Hans K. Reiter

Silvester 2015

 

Vor 250 Jahren, exakt am 31. Dezember 1765, ein Dienstag, geschahen in einem Bergdorf nahe Ruhpolding in Bayern seltsame Dinge. Starkes Schneetreiben hatte die Bergwelt in ein kaum noch zugängliches Refugium verwandelt. Einige Bauern mühten sich vergebens, mit schweren Pflügen hinter Pferden- und Ochsengespannen wenigstens die allerwichtigsten Verbindungen freizuräumen. Aussichtslos! Schon bald waren die Menschen sich selbst überlassen. Niemand, der ihnen noch hätte zu Hilfe eilen können.

In einem der von meterhohen Schneemassen eingeschlossenen Häusern lebte seit mehr als 50 Jahren Severin Achthaler. Die Nachbarn kannten ihn nur als Eigenbrötler, der weder Frau noch Kind sein Eigen nannte. Er verdingte sich mit allerlei Gelegenheitsarbeiten und war gemeinhin als Tüftler bekannt. Funktionierte etwas nicht, schickten die Leute nach ihm. Geh, hol den Severin, der wird’s richten!, sagten sie dann.

An diesem Silvesterabend saß Severin Achthaler vor einer Lampe, die den Raum in mattes Licht tauchte. Tief reichte der Docht in den gelblichen Rindertalg, an dessen Spitze eine kleine, lodernde Flamme züngelte, die ihren Schein an einen übergestülpten zylindrischen Glaskolben weitergab, der wiederum die Umgebung mit dem trüben Licht versorgte.

Am Boden links neben Severin waren mehrere Jutesäcke aufgereiht, die mit allerfeinstem Quarzsand gefüllt waren. Rechts von Severin stand in einem Eisengestell ein Unikum aus Glas, das einer überdimensionalen Sanduhr glich. Allerdings war der untere Teil dieser Sanduhr nicht wie üblich geschlossen, um den von oben rieselnden Sand aufzunehmen, sondern mit einer engen, kaum wahrnehmbaren Öffnung versehen, über die dieser Sand in einen darunter befindlichen Hirschen∗ geleitet werden sollte.

Bei genauerem Hinsehen entpuppte sich der Hirsch als Teil einer weiteren Konstruktion, deren Prinzip dem einer Federwaage sehr nahe kam. Der Hirsch, an einer massiven Spiralfeder aus gehärtetem Eisen befestigt, die wiederum mittels mehrerer geschmiedeter Eisennägel an einem in der Decke eingelassenen Balken aus Holz verankert war, sollte, so der Plan, durch sein zunehmendes Gewicht die Spiralfeder dehnen und so langsam den Weg nach unten finden.

Severin betrachtete sein Werk und schüttelte zufrieden den Kopf. Er hatte alles aufs Genaueste berechnet. Der Quarzsand aus den Säcken würde in einem auf einer Empore stehenden Zuber Platz finden, von dort aus seinen Weg über einen Trichter in den oberen Glasbehälter der Sanduhr nehmen, dann über eine schmale Verbindung zum unteren Behälter gelangen und so ganz allmählich im Laufe der Zeit den Hirschen füllen. In mehreren Versuchen hatte Severin bestätigt gefunden, dass die Feder bei Erreichen eines bestimmten Gewichtes des Hirschen riss. Dieser würde infolgedessen abrupt nach unten sausen und dabei an einem Feuerstein entlang schrammen.  Die erzeugten Funken würden ein Gemisch aus Fasern und Schwarzpulver entzünden und kurz darauf die Explosion einer gehörigen Menge an Sprengstoff auslösen.

Severin entleerte die Säcke, entfernte den Verschluss des Zubers und gab so den Weg des Quarzsandes frei. Dann löschte er die Lampe, stieg eine Leiter hoch zu dem darüber gelegenen Wohnraum des Hauses, verschloss die Luke, warf einen Lodenumhang über und verließ das Haus. Mit schweren Schritten stapfte er um das Haus bis zum hinteren Ende. Dort nahm er den bereitliegenden, schweren Vorschlaghammer und hieb einige Male auf einen Stützbalken ein.

Der ohrenbetäubende Lärm, den das einstürzende Gebälk des Hauses verursachte, ging im mittlerweile heftigen Schnee- und Eissturm unter. Severin schulterte einen Rücksack und verschwand in der Nacht. Niemand im Dorf hatte je wieder etwas von ihm gehört. An einem der nächsten Tage entdeckten Nachbarn zwar das eingestürzte Haus, glaubten aber, Severin habe darin ganz sicher den Tod gefunden. Die Leute waren mit sich selbst und den Folgen des Unwetters mehr als beschäftigt und so kümmerte sich auch niemand weiter um die Angelegenheit. Und so blieb es auch über die Jahre und schon sehr bald war von der Natur überdeckt, was einst Severins Herberge gewesen war.

Jetzt, kurz vor Silvester des Jahres 2015, wusste längst niemand mehr von dieser Geschichte. Niemand hatte sie jemals aufgeschrieben oder es für Wert befunden, sie weiter zu erzählen. Damals waren eben Einzelschicksale nicht von Bedeutung, gab es doch zu viele davon.

In der Nähe von Rosenheim jedoch gab es noch einen Nachfahren des Severin Achthaler. Keiner wusste Näheres darüber, aber es lag auf der Hand, dass Severin Achthaler damals nicht wie angenommen zu Tode gekommen war, sondern an einem anderen Ort ein normales Familienleben begründet hatte. Als der alte Severin das Ende nahen spürte, weihte er den erstgeborenen Sohn in sein Geheimnis ein und erlegte ihm die Pflicht auf, gleiches zu tun, und so ist es bis in unsere Zeit hinein auch geschehen.

Pongratz Achthaler, der Nachfahre, machte sich also am frühen Silvester-Nachmittag des abgelaufenen Jahres auf den Weg in eben jenes Dorf, in dem Severin Achthaler damals vor 250 Jahren so plötzlich zu Tode gekommen schien.

Nach kurzer Fahrt über die Autobahn erreichte Ponkratz den auch heute noch bedeutungslosen Ort seines Vorfahren. In der einzigen Gaststätte mit Fremdenzimmern mietete sich Ponkratz für zwei Nächte ein und begab sich dann auf einen Spaziergang durch den Ort.

Nach den Überlieferungen seines Vaters müsste das Haus Severins dort gestanden haben, wo heute ein Garten mit Kastanien den Biergarten einer angrenzenden Gaststätte markierte. Im Sommer war dort vielleicht Betrieb, dachte Pongratz, wenn die Fremden aus der Stadt hinaus aufs Land drängten.

Pongratz schlenderte zum Bürgermeisteramt, um nach einer Chronik zu fragen, musste aber erfahren, dass das Amt bis nach Heilig Drei König geschlossen war. Wenn die geheimnisvolle Überlieferung stimmte, dann sollte es heute Nacht geschehen. 250 Jahre später, so exakt hatte Severin es berechnet, würde die Kette reißen und das Spektakel seinen Verlauf nehmen.

Unbemerkt hatte Pongratz an mehreren Standorten kleine Kameras angebracht, um die Ereignisse der Nacht festzuhalten. Gespannt blickte er vom Zimmer aus immer wieder hinüber zu den Kastanien. Aber es tat sich nichts.

Kurz vor Mitternacht schwankten dann ein paar angetrunkene Gäste aus den Wirtschaften, feuerten Raketen ab und warfen Böller durch die Gegend. Es waren ihrer nicht besonders viele, aber sie taten so, als wären sie hier inmitten einer Großstadt. Ausgelassen gingen sie zu Werk. Zoten flogen über den Platz und Gelächter schallte auf.

Da tat es plötzlich einen fürchterlichen Rums, gerade so, als seien mehrere Haubitzen abgefeuert worden. Dumpf grollte das Echo der Detonation nach. Etwas Schneepulver und Staub vermengten sich in der Luft und mit einem Mal war der Platz vor den beiden Wirtshäusern voll mit Menschen. Von überall her kamen sie gelaufen. Was ist los?, rief jemand und andere stimmten mit ein. Ja, was war geschehen?

Das Gasthaus mit den Fremdenzimmern hatte es schwer erwischt. Flammen schlugen hervor und es sah so aus, als habe sich im Wirtsgarten ein Grater aufgetan. Eine Fliegerbombe!, machte die Weissagung eines Einheimischen die Runde. So ein Mist!, hörte man es rufen und, dass es immer noch nicht zu Ende sei mit dem Krieg, solange noch solche unsäglichen Relikte herumlägen. Niemand dachte daran, dass es in dieser Gegend seinerzeit zu überhaupt keinen Bombardements gekommen war.

Das Wirtshaus hatte unter seinen Gästen einige Verletzte zu beklagen und leider auch einen Toten. Pongratz Achthaler, hieß er, sagte der Wirt der eintreffenden Polizei. Heut‘ Nachmittag erst ist er angekommen, sagte der Wirt weiter. Traurig, traurig, meinten einige der Umherstehenden. Was für ein Schicksal, 70 Jahre nach dem Krieg! Nach und nach zerstreuten sich die Leute schließlich und gingen nach Hause.

Niemand würde je erfahren, welch ausgezeichneter Mathematiker und Physiker der Severin Achthaler gewesen sein musste. Denn niemand wusste von dessen Geheimnis und niemand wusste deshalb auch, dass im Laufe der Zeit die Überlieferungen ein wenig gelitten und an Präzision eingebüsst hatten und auf diese Weise der Ort des Geschehens fälschlich auf den Kastaniengarten verlagert worden war. Vielleicht würde er sonst noch leben, der Achthaler Pongratz.

∗200 Liter Fass

 

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