Rudi Sack

Eine kleine Geschichte

Die Sonne im Osten erschien wie an jedem Morgen als ein Ball im warmen Rot der Blutorange. Nichts deutete zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass sie später zu einer unerträglichen Kraft heranwachsen würde, die die Felder versengt und die Menschen in die schattige Kühle ihrer bescheidenen Häuser treibt. Samuel saß auf der Steinbank am Rande des Kibbuz‘ und fragte sich, wann er das letzte Mal das Schauspiel des anbrechenden Tages erlebt hatte. Das musste schon viele Jahre her sein, denn eigentlich war dies alles andere als seine Stunde. Samuel gehörte zu jenen Menschen, deren innere Unruhe am größten wurde, wenn es dunkelte. Sobald am Abend die Sonne im Mittelmeer versunken war, lebte er auf. Samuel, der Geschichtenerzähler. Zunächst drängten sich dann die Kinder um ihn, ganz dicht rückten sie heran, um keine Silbe zu verpassen von den fantastischen Erzählungen, mit denen er sie verzauberte: von fernen Reichen, mächtigen Königen, barbarischen Räubern, aber auch von weisen Bettlern und einfachen Bauern, die ein Menschenleben retteten. Sie waren von einer knisternden Spannung, seine Geschichten, das Böse, das darin erschien, schnürte den ohnehin fast atemlos lauschenden Kindern die Luft ab. Aber Samuels Erzählungen die er mit einer so leichten Selbstverständlichkeit von sich gab, dass man gar nicht auf den Gedanken kommen konnte, sie seien nur seiner Fantasie entsprungen, endeten immer glücklich. Und wer ihnen regelmäßig lauschte, der musste zu der Überzeugung gelangen, dass der Mensch gut und dieses Leben am Ende immer gerecht sei. So schenkte Samuel, dieser Nichtsnutz, der doch eigentlich so gar nicht als Vorbild oder gar Erzieher taugte, den Kindern das vielleicht Kostbarste, das man Kindern überhaupt mit auf den Weg geben kann: die Hoffnung und das Vertrauen in das Leben.
 
Zu späterer Stunde waren es dann die Erwachsenen, die sich um ihn scharten, um mit manchmal konzentriertem, oft aber einfach leerem Blick zuzuhören, was Samuel, dieser nicht arbeitende Taugenichts zu erzählen hatte. Und obwohl er natürlich wusste, dass sie ihm sein Überleben sicherten, seinen Platz zum Schlafen, sein Essen und zuweilen ein Hemd oder sogar eine abgetragene Hose, bevorzugte er doch bei Weitem die Kinder als seine Zuhörer, denn die Hingabe, mit der diese an seinen Lippen hingen, ohne den Anflug von Misstrauen, beflügelte seine Fantasie und ließ die eine oder andere der Geschichten, deren Fortgang er immer erst im Moment des Erzählens erdachte, zu wahrer Schönheit erblühen. Von Zeit zu Zeit befand sich auch in seinem erwachsenen Publikum jemand, der ihm diese kindliche Hingabe beim Zuhören schenkte, einige wenige hatten sich diese Gabe bewahrt, und zu ihnen zählte Rebecca. Doch mit Rebecca hatte es eine besondere Bewandtnis. Seit sie vor langer Zeit, damals noch als stilles Kind von vielleicht zwölf oder 13 Jahren, mit ihren Eltern ins Kibbuz gezogen war, liebte Samuel dieses Mädchen. Nein, wir wollen genau sein: anfangs gefiel sie ihm einfach, und das von Tag zu Tag ein bisschen mehr, und irgendwann, als es schon viel zu spät war, bemerkte er, dass er sie so sehr liebte, wie einen einzelnen Menschen zu lieben er nicht für möglich gehalten hatte. Nun ist die Liebe, wie wir alle wissen, eine große Kraft, die den davon befallenen Menschen über sich selbst hinaus wachsen und scheinbar Unmögliches erreichen lässt. Genau das erlebte Samuel, dessen schönste Geschichten immer dann entstanden, wenn Rebecca ihm zuhörte. Aber wird die Liebe nicht erwidert, so kann diese ungeheuerliche Kraft sich auch ins Gegenteil verkehren und den Menschen, in dessen Herz sie sich breit gemacht hat, zerstören.
 
Samuel fuhr mit der großen Zehe seines linken Fußes durch den Sand und formte dabei einen großen Kreis, wobei er die im Weg liegenden Kieselsteine in die Senke am unteren Ende des Zehennagels schaufelte und dann mit großem Schwung nach außen schleuderte. Er sah sie im Geiste direkt vor sich und erinnerte sich an den liebevollen Ausdruck ihres Gesichts, als Rebecca ihn heute Nacht verlassen hatte. Wie so häufig, nein, wie früher häufig, denn in den letzten Jahren, seit ihrer Heirat mit David, geschah es nicht mehr, war sie die letzte, die sitzenblieb, als alle anderen sich bereits verabschiedet und auf ihre Schlaflager zurückgezogen hatten. Es wärmte Samuel das Herz, wie sie da saß, die angezogenen Beine von den Armen umschlungen, das Kinn auf einem der Knie abgestützt, blickte sie ihn durchdringend an und sagte dabei nichts, obwohl er, überwältigt von ihrer Anwesenheit, seine letzte Geschichte schon längst abgebrochen hatte und ebenfalls schwieg.
„Du weißt, Samuel“, begann sie schließlich, „wie sehr ich dich mag.“
O ja, das wusste er. Anfangs glaubte er sogar eine Zeit lang, sie würde ihn ebenfalls lieben, oder zumindest wünschte er sich das. Doch irgendwann, nachdem er in seinen Geschichten, die er dann in den späten Nächten erzählte, wenn sie alleine am Feuer saßen, immer deutlicher nur noch von ihnen beiden sprach, auch wenn er ihnen dabei immer wieder neue Namen gab und neues Leben einhauchte, irgendwann hatte sie ihn am Arm genommen und gesagt: „Stopp!“           
„Stopp? Wie meinst du das, Rebecca?“
„So, wie ich es sage: stopp!“
„Und das heißt?“
„Siehst du den Mond da oben?“
„Natürlich sehe ich ihn.“
„Fast jede Nacht steht er dort und scheint für uns und macht uns die Nacht erträglicher. Mal größer zwar und mal kleiner. Wir können uns auf ihn verlassen. Gerade so, wie du jede Nacht hier sitzt und deine wunderschönen Geschichten erzählst. Und wie ich jede oder fast jede Nacht hier sitze und dir lausche.“
„Das ist sehr schön, Rebecca.“
„Ja, das ist es. Aber du solltest dem trotzdem nicht zu viel Bedeutung geben.“
„Warum denn nicht?“
„Sonst wirst du mondsüchtig.“
„Aber das bin ich doch längst.“
Sie schwiegen und Samuel konzentrierte sich auf die immer noch leichte Berührung ihrer Hand an seinem Arm.
„Ich liebe dich doch schon seit langer Zeit, Rebecca. Mehr als alles, was ich je in meinem Leben geliebt habe, zusammengenommen. Weißt du das denn nicht?“   
„Ich danke dir. Aber genau das solltest du nicht tun.“
Sie blickte ihn streng an. Oder fast streng. Aber natürlich, sie hatte ja recht. Das war doch nur die Liebe eines Geschichtenerzählers. Keine Familie im Kibbuz würde ihrer Tochter erlauben, ihn, Samuel, den Taugenichts zu heiraten.
„Ich werde mich verloben, Samuel. Schon nächsten Monat.“         
„Wer ist es denn?“
„David.“
„Liebst du ihn denn?“
Sie schwieg.
„Wenigstens ein bisschen?“
„Das ist meine Sache und muss dich nicht bekümmern.“
„Aber ich will doch nur, dass du glücklich bist.“          
Er kam sich sehr großherzig vor, als er das sagte. Doch bei ehrlicher Betrachtung war sein Satz voller Bitterkeit, Ironie und Selbstmitleid. Rebecca drückte noch einmal seinen Arm, dann küsste sie ihn sogar auf die Wange und verließ ihn.
 
Von diesem Tag an, oder sagen wir lieber, seit jener Nacht, hatte seine Sehnsucht nach ihr nur noch zugenommen. Auch jetzt, da schon viele Jahre vergangen waren, Rebecca sich verlobt, im darauffolgenden Frühjahr geheiratet und vier Kinder zur Welt gebracht hatte, eines hübscher als das andere, konnte er nicht anders als sie zu lieben und sich ein Leben an ihrer Seite zu wünschen. Rebecca kam immer noch regelmäßig an seinen Platz am Feuer und lauschte den Geschichten, die nicht mehr so unumwunden von ihnen beiden handelten, aber dennoch gespickt waren von Anspielungen. Und wenn er ihr von Zeit zu Zeit eine Blume schenkte oder einen besonders schönen Stein, den er am Rand der Wüste gefunden hatte, dann errötete sie, verbarg das Geschenk unter ihrer Kleidung und verabschiedete sich. Ob sie seine Steine sammelte oder gleich ins Meer warf? Manchmal sagte er auch einen Satz oder schrieb etwas auf ein Blatt Papier und steckte es ihr zu, das zu sagen oder schreiben sich nicht schickte, denn es waren Sätze, wie sie den Verliebten vorbehalten sind.
Das war auch gestern geschehen, als er sie in der Mittagszeit am Brunnen getroffen hatte. Rebecca verabschiedete sich noch schneller als gewöhnlich, bestimmt verschüttete sie die Hälfte des Wassers aus dem Gefäß, das sie nachhause trug. Und am Abend erschien sie nicht, das heißt, am Ende kam sie doch, aber erst, als andere schon gegangen und Samuel die Hoffnung längst aufgegeben hatte. Da hob er an und erzählte die vielleicht schönste Geschichte, die ihm je in den Sinn gekommen war, das heißt, eigentlich konnte man gar nicht davon reden, sie sei ihm in den Sinn gekommen, die Geschichte erzählte sich im Grunde selbst, aber sie war so schön, dass in dem Moment, als sie zu Ende war und Rebecca und Samuel sich anblickten, sie sahen, wie ihnen beiden die Tränen über die Wangen liefen. Da verfielen sie in ein anhaltendes Schweigen, so lange, bis Rebecca Luft holte, ihn anblickte mit ihren grünen und immer noch schimmernden Augen und diesen Satz sagte:
„Du weißt, Samuel, wie sehr ich dich mag.“
Er nickte, aber nicht so, dass sie es hätte sehen können, nur innerlich nickte er.
„Und du weißt, dass es für mich nichts Schöneres gibt als deinen Geschichten zu lauschen. Wie sehr ich deine Geschichten liebe.“
‚Meine Geschichten‘, dachte er.
„Aber ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, wenn du manchmal so überschwänglich bist in deinen Äußerungen und wenn du mir solche Sätze aufschreibst wie den, den du mir heute Mittag zugesteckt hast. Ich bin am frühen Abend ans Meer gelaufen und ganz weit hinausgeschwommen und dabei habe ich nachgedacht.“
Ein kleiner Funke hatte sich entzündet in seinem Inneren, ein Funke, der ihn wärmte und verbrannte zugleich. Sie hatte also nachgedacht. Das ließ ihn nichts Gutes vermuten.
„Ich bin so gerne mit dir zusammen, Samuel, ich liebe es, mit dir am Feuer zu sitzen. Aber wenn du so etwas schreibst, dann weiß ich nicht, wie ich mich verhalten soll. Dann habe ich Angst, etwas falsch zu machen. Etwas zu tun, das du missverstehst und aus dem du eine Hoffnung schöpfst, die ich dann doch nicht erfüllen kann.“
„Aber das weiß ich doch, Rebecca. Ich weiß, dass es so ist, wie du sagst. Dass ich mir keine Hoffnungen machen darf.“
Er schwieg und Rebecca sah ihn erwartungsvoll an.
„Ich kann es nur leider nicht ändern, dass ich dich liebe. Aber ich verspreche dir, ich werde versuchen, das nicht mehr auf Zettel zu schreiben. Oder wenn, dann werde ich sie dir nicht geben, sondern ich werde sie in den Mund stecken und aufessen. Ja, das ist eine gute Idee, genau so werde ich es machen.“
Er lachte, und es gelang ihm, dies auf eine Weise zu tun, dass Rebecca nicht bemerkte, wie falsch dieses Lachen war. Sie lachte mit ihm. 
„Ich danke dir für diese schöne Antwort, lieber Samuel. Ich bin so froh, dass wir offen miteinander sprechen können. Ich bin so froh, dass wir Freunde sind.“
„Das bin ich auch, Rebecca.“
Er schluckte. Dann stocherte er in der Glut des erloschenen Feuers. Rebecca erhob sich. Sie zögerte, wahrscheinlich überlegte sie, ob sie ihn auf die Wange küssen sollte, schließlich hob sie aber nur die Hand und wünschte ihm eine gute Nacht. Dann war sie weg.
 
Samuel hatte in der Zwischenzeit auf einer großen Fläche alle Kieselsteine von dem Boden vor seinem Sitzplatz entfernt und mit seinem Fuß eine Spirale in den Sand gedrückt. Es war schön, wie offen sie miteinander sprechen konnten. Stimmte das? Eine Hoffnung bleibt, auch wenn sie immer wieder enttäuscht wird, eine Hoffnung. Das hätte er ihr gerne noch gesagt. Aber dazu bestand jetzt keine Gelegenheit mehr. Er blickte ein letztes Mal zurück auf die Dächer des Kibbuz, unter denen er sein ganzes bisheriges Leben lang immer wieder Schutz gefunden hatte. Dann machte er sich auf den Weg.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.12.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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