Steffen Herrmann

Rasse und Kultur

Kultur und Rasse
Stellen wir uns ein erweitertes Interaktionssystem vor. Das ist zum Beispiel eine grössere Familientafel mit – sagen wir einmal – zwanzig Personen. Die Anwesenden kennen sich und sie reden über Verschiedenes, auch über Abwesende, die jeweils einigen – vielleicht näher – bekannt sind, möglicherweise anderen Familienangehörigen. Aus der Ferne betrachtet, ist das eine ziemlich eindeutige Sache: Eine Gesprächsrunde mit leiblichen Genüssen, zur gemeinsamen Erbauung.
Schaut man sich das aus der Nähe an, erkennt man aber, dass hier die Positionen der Einzelnen, auch die der Abwesenden neu verhandelt werden. Diese Positionen sind nicht genau bestimmt, sie sind immer auch in der Schwebe. Dennoch gilt, dass das Interaktionssystem von einer Struktur der Positionen geleitet wird, die ihm zugrunde liegen. Ein wesentliches Merkmal dieser Struktur ist die Knappheit der guten Positionen. Die Funktion der Konversation besteht in der Verhandlung darüber, wer die guten Positionen erhält. Die Form der Konversation leitet sich aus der Form er Positionen untereinander ab. Ein einfaches Beispiel ist der Absolutismus. Das ausschlaggebende Merkmal ist hier die Nähe zum König. Die höfische Etikette, das abgestufte System von Höflichkeiten (und Gemeinheiten) prozessiert das fortwährende Neujustieren der Positionen. In einem bürgerlichen Milieu erfolgt dieser Prozess mit einer grösseren  Flexibilität, weil es verschiedene positiv besetzte  Pole gibt (zum Beispiel ‚sportliche‘, ‚ökonomische‘, ‚wissenschaftliche‘, sogar ‚touristische‘ und ‚religiöse‘), deren Anzahl nicht von vornherein feststeht und die teilweise in einem Konkurrenz Verhältnis stehen. Dennoch bleibt das Problem der Knappheit der guten Positionen bestehen. Eine naheliegende Lösung besteht darin, die schlechten Positionen den Abwesenden zuzuweisen. Die Abwesenden befinden sich allerdings nicht ausserhalb des Interaktionsystems, sondern an dessen Rand. Abwesende sind dadurch charakterisiert, dass sie manchmal anwesend sind, sonst könnten sie in einem Interaktionssystem nicht als Abwesende fungieren, sondern nur als Thema. Man muss sich Abwesende also als Menschen vorstellen, die manchmal in ein Interaktionssystem eintreten, die aber im Wesentlichen ausserhalb operieren. Und sie müssen der Platzvergabe innerhalb der Gesellschaft unterworfen sein, die in dem erweiterten Interaktionsystems erfolgt. Es ist also das Problem der Zuweisung der schlechten Plätze zu lösen. In manchen - hier interessierenden – Fällen gibt es eine leichte Lösung. Man kann das an das Vorhandensein von leicht zu identifizierbaren äusseren Merkmalen, welche bei den Anwesenden nicht vorhanden sind – koppeln. Wichtig ist, dass diese Merkmale leicht zugänglich, im besten Fall sichtbar sind und nicht dem Einfluss der Betroffenen unterliegen (wie etwa Frisuren oder Tätowierungen). Das so eingeführte Konzept heisst Rasse.
Den rohen Rassismus gibt es kaum noch, zumeist in gleichfalls stigmatisierten Randgruppen (Neonazis), auf staatlicher Ebene zuletzt in Südafrika, wo Beamte die Menschen nach vorgegebenen Kriterien Menschen vermassen (z.B. die Breite der Nasenwurzel), diese Werte als Argumente einer Funktion einsetzten und als Resultat eine Rasse erhielten.
Der Grund, weshalb der nackte Rassismus nicht mehr so gut funktioniert liegt in der häufiger gewordenen Anwesenheit der Abwesenden. Die gewachsene Komplexität der Gesellschaft unterminiert die ehemals koloniale Apartheit und führt nicht nur zu mehr, sondern auch zu variableren Kommunikationen. Dabei können die Stigmatisierten nun darauf verweisen, dass die relevanten Merkmale ja nur zufällig sind und eine Zuweisung der schlechten Plätze nicht rechtfertigen. Je häufiger und je weniger reguliert (variabler) die Interaktionen zwischen den Inhabern der guten Plätze und den Stigmatisierten sind, desto wirksamer sind diese Einwände. Das erweiterte Kommunikationssystem steht also vor einer neuen Aufgabe: Es muss zeigen, dass die erfolgte Zuweisung der schlechten Positionen zu Recht erfolgt ist. Das dahinter stehende Konzept heisst Kultur.
Man hat sich daran gewöhnt, in der Kultur etwas Positives, eine Leistung und Errungenschaft zu sehen, was sie gewiss auch ist. Allerdings wird gern übersehen, dass eine wesentliche Funktion der Kultur die des Ausschlusses ist. Wer im Kontext der ‚Vergabe der guten Positionen‘ von einer ‚anderen Kultur‘ spricht, meint fast immer eine ‚schlechtere Kultur‘. Kulturen regulieren die zulässigen Formen der Kommunikationen und der bevorzugten Themen. Sie sind ein Instrument, um die Rechtmässigkeit eines Anspruches auf die guten Plätze zu proklamieren. Man liest seinen Goethe nicht, weil man ihn so spannend findet, sondern weil man das so erlangte Wissen einsetzen kann. Man verdient sich die guten Plätze durch die Beschwerlichkeit der kulturellen Aktivitäten oder deren Langeweile. Mit der Auflösung der entsprechenden Interaktionssysteme verschwindet auch das Interesse an den Klassikern.
Die Zukunft des Rassismus gründet sich also auf dem Bedürfnis, die schlechten Positionen zuzuweisen und der Fähigkeit der Kultur, dafür flexible und effiziente Operationsmodi des Ausschlusses bereitzustellen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.01.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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