auch nicht vom Weihnachtsmann am Weihnachtstag!“ Der blaue Brief hat den kleinen Rosaroten inzwischen liebgewonnen und meint: „Das hoffe ich auch. Aber schau du trotzdem, dass du bald in den Himmel kommst, denn dort erfüllen sich Wünsche meist viel schneller!“ –
Dann werden sie abrupt in ihrem Gespräch unterbrochen, denn ein Reiseleiter wirft einen ganzen Packen munter drauflos quietschender und tratschender Ansichtskarten in den Briefkasten, und die beiden schweigen nachdenklich, erwartungsvoll und in Vorfreude auf ihre zu übermittelnde Botschaft.
 
ChA 01.12.15
 
 
Angeregt durch das Thema einer kreativen Schreibwerkstatt von Manfred Bieschke-Behm, 09.08.12

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.12.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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